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StPO II: Dreimal etwas zum Pflichtverteidiger, oder: Steuerstrafverfahren, Vollstreckung, Rückwirkung

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Im zweiten Posting des Tages dann etwas zur Pflichtverteidigung. Ja, kein „Pflichti-Tag“, dafür reichen die drei Entscheidungen nicht. Von den drei Beschlüssen betreffen zwei die Beiordnungsgründe und einer – natürlich 🙂 – zur rückwirkenden Bestellung.

Hier sind die Leitsätze der Entscheidungen:

Im Vollstreckungsverfahren ist in entsprechender Anwendung von § 140 Absatz 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass der Verurteilte aufgrund seiner medikamentösen Einstellung, seine Rechte nicht vollumfänglich eigenverantwortlich wahrnehmen kann.

Kommt es im Verfahren zur Beantwortung der Frage, ob sich gegen die Beschuldigte ein Verdacht wegen Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 1 AO erhärten lässt und ob ggf. im weiteren Verfahren eine entsprechende Schuld der Beschuldigten festgestellt werden kann, neben den §§ 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 68 EStG auch auf die Verordnung (EG) 883/2004 an, ist die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig im Sinn des § 140 Abs. 2 StPO.

Unter besonderen Umständen ist die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers zulässig. Dies kann der Fall sein, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

StGB II: Beihilfe des Notars zur Insolvenverschleppung, oder: Strafbarkeit „berufstypischer Handlungen“

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Als zweite Entscheidung stelle ich dann den LG Lübeck, Beschl. v.  27.03.2023 – 6 Qs 33/22 720 Js 4897/20 – vor. In ihm nimmt das LG zur Frage der Beihilfe eines Notars zur Insolvenzverschleppung Stellung.

Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen einen Rechtsanwalt und Notar erhoben, dem sie zur Last legt, einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat – einer Insolvenzverschleppung gemäß § 15a Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Nr. 1 InsO – Hilfe geleistet zu haben. Nach den Ausführungen in der Anklage habe der Angeklagte in seiner Funktion als Notar am 20.9.2017 den Geschäftsanteilskaufvertrag mit der Urkundennummer 367/2017 über den Verkauf und die Abtretung von Gesellschaftsanteilen, die Geschäftsführerabberufung und -neubestellung sowie die Sitzverlegung der pp. beurkundet. Dabei habe er gewusst, dass die bei diesen Beurkundungen beteiligten Personen (u.a. pp. und pp.) mit der Übernahme der Gesellschaftsanteile und der Geschäftsführung der pp. den Zweck verfolgten, diese einer ordnungsgemäßen insolvenzrechtlichen Abwicklung zu entziehen. Trotz Zahlungsunfähigkeit der pp, am 31.10.2017 hätten pp und pp. innerhalb von drei Wochen keinen Insolvenzantrag gestellt, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen seien. Das AG Lübeck hatte am 19.3.2021 einen Strafbefehl gegen pp. erlassen u.a. wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung in Bezug auf die pp. Darin ging das AG davon aus, dass die pp. spätestens am 31.10.2017 zahlungsunfähig gewesen sei.

Das AG hat den die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen abgelehnt, da keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte zur Begründung eines hinreichenden Tatverdachts in Bezug auf die Begehung einer Straftat gemäß § 15a Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Nr. 1 InsO, § 27 StGB vorlägen. Die ermittelten Umstände begründeten keine Beihilfehandlung des Angeklagten. So liege weder eine berufsuntypische Handlung des Angeklagten vor noch sei er in die Planungen von pp. und pp. einbezogen gewesen. Bei den Beurkundungen am 20.9.2017 habe der Angeklagte nicht erkannt, dass das Handeln von pp. und pp. auf die Begehung einer Insolvenzverschleppung gerichtet gewesen sei.

Das sieht das LG – mit der StA, die Beschwerde eingelegt hat, anders:

„…..

b) Weiterhin besteht der hinreichende Verdacht einer vom Angeklagten begangenen strafbaren Beihilfehandlung.

aa) Beihilfehandlung ist das Fördern einer vorsätzlich und rechtswidrig begangenen Straftat. Die Beihilfe muss nicht zur unmittelbaren Tatausführung geleistet werden. Ausreichend ist das Hilfeleisten zu einer vorbereitenden Handlung. Der Haupttäter muss in diesem Zeitpunkt noch nicht zur Tat entschlossen sein (BGH vom 8.11.2011 – 3 StR 310/11).

Im Fall einer „neutralen“ bzw. „berufstypischen“ Handlung, also einer Handlung, die äußerlich betrachtet keinen oder zumindest nicht ausschließlich einen deliktischen Bezug hat, liegt im konkreten Einzelfall nur dann eine Beihilfehandlung vor, wenn der Handelnde weiß, dass das Handeln des Haupttäters ausschließlich auf die Begehung einer Straftat abzielt oder wenn das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten derart hoch war, dass er sich „die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein“ ließ (BGH vom 19.12.2017 ? 1 StR 56/17). Es handelt sich um ein Problem des subjektiven Tatbestands: Die Einordnung der die Haupttat fördernden Handlung als sog. „berufstypische Handlung“ steht ihrer Qualifizierung als objektive Beihilfehandlung nicht entgegen. Ob diese Handlung strafbar ist, hängt jedoch von der im jeweiligen Einzelfall zu prüfenden Kenntnis des handelnden Berufsträgers ab.

Diese Grundsätze gelten auch für Notare (so auch BGH vom 14.7.2000 – 3 StR 454/99). Denn Handlungen von Notaren sind in der Regel objektiv „neutral“, können jedoch Straftaten im Sinne des § 27 StGB fördern. Daher sind auch sie anhand der für diese Fallgruppe geltenden Grundsätze zu bewerten.

Die im jeweiligen Einzelfall bestehende Kenntnis des Notars kann durch Feststellung von Indizien belegt werden. Hierbei kommen insbesondere in Betracht (vgl. dazu auch BGH vom 8.4.2019 – NotSt (Brfg) 5/18; BGH vom 23.11.2015 – NotSt (Brfg) 4/15):

–  Übertragung sämtlicher Geschäftsanteile an einen Dritten,

–  Änderung der Firmierung,

–   wiederholter Wechsel in der Person des Geschäftsführers,

–   (mehrere) Sitzverlegung(en) der Gesellschaft an einen entfernt gelegenen Ort oder ins Ausland,

–   wiederholte Vereinbarung von Beurkundungsterminen durch eine nicht unmittelbar an der jeweiligen Beurkundung beteiligte Person, bei der erkennbar unerfahrene oder ungeeignete Personen zum Geschäftsführer bestellt werden,

–   Einstellung der werbenden Tätigkeit im Zusammenhang mit der Übertragung der Anteile und/oder Sitzverlegung,

–   Unerreichbarkeit des neuen Geschäftsführers und/oder Verweis auf eine „Wirtschaftsberatungsgesellschaft“,

–  mangelnde Kooperation des neuen Geschäftsführers,

–   Geschäftsführerstellung der als Geschäftsführer zu bestellenden Person bei einer Vielzahl weiterer Gesellschaften,

–  Fehlen von Geschäftsunterlagen und Aktiva.

bb) Der Angeklagte ist hinreichend verdächtig, mit der am 20.9.2017 vorgenommenen Beurkundung des Geschäftsanteilskaufvertrags mit der Urkundennummer 367/2017 über u.a. die Abtretung von Gesellschaftsanteilen der pp. eine von pp. und pp. zu begehende Insolvenzverschleppung gefördert zu haben, obwohl er wusste, dass deren Handeln auf die Begehung einer solchen Straftat abzielte.

(1) Die vom Angeklagten am 20.9.2017 vorgenommene Beurkundung trug zum Gelingen der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von pp. und pp. begangenen Insolvenzverschleppung bei. Denn ohne die Beurkundung des Vertrags über die Abtretung der Gesellschaftsanteile der pp. an pp. wäre der diesem bekannte pp. nicht zum Geschäftsführer bestellt worden und der diesem bekannte pp. hätte nicht die Stellung eines faktischen Geschäftsführers erlangen können. Es ist unerheblich, dass der Angeklagte die Beurkundung am 20.9.2017 vor der Begehung der Insolvenzverschleppung vornahm. Denn das Hilfeleisten zu einer vorbereitenden Handlung ist ausreichend.

(2) Der Angeklagte ist hinreichend verdächtig, im Zeitpunkt der Beurkundung am 20.9.2017 Kenntnis davon gehabt zu haben, dass diese der Vorbereitung einer Insolvenzverschleppung diente.

Dieser hinreichende Verdacht ergibt sich insbesondere aus den folgenden auf die Vorbereitung einer „Firmenbestattung“ hindeutenden Indizien:

Der Angeklagte beurkundete in der Zeit von Februar 2013 bis September 2017 Gesellschaftsanteilsübertragungen, Geschäftsführerwechsel und Sitzverlegungen für sechs unterschiedliche Unternehmen (Fallakten III, IV, VI, VII, VIII, IX). Hierbei war jeweils die gleiche Personengruppe wie bei der Beurkundung am 20.9.2017 beteiligt (u.app. , pp. undpp. ). Im Rahmen dieser Beurkundungen war pp. Ansprechpartner für den Angeklagten und in der Regel auch bei der jeweiligen Beurkundung anwesend. Dies war auch dann der Fall, wenn pp. an der jeweiligen Beurkundung nicht unmittelbar beteiligt war – weder als Erwerber von Geschäftsanteilen, (einzutragender) Geschäftsführer oder als Vertreter solcher Personen. In den Notarakten befinden sich auch keine Fotokopien der Personalausweise vonpp. , pp. , pp. undpp. , obwohl diese Personen an diversen Beurkundungen beteiligt waren.

Bei vier vor dem 20.9.2017 in Bezug auf unterschiedliche Unternehmen vorgenommenen Beurkundungen (Fallakten II, III, VII, VIII) traten die in Südamerika lebenden pp.  und pp. als neue Gesellschafter in Erscheinung. pp. wurde dabei u.a. von pp. (Vollmachtschreiben vom 31.3.2017, Asservat 2/3) und pp. bzw. Dr. pp. (Vollmachtschreiben vom 4.6.2017, Fallakte VII, Bl. 18) vertreten. Die sich auf diesen Vollmachtschreiben befindlichen Unterschriften des pp. weichen in ihrem Schriftbild nicht unerheblich voneinander ab.

Der Angeklagte beurkundete in der Zeit von Februar 2013 bis zum 20.9.2017 sechs Sitzverlegungen unterschiedlicher Unternehmen an die Anschriften pp. 17, A. und pp. 9b, A.. Hierbei handelte es sich um die Wohnanschriften von pp. bzw. pp. Aus dem Vorblatt der Notarakte in Bezug auf die pp. ergibt sich, dass dem Angeklagten die Anschrift pp., pp. als Wohnanschrift des pp. bekannt war. Weiterhin ergibt sich aus der beurkundeten Sitzverlegung der pp. a die Anschrift pp., pp. am 19.4.2017, dass dem Angeklagten diese Anschrift als Wohnanschrift des neubestellten Geschäftsführers der pp. , bekannt war.

Dem Angeklagten war im Zeitpunkt der Beurkundung am 20.9.2017 bekannt, dass die bei den vorangegangenen Beurkundungen im Zusammenhang mit der Personengruppe um pp. beteiligten Personen nach den Beurkundungen nur schwer oder nicht mehr erreichbar gewesen waren. Dies ergibt sich u.a. aus den diversen Versuchen des Angeklagten, bei den beteiligten Personen seine Zahlungsforderungen einzutreiben (vgl. etwa Beweismittel 2/1), sowie aus der Mitteilung des Amtsgerichts Lübeck vom 25.8.2016, nach der das Amtsgericht dem neu eingetragenen Geschäftsführer der pp. die Vorschussrechnung nicht habe übermitteln können und Anzeichen für eine wirtschaftliche Neugründung der Gesellschaft bestünden (Beweismittel 2/1).

Schließlich informierte die Verkäuferin der Geschäftsanteile der pp., in deren Auftrag der Angeklagte im Jahr 2016 Beurkundungen vorgenommen hatte, den Angeklagten am 30.12.2016 darüber, dass die auf der Käuferseite beteiligten Personen, u.a. pp. und pp., noch vor dem Abschluss des Beurkundungsverfahrens im Namen der pp. Warenbestellungen in Höhe von ca. 83.000 € getätigt, jedoch nicht bezahlt hätten (Beweismittel 2/1).

Der Umstand einer am 20.9.2017 fehlenden oder für den Angeklagten nicht erkennbaren Insolvenzreife der pp. steht aufgrund der vorstehenden Indizien einem hinreichenden Tatverdacht nicht entgegen. Dasselbe gilt für die Vorgänge um die „Kaufpreiszahlung“ für den Erwerb der Gesellschaftsanteile der pp.

Indes können Indizien, die sich aus nach dem 20.9.2017 vom Angeklagten vorgenommenen Beurkundungen ergäben (vgl. Anklageschrift, S. 19 f., Fallakten I, V), keine Kenntnis des Angeklagten am Tattag des 20.9.2017 begründen. Denn gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB muss der Tatvorsatz im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung, hier der Beurkundung am 20.9.2017, vorliegen (BGH vom 7.9.2017 ? 2 StR 18/17).

Die aufgrund der vorstehenden Indizien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bestehende Kenntnis des Angeklagten von einer bevorstehenden Straftat bezog sich auf eine von pp. und pp. zu begehende Insolvenzverschleppung in Bezug auf die pp.  Denn diese Indizien begründen den hinreichenden Verdacht einer Kenntnis des Angeklagten von der Vorbereitung einer „Bestattung“ der pp.. Im Rahmen einer „Firmenbestattung“ ist die Begehung von Straftaten gemäß § 15a Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Nr. 1 InsO vorhersehbar. Der Angeklagte musste am 20.9.2017 keine bestimmte Vorstellung von den Einzelheiten der zu begehenden Insolvenzverschleppung haben.“

Corona II: Corona-Sonderzahlung an Referendare, oder: Pfändbarkeit der Corona-Sonderzahlungan Beamte

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Im zweiten Beitrag des Tages habe ich dann noch zwei Entscheidungen zusammengestellt, die unter dem Stichwort „Corona“ in meinen Blogordner gehangen haben. Es geht dabei ums Geld“.

Es handelt sich um folgende Entscheidungen:

Eine Corona-Sonderzahlung, die einem Referendar, der eine Nebentätigkeit bei einem Rechtsanwalt ausübt, als steuerfreie Unterstützung zur Abmilderung der zusätzlichen Belastung durch die Corona-Krise gezahlt wird und die die Voraussetzungen des BMF-Schreibens vom 9.4.2020 erfüllt, ist eine Vergütung für eine Nebentätigkeit i.S.d. § 3 Abs. 1 der hamburgischen UnterhaltsbeihilfeVO. Die Vorschrift ist weit auszulegen und umfasst alle Leistungen, die vom Nebentätigkeits-Arbeitgeber an den Referendar in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer geleistet werden.

Auch die Corona-Sonderzahlung an Beamte und Richter nach § 59a Abs. 1 S. 1 Besoldungsgesetz Schleswig-Holstein in der Fassung des Gesetzes über eine einmalige Sonderzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie ist nicht nach § 850a Nr. 3 ZPO unpfändbar.

Ablehnung II: Spätester Zeitpunkt für die Ablehnung, oder: Bis zur Einlassung zur Sache

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Die zweite Entscheidung kommt – wie gesagt – auch aus dem Zivilrecht. Im LG Lübeck, Beschl. v. 21.03.2022 – 10 O 361/21 – nimmt das LG zum Verlust des Ablehnungsrechts und damit zum richtigen/spätesten Zeitpunkt für eine Ablehnung Stellung:

„Das Ablehnungsgesuch des Klägers vom 24. Februar 2022 ist unzulässig.

Gemäß § 42 Abs. 1, 2 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen.

Eine Partei kann einen Richter gemäß § 43 ZPO wegen Besorgnis der Befangenheit nicht mehr ablehnen, wenn sie sich bei ihm, ohne den ihr bekannten Ablehnungsgrund geltend zu machen, in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat. Einlassen in eine Verhandlung vor dem betreffenden Richter bedeutet jedes prozessuale, der Erledigung eines Streitpunktes dienende Handeln der Partei unter Mitwirkung des Richters, das der weiteren Sachbearbeitung und Streiterledigung des betreffenden Rechtsstreits dient (vgl. Hüßtege, in: Thomas/Putzo Zivilprozessordnung 41. Aufl. 2020, § 43 ZPO Rn. 4; Bendtsen, in: Sänger, Zivilprozessordnung 9. Aufl. 2021 § 43 ZPO Rn. 4; BGH NJW-RR 14, 382). Der Streiterledigung dient vor allem der Abschluss eines Vergleichs (OLG Frankfurt FamRZ 91, 839).

Die Parteien haben in dem Termin zur mündlichen Verhandlung vom 21. Februar 2022 einen Widerrufsvergleich geschlossen und zudem durch Erklärung zu Protokoll Sachanträge (§ 297 ZPO) gestellt. Der Verlust des Ablehnungsrechts bezieht sich mithin auf alle Ablehnungsgründe, die vor dem Zeitpunkt vor Abschluss des Widerrufsvergleichs bzw. der Stellung der Sachanträge liegen (vgl. Bendtsen, in: Sänger, Zivilprozessordnung a. a. O. Rn. 6). Der Kläger nimmt in seinem Ablehnungsgesuch vom 24. Februar 2022 jedoch allein auf Vorgänge Bezug, die sich vor diesem Zeitpunkt zugetragen haben sollen.“

Verkehrsrecht II: Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, oder: 260 m von Unfallstelle entfernt nicht „Unfallort“

entnommen wikimedia.org
Author Harald Wolfgang Schmidt at de.wikipedia

Die zweite Entscheidung grieft noch einmal eine Problematik der „Unfallflucht“ auf, nämlich Die Frage: War das (noch) der „Unfallort“, von dem sich der Beschuldigte entfernt hat. Dazu der LG Lübeck, Beschl. v. 07.09.2021 – 4 Qs 164/21, den mir der Kollege T. Frings aus Itzehoe geschickt hat:

„Aus den bisherigen Ermittlungen ergibt sich, dass die Beschuldigte pp. am pp. 2021 ein Fahrzeuggespann, bestehend aus einem Audi Q7 und einem Anhänger, der Platz für zwei hintereinander stehende Pkw bot, führte. Sie befuhr die Kolberger Straße in Lübeck und wollte nach links in die Stargardstraße einbiegen. Sie musste warten, da dichter Verkehr herrschte. Der Fahrer eines ihr entgegenkommenden Taxis bremste ab, um ihr das Abbiegen zu ermöglichen. Bei dem Abbiegevorgang streifte ihr Anhänger einen gegenüber des Einmündungsbereiches der Stargardstraße geparkten Pkw Fiat Panda und verursachte daran auf einer Länge von 190 cm starke Schrammen, starke Dellen und Schmutzrückstände. Der Anhänger selbst wurde dabei nicht beschädigt. Die Beschuldigte setzte ihre Fahrt in die Stargardstraße fort. Der Taxifahrer sowie die Fahrerin des Fahrzeuges, das sich hinter der Beschuldigten auf der Kolberger Straße befand, hatten den Unfall wahrgenommen und sprachen darüber. Der Taxifahrer bog sodann ebenfalls in die Stargardstraße ein, wo er auf die Beschuldigte und ihren Beifahrer pp. traf und sie auf den Unfall ansprach. Zudem informierte er die Polizei.

Bei dem Taxifahrer handelt es sich um den Zeugen pp. Er hat bekundet, er sei durch das Geräusch und die weitere Zeugin auf den Unfall aufmerksam geworden. Die Beschuldigte sei etwa 100 Meter in die Stargardstraße hineingefahren. Er habe ihr und ihrem Begleiter gesagt, dass sie einen Unfall verursacht hätten. Diese hätten geantwortet, dass sie sich darum kümmern würden.

Mit Beschluss vom 14.06.2021 hat das Amtsgericht Lübeck der Beschuldigten pp. gemäß §§ 111a StPO, 69 StGB vorläufig die Fahrerlaubnis entzogen und ihren Führerschein beschlagnahmt. ….

Hiergegen hat die Beschuldigte mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 1.8.06.2021 Beschwerde eingelegt. Sie hat sich dahingehend eingelassen, den Unfall nicht bemerkt zu haben. Sie sei die Stargardstraße bis zum Ende durchgefahren, habe gewendet und einige Meter vor dem Parkplatz in Höhe der Hausnummer 3 angehalten. Auf dem Parkplatz habe sie ein Fahrzeug gekauft und auf ihren Anhänger geladen. Etwa 20 Minuten nach dem Einbiegen in die Stargardstaße sei der Taxifahrer erschienen und habe sie über den Unfall informiert. Er habe gesagt, dass er bereits die Polizei informiert habe und sie sich um nichts weiter kümmern müsse. Mit ihrem Einverständnis habe er den Anhänger fotografiert. Sie und ihr Begleiter hätten in der Folgezeit den Einmündungsbereich Stargardstraße/Kolbergerstraße aufgesucht, wo sich jedoch keine Personen befunden hätten. Daraufhin hätten sie ihre Fahrt fortgesetzt.

Die Beschuldigte hat ein von pp. unterzeichnetes Schriftstück vorgelegt. Darin heißt es, die Beschuldigte habe das andere Fahrzeug unbemerkt gestreift. Das Ziel ihrer Fahrt habe sich etwa 500 Meter von der Unfallstelle befunden. Nach etwa 15 Minuten sei der Taxifahrer erschienen und habe sie über den Unfall informiert. Er habe Fotos von den Kennzeichen des Zugfahrzeuges und des Anhängers gemacht und gesagt, dass Zeugen den Unfall schon bei der Polizei gemeldet hätten. Einige Minuten später sei die Beschuldigte mit ihm zur Unfallstelle gefahren, wo weder der Halter des beschädigten Fahrzeuges noch Zeugen gewesen seien. Etwa zehn Minuten später seien sie nach Hause gefahren.

II.

Die Beschwerde der Beschuldigten ist zulässig und begründet.

Aus Sicht der Kammer besteht kein dringender Tatverdacht dahingehend, dass die Beschuldigte pp. den Unfall unmittelbar wahrnahm. Es erscheint nachvollziehbar, dass sie inmitten des starken Verkehrs und mit einem Beifahrer im Fahrzeug nicht bemerkt haben könnte, dass ihr sehr langer Anhänger ein geparktes Fahrzeug streifte. Auch wenn der Fahrer des ihr entgegenkommenden Taxis ein Geräusch wahrnahm, muss dies nicht auch auf die Beschuldigte zutreffen. So könnte der Taxifahrer mit offenem Fenster gefahren sein, die Beschuldigte aber nicht.

Soweit die Beschuldigte von dem Zeugen pp. auf den Unfall angesprochen wurde, kann dies geschehen sein, nachdem sie sich bereits vom Unfallort entfernt hatte. Das Entfernen nicht vom Unfallort selbst, sondern von einem anderen Ort, an welchem der Täter erstmals von dem Unfall erfuhr, erfüllt nicht den Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB (BGH NStZ 2011, 209). Wenn die Beschuldigte, ihrer Einlassung entsprechend, die Stargardstraße bis zum Ende fuhr, um dort zu wenden, entfernte sie sich laut „Google Maps“ rund 260 Meter von der Unfallstelle, wobei sie sich infolge einer Kurve auch nicht mehr in Sichtweite befand. Hier bestand kein unmittelbarer räumlicher Bezug zu dem Unfallgeschehen mehr. Für feststellungsbereite Personen wäre sie hier nicht als warte- und auskunftspflichtig zu erkennen gewesen. „