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Pflichti II: AG kickt den Verteidiger „vorschnell“ raus, oder: Und was ist mit dem Vertrauensschutz?

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Und als zweite Entscheidung dann eine Entscheidung des LG Halle. Gestritten worden ist um die Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung durch das AG Merseburg. Das hatte im dem von der Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten ursprünglich wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Halle eingeleiteten Ermittlungsverfahren am 25.02.2022 den Kollegen Siebers aus Braunschweig, der mir die Entscheidung geschickt hat, gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO bei geordnet, weil dem Angeklagten ein Verbrechen zur Last gelegt wurde.

Mit Verfügung vom 27.03.2023 stellte die Halle das Verfahren dann gem. § 170 Abs. 2 StPO ein, soweit ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Betracht kam. Gleichzeitig beantragte sie beim AG Merseburg den Erlass eines Strafbefehls bezüglich des Besitzes von 1,07 Gramm Marihuana gem. §§ 1, 3 Abs. 1, 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 33 BtMG.

Das AG Merseburg erließ den Strafbefehl am 05.04.2023. Hiergegen legte der Angeklagte rechtzeitig Einspruch ein. Nach erfolgter Akteneinsicht meldete der Kollege sich beim AG, wobei er u. a. auf eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153 StPO hinzuwirken versuchte sowie Kritik an der Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft, wegen der o. g. Tat einen Strafbefehl zu beantragen („steuergeldverschwendendes Verfahren“), übte.

Mit Beschluss vom 15.12.2023 hat das AG – ohne vorherige Anhörung der Verfahrensbeteiligten – die Beiordnung auf gehoben, weil kein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 StPO mehr gegeben sei. Gleichzeitig bestimmte das AG Hauütverhandlungstermin auf den 26.03.2024.

Der Kollege hat gegen den die Pflichtverteidigerbestellung aufhebendeb Beschluss sofortige Beschwerde eingelegt, die Erfolg hatte. Das LG Halle mit dem LG Halle, Beschl. v. 15.02.2024 – 3 Qs 11/24 – die AG-Entscheidung aufgehoben:

„Gemäß § 143 Abs. 2 S. 1 StPO kann die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. Dies ist anzunehmen, wenn sich im Lauf des Verfahrens ergibt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen, die zur Annahme eines Falles der notwendigen Verteidigung im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 10, Abs. 2 StPO geführt haben, nicht mehr gegeben sind (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, 66. Auflage, § 143 Rn 3).

Dies ist zwar vorliegend, nachdem die Staatsanwaltschaft der Verfahren hinsichtlich des Vorwurfs des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eingestellt hat, mittlerweile der Fall. Seit dem 27. März 2023 wird dem Angeklagten kein Verbrechen mehr vorgeworfen, sodass kein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO mehr vorliegt.

Allerdings steht die Aufhebung der Bestellung im Ermessen des Gerichts („Kann-Bestimmung“). Dem liegt nach der Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass Aspekte des Vertrauensschutzes trotz Wegfalls der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die Fortdauer der Beiordnung rechtfertigen können (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 45; KG Berlin, Beschl. vom 15.5.2020 – 5 Ws 65/20, BeckRS 2020, 36749).

Den Gründen des angegriffenen Beschlusses ist indes nicht zu entnehmen, dass sich das Amtsgericht seines Ermessensspielraums bewusst gewesen ist. Dies folgt unter anderem aus der vom Gericht in den Gründen des Beschlusses verwendeten Formulierung, dass die Bestellung aufzuheben „ist“. Die Verwendung des Verbes „ist“ impliziert ohne nähere Begründung, dass die Aufhebung der Beiordnung als Automatismus in dem Fall, dass die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nicht mehr vorliegen, verstanden worden ist. Ein solcher Automatismus besteht hier aber gerade nicht.

Die fehlende Ermessensausübung des Amtsgerichts zwingt im vorliegenden Fall jedoch nicht zu einer Zurückverweisung der Sache, vielmehr kann die Kammer selbst in der Sache entscheiden. Eine Zurückverweisung durch das Beschwerdegericht kommt nur in eng begrenzen Ausnahmefällen in Betracht (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, a.a.O., § 309 Rn 7), welche die Kammer hier nicht annimmt. Grundsätzlich hat das Beschwerdegericht gemäß § 309 Abs. 2 StPO eine eigene Sachentscheidung zu treffen, wobei an die Stelle des Ermessens des Erstgerichts das Ermessen des Beschwerdegerichts tritt (vgl. Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage, § 309 Rn 28).

Dies führt zur Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Merseburg vom 15. Dezember 2023, da der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 143 Abs. 2 S. 1 StPO ein berechtigtes Vertrauen des Angeklagten entgegen steht.

Seit der Teileinstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft – durch die die Voraussetzung des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO weggefallen ist – bis zur Entscheidung des Amtsgerichts, die Pflichtverteidigerbestellung aufzuheben, sind knapp acht Monate vergangen, in denen weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft den Wegfall der Voraussetzung der notwendigen Verteidigung jemals problematisiert haben. Vielmehr hat der Verteidiger des Angeklagten in dieser Zeit weiterhin Tätigkeiten für ihn im dem Verfahren entfaltet, insbesondere versucht, auf eine Einstellung gem. § 153 StPO hinzuwirken. Staatsanwaltschaft und Gericht haben auf diese Tätigkeiten jeweils – beispielsweise mit der Veranlassung der Einholung eines Substanzgutachtens – reagiert, ohne zu erkennen zu geben, dass eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung in Betracht kommen könnte. Erst im unmittelbaren Zusammenhang mit der Terminierung der Hauptverhandlung für den 26. März 2024 hat das Amtsgericht – ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor anzuhören – die Bestellung aufgehoben. Durch das der Aufhebung vorhergehende Verhalten hat das Amtsgericht jedoch ein schutzwürdiges Vertrauen des Angeklagten dahingehend geschaffen, dass die einmal getroffene Entscheidung der Beiordnung auch unter den nach der Teileinstellung geänderten Umständen aufrechterhalten bleiben soll. Aufgrund dessen war der Aufhebungsbeschluss des Amtsgerichts aufzuheben, sodass die Pflichtverteidigerbeiordnung fortdauert.“

Na ja: Erst das Verfahren einstellen und dann nach acht (!) Monaten sagen, dass die Beiordnungsgründen weggefallen sind und dann ohne Anhörung entpflichten, geht natürlich nicht. M.E. spricht viel dafür, dass das AG den möglicherweise „unbequemen“ Verteidiger „los werden wollte, da der ja schon mit „steuergeldverschwendendes Verfahren“ gegen den Strafbefehl gewettert hatte. Das versprach „Stimmung“ in der Hauptverhandlung, auf die das AG dann wohl keinen Bock hatte. Und schwupps, war der Verteidiger entpflichtet. Aber ebenso schwupps hat das LG Halle die Entscheidung aufgehoben, was m.E. richtig ist/war. Das AG draf sich dann jetzt auf die Hauptverhandlung freuen.

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Petitionsausschuss empfiehlt Prüfung der Frage

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Und im zweiten Posting dann eine Entscheidung des LG Halle zur „Dauerbrennerproblematik“ der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger. Um die Frage wird ja nach wie vor heftig gestritten, wobei die wohl h.N. inzwischen davon ausgeht – was m.E. auch richtig ist -, dass die nachträgliche/rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers zumindest dann zulässig ist, wenn der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1 oder 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

So jetzt dann auch noch einmal das LG Halle im LG Halle, Beschl. v. 21.11.2023 – 3 Qs 109/23 -, in dem das LG seine bisherige Rechtsprechung in der Frage bestätigt hat. Wegen der Einzelheiten der Begründung der Entscheidungen verweise ich auf den verlinkten Volltext. Die stelle ich nicht mehr ein, da ich über die Problemati in der letzten Zeit ja schon häufiger berichtet habe.

In meinen Postings habe ich auch immer wieder darauf hingewiesen, dass der Streit in der Rechtsprechung: Nachträgliche Bestellung zulässig ja oder nein?, letztlich wohl nicht eine Frage ist, die die Rechtsprechung (abschließend) entscheiden kann/wird, sonder m.E. der Gesetzgeber an der Stelle tätig werden muss. Sonst wird sich dieses Hin und Her und das Kleben – vor allem der Obergerichte – an alten Zöpfen, nämlich an Rechtsprechung aus der Zeit vor der Neuregelung der §§ 140 ff. StPO nie ändern/enden.

Und an der Stelle habe ich jetzt ein wenig Hoffnung, dass sich vielleich etwas bewegt. Denn es hat im Bundestag eine Petition gegeben, mit der der Petent gefordert hat, gesetzlich zu regeln, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers auch nach Abschluss des Strafverfahrens erfolgen kann, sofern die Beiordnung rechtzeitig beantragt worden war. Auf die hat mich der Kollege M. Höpfner aus Berlin hingewiesen. Diese Petition ist im Petitionsausschuss des Bundestages beraten worden. Und der Ausschuss hat empfohlen, die Petition der Bundesregierung, und zwar dem BMJ – zu überweisen. Wer Interesse an der Beschlussempfehlung hat, der Kollege hatte sie mir zur Verfügung gestellt. Ich habe sie hier eingestellt. Im Übrigen verweise ich auf die BT-Drucks. 20/9210.

Ich bin gespannt, was „unser (?) BMJ M. Buschmann macht. Im Zweifel wahrscheinlich (leider) gar nichts. Denn in der „Beschlussempfehlung“ heißt es (schon):

„Der Petitionsausschuss weist allerdings darauf hin, dass der BGH bislang noch nicht Gelegenheit gehabt hat, darüber zu entscheiden, ob und wie sich die Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung auf seine bisherige Rechtsprechung auswirkt. Angesichts dessen hat die Bundesregierung mitgeteilt, dass die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung abzuwarten“

Also: Abwarten? Na ja, der Petitionssausschuss hat zumindest ein wenig Druck gemacht, wenn es in der Beschlussempfehlung heißt:

„Demgegenüber ist der Petitionsausschuss der Ansicht, dass die überragende Bedeutung, die dem Recht auf ein faires Verfahren Zukommt, sowie das mit dem Gesetz zur Neuregelung. des Rechts der notwendigen Verteidigung verfolgte Ziel, auch mittellosen. Beschuldigten einen frühzeitigen Zugang zum Recht zu Bewähren, hinreichend Anlass geben, unter eben diesen Gesichtspunkten die Notwendigkeit der vom Petenten geforderten gesetzlichen Klarstellung zumindest zu prüfen.

Anderenfalls wäre unter Umständen eine Beeinträchtigung des notwendigen Rechts auf Verteidigung allein deshalb zu besorgen, weil die Frage nicht bzw. nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraumes höchstrichterlich geklärt wird.“

Pflichti I: 4 x etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Betreuung, Gesamtstrafe, (Schwer)Behinderungen

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Heute ist es dann mal wieder Zeit für einen Pflichtverteidigungstag. Bei der Gelegenheit: Herzlichen Dank allen Kollegen/Kolleginnen, die mir immer wieder Entscheidungen (auch) zu den Fragen schicken.

Ich beginne hier mit Entscheidungen, die mir zu den Beiordnungsgründen vorliegen, und zwar:

Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht. § 140 Abs. 2 ist dabei schon anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur eigenen Verteidigung erhebliche Zweifel bestehen. Das kann der Fall sein, wenn der Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt ist.

Auch bei einer überschaubaren zu erwartenden Rechtsfolge in einem Strafbefehl von 30 Tagessätzen Geldstrafe ist bei Gesamtstrafenfähigkeit die Bestellung eines Verteidigers erforderlich.

Die Verteidigung ist notwendig, wenn zu bezweifeln ist, dass der Beschuldigte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn auf der Grundlage ärztlicher Unterlagen beim Angeschuldigten eine Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt und diese mit der Gesundheitsstörung „Verhaltensstörungen und Lernbehinderung“ begründet wird.

§ 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO sieht einen Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt. Daher ist einem Beschuldigten mit einer Sehbehinderung von 40 % eine Pflichtverteidiger zu bestellen.

 

Pflichti I: 2 x aus Halle zu den Beiordnungsgründen, oder: Gesamtstrafenfähigkeit und Akteneinsicht

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Und heute dann Entscheidungen aus der Ecke „Pflichtverteidigung“. Ein paar habe sich seit dem letzten Pflichti-Tag wieder angesammelt.

Hier zunächst zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Das LG Halle führt im LG, Beschl. v. 13.06.2023 – 3 Qs 60/23 – noch einmal zur Frage der Beiordnung im Fall der Gesamtstrafenfähigkeit aus:

„Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO sind gegeben, da wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint.

Da das Datum sowohl der dem Angeklagten hier vorgeworfenen Tat als auch der ihm im Verfahren 560 Js 205230/21 vor dem Amtsgericht Naumburg vorgeworfenen Taten jeweils nach dem Erlass des zuletzt gegen den Angeklagten ergangenen Strafbefehls des Amtsgerichts Naumburg vom 08.02.2021 liegt, sind die Taten aus dem Verfahren 560 Js 205230/21 mit der dem Angeklagten hier vorgeworfenen Tat gesamtstrafenfähig. Auch wenn die Kammer aufgrund der dortigen Anklage vor dem Schöffengericht davon ausgeht, dass dem Angeklagten in Bezug auf das bewaffnete Handeltreiben mit Betäubungsmitteln gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG ein — aus Sicht der Staatsanwaltschaft – minder schwerer Fall gemäß § 30a Abs. 3 BtMG vorgeworfen wird und ihm im Verfahren vor dem Amtsgericht Naumburg daher nicht die nach § 30a Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 BtMG vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren droht, so ist doch angesichts der Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe für das dem Angeklagten im Verfahren vor dem Amtsgericht Naumburg ebenfalls vorgeworfene Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG — welches zudem auch für das minder schwere bewaffnete Handeltreiben mit Betäubungsmitteln Sperrwirkung entfaltet — für den Fall einer Verurteilung insgesamt die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr zu erwarten. Drohen einem Beschuldigten aber in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Rechtsfolge“, also mindestens ein Jahr (Gesamt-)Freiheitsstrafe, im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, soist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig (vgl. KG Berlin, Beschluss vorn 13. 12. 2018 — 3 Ws 290/18 Rn. 2; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. 05. 2013 – 2 Ss 65/13 -, Rn. 6; jeweils zitiert nach juris).“

Und die zweite Entscheidung kommt auch aus Halle, allerdings vom AG Halle. Es handelt sich um den AG Halle (Saale), Beschl. v. 02.06.2023 – 302 Cs 234 Js 6479/23 (64/23) .

„Es ist ersichtlich, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann (§ 140 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO)).

Dies ergibt sich daraus, dass die Staatsanwaltschaft die Ansicht vertritt, Name und weitere Daten der Anzeigenerstatterin müssten vor dem Beschuldigten geheim gehalten werden. Diese Überlegungen sind durchaus nachvollziehbar. Allerdings entsteht hierdurch für den Beschuldigten ein Informationsdefizit, welches dadurch ausgeglichen werden muss, dass dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen ist, welcher vollumfängliche Akteneinsicht erhält. Die Bitte der Staatsanwaltschaft BI. 46 Band II, dem Verteidiger keine Einsicht in das Sonderheft zu gewähren, ist unzulässig. Der Verteidiger muss, um seine Aufgaben erfüllen zu können, Einsicht in sämtliche dem Gericht zur Entscheidungsfindung vorliegenden Unterlagen haben. Insoweit ist eine Beschränkung seines gesetzlichen Rechts auf Akteneinsicht nicht statthaft. Aufgrund seiner berufsrechtlichen Stellung ist der Verteidiger allerdings vorliegend nicht befugt, dem Beschuldigten die von der Staatsanwaltschaft für geheimhaltungsbedürftig angesehenen Daten der Anzeigenerstatterin mitzuteilen, worauf er im Rahmen der Aktenübersendung ausdrücklich hingewiesen wurde.

Eine Anhörung der Staatsanwaltschaft zu der erfolgten Beiordnung ist nicht geboten. Der Staatsanwaltschaft lag der Beiordnungsantrag des Verteidigers bereits am 19.04.2023 vor. Wenn die Staatsanwaltschaft hierzu nicht inhaltlich Stellung nimmt, sondern lediglich die Akte mit einem Strafbefehlsantrag an das Gericht weiterleitet, hat sie hierdurch in genügendem Maße zu erkennen gegeben, dass sie zum Beiordnungsantrag nicht Stellung nehmen möchte.“

Pflichti I: Einiges Neues zu den Beiordnungsgründen, oder: Vollstreckung, Einziehung, Schwere der Tat u.a.

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Bevor es dann morgen noch einen „Gebührentag“ gibt und dann das Pfingstwochenende kommt, stelle ich heute erst noch einmal Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Da haben sich seit dem letzten „Pflichti-Tag“ wieder einige angesammelt.

Hier zunächst eine Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, allerdings – wie gewohnt – nur die Leitsätze:

1. In entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ist dem Verurteilten auch im Vollstreckungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten oder besondere Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen. Dies gilt auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019.

2. Zu den Gründen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Verfahren über die Reststrafenaussetzung.

1. Aus § 428 Abs. 2 StPO ergibt sich keine ausdrückliche Einschränkung dahingehend, dass der Beiordnungsantrag nicht von einem Rechtsanwalt für die Einziehungsbeteiligte gestellt werden darf.

2. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (vgl. § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO) beurteilt sich für eine Beiordnung nach § 428 Abs. 2 StPO nicht nach der gesamten Strafsache, sondern nur nach dem Verfahrensteil, den die Einziehungsbeteiligung betrifft.

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

Erstrebt die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Verfahren in einer Parallelsache, in der der Angeklagte bereits schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, eine (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in dem Verfahren, in dem über eine Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden ist, insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde, ist ihm wegen Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn es sich bei der Verurteilung aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung zu treffen ist, voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird.

Ist der „Vorgang“ wegen der Aktenführung unübersichtlich ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lassen kann.