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Pflichti III: 4 x nachträgliche Bestellung zulässig, oder: Schritt(e) in die richtige Richtung

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Und dann – wie fast immer an „Pflichti-Tagen“ – noch etwas zum Dauerbrenner: Rückwirkende Bestellung. Dazu habe ich dann vier Entscheidungen, und zwar:

Alle vier Entscheidungen bejahen die rückwirkende Bestellung. Interessant in dem Zusammenhang vor allem der Beschluss des LG Braunschweig. Das „übergeordnete“ OLG lehnt die nachträgliche Bestellung nämlich ab. Anders also das LG, allerdings nur bei inhaftierten Beschuldigten. Aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.

 

Winterliche Verkehrssicherungspflicht bei Glätte, oder: Woher stammte die Eisfläche?

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Urheber Simon A. Eugster

Im Kessel Buntes dann heute das LG Dessau-Roßlau, Urt. v. 11.08.2023 – 4 O 477/22 –, das sich – passend zur beginnenden Wintersaison – mit der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht befasst.

Geklagt worden ist von der Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung des Landes Sachsen-Anhalt, die aus übergegangenem Recht nach einem Unfallereignis am 09.02.2021 Schadensersatz geltend gemacht hat. Infolge eines Sturzes hatte sich der Bedienstete der Klägerin eine Fußgelenksverletzung links zugezogen, welche ausweislich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu einer Arbeits- bzw. Dienstunfähigkeit vom 10.02.2021 bis 16.04.2021 führte. Für die Zeit der Dienstunfähigkeit leistete die Klägerin an den Verletzten Herrn Zahlungen in Höhe von 16.849,72 EUR.

Behauptet wird, dass der Verletzte am 09.02.2021 gegen 19:00 Uhr auf dem linksseitigen Gehweg der E.-W.-Straße in D.-R. in Richtung Sportplatz J.-S.-Straße gelaufen sei. In Höhe der Hausnummer pp. sei er auf Glatteis mit dem linken Fuß ausgerutscht und gestürzt. Das Glatteis sei von einer dünnen Schneeschicht verdeckt und deshalb nicht erkennbar gewesen. Die Eisfläche habe sich auf Höhe einer auf den Gehweg einmündenden Dachentwässerung befunden und sich trichterförmig über die gesamte Breite des Gehweges erstreckt. Am Rande des Gehweges zur Straße hin habe sich hoch aufgetürmter Schnee befunden. Streumaterial sei im gesamten Bereich des Gehweges des Hausgrundstückes Nr. pp. zum Unfallzeitpunkt nicht vorhanden gewesen. Ausweislich eines Gutachtens des Deutschen Wetterdienstes vom hätten zum Unfallzeitpunkt an der Unfallstelle die meteorologischen Voraussetzungen für das Auftreten von Schnee- und Eisglätte vorgelegen. Die Klägerin ist der Ansicht, der Beklagte sei den in der Satzung über den Winterdienst in der Stadt D.-R.  geregelten Räum- und Streupflichten nicht nachgekommen. Das Dach des Hauses Nr. pp. sei aufgrund der vorhergehenden Schneefälle mit Schnee bedeckt gewesen. Durch die vom Dach ausgehende Wärme könne Schmelzwasser gebildet worden sein, das durch das Regenrinnenfallrohr auf den Gehweg geflossen und dort aufgrund der herrschenden Minustemperaturen gefroren sei. Insoweit hätte der Beklagte im Rahmen des Winterdienstes die Bildung einer Eisschicht in Ausübung gesteigerter Kontroll- und Beseitigungspflichtigen zu unterbinden gehabt. Auch könne sich der Beklagte nicht auf die Übertragung seiner Winterdienstpflichten berufen, weil die hierfür in § 4 Abs. 4 Winterdienstsatzung geregelten Voraussetzungen nicht gegeben seien.

Der Beklagte ist dem entgegen getreten.

Das LG hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen:

„Ein schadensersatzbegründender Verstoß gegen die dem Beklagten als Eigentümer des Grundstückes E.-W.-Straße # obliegende Verkehrssicherungspflicht nach § 823 Abs.1 BGB in Verbindung mit der Winterdienstsatzung der Stadt-D. R. kann nicht festgestellt werden.

Die Räum- und Streupflicht beruht auf der Verantwortlichkeit durch die Verkehrseröffnung und setzt deutliche Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahrenlage voraus. Bei öffentlichen Wegen obliegt die Pflicht regelmäßig der Gemeinde im Zusammenhang mit der Wegebaupflicht. Anlieger haften nur, soweit die Pflicht auf sie übertragen wurde oder sie eine eigenständige Gefahrenquelle geschaffen haben. Inhalt und Umfang der Verkehrssicherungspflicht richten sich nach den Umständen des Einzelfalles. Maßgebend ist, was zur Sicherung des Verkehrs, dem die jeweilige Einrichtung dient, erforderlich und bezogen auf die einzelnen Maßnahmen dem Pflichtigen unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse, etwa der Gefährlichkeit des Weges, dessen Art und Wichtigkeit, Stärke des Verkehrs, Art der Nutzer, und der Leistungsfähigkeit des Pflichtigen zumutbar ist (Grüneberg, BGB, 82.A. 2023, § 823 Rn. 209 ff.). Im vorliegenden Falle ergibt sich der Inhalt der Verkehrssicherungspflicht aus der Winterdienstsatzung der Stadt D.-R. (Anlage K 12, Bl. 29 d.A.). Danach war der Winterdienst im Unfallbereich E.-W.-Straße # gemäß § 4 Abs.1 für Gehwege auf die Eigentümer der anliegenden Grundstücke übertragen. Nach § 2 Abs. 1 der Winterdienstsatzung umfasst der Winterdienst die Räumung von Schnee und das Bestreuen der Gehwege bei Winterglätte. Dabei genügt es, auf Gehwegen einen ca. 1,5 m breiten Streifen freizuhalten. Bei Auftreten der Winterglätte sind für Gehwege abstumpfende Mittel zu verwenden. Nach § 2 Abs. 2 der Satzung ist der in der Zeit von 7:00 Uhr bis 20:00 Uhr gefallene Schnee und entstandene Glätte unverzüglich nach Beendigung des Schneefalls bzw. nach dem Entstehen der Glätte zu beseitigen. Nach 20:00 Uhr gefallener Schnee und entstandene Glätte sind werktags bis 7:00 Uhr zu beseitigen. Im vorliegenden Falle hat der Beklagte geltend gemacht, seine Winterdienst-Pflichten auf das Ehepaar K. übertragen zu haben. Eine wirksame Übertragung in diesem Sinne scheitert zunächst nicht an dem Umstand, dass nach § 4 Abs. 4 der Winterdienstsatzung ein Dritter die Winterdienstpflichten nur durch schriftliche Erklärung gegenüber der Stadt und mit deren Zustimmung übernehmen kann. Eine derartige Konstellation hätte lediglich zur Folge, dass der übernehmende Dritte dem Geschädigten unmittelbar haftet. Sofern – wie im vorliegenden Falle – die Verantwortlichkeit für den Winterdienst bei dem Beklagten verbleibt, hat er die Möglichkeit, die Ausübung des Dienstes auf Hilfspersonen zu übertragen. Eine derartige Übertragung bedarf klarer Absprachen, welche die zuverlässige Sicherung der Gefahrenquelle zum Gegenstand hat. Der Übertragende muss sich vergewissern, dass der Übernehmende bereit und in der Lage ist, die Pflichten zu erfüllen, welche nach Art und Umfang der Gefahrenquelle auftreten können. Die Verkehrssicherungspflicht des Abgebenden bzw. Delegierenden verengt sich in diesem Falle nunmehr auf Kontroll- und Überwachungspflichten (vgl. Grüneberg, BGB 82. Aufl. 2023 § 823 Rn. 50).

Nach Vernehmung des Zeugen G. K. ist zunächst davon auszugehen, dass das Unfallgeschehen am 09.02.2021 – wie von der Klägerin behauptet – stattgefunden hat…..

Gleichwohl kommt eine Haftung des Beklagten für das Schadensereignis im vorliegenden Falle nicht in Betracht, weil ein Verstoß gegen die oben beschriebenen Verkehrssicherungspflichten nicht festgestellt werden kann. Im Ergebnis der Beweisaufnahme steht zudem fest, dass der Beklagte, die ihm obliegende Räum- und Streupflicht anforderungsgerecht übertragen und hinreichend überwacht hat…..“

Weiter dann bitte im verlinkten Volltext. Hier nur noch der Leitsatz, und zwar.

Wird ein Unfallgeschehen durch eine Eisfläche verursacht, welche von einer der Dachentwässerung dienenden Regenrinne stammt, liegt dann eine außergewöhnliche, nicht voraussehbare Gefahr vor, wenn die Bildung des Wassers nicht auf dem Einsetzen von Tauwetter sondern auf der individuellen Heizsituation des Hauses beruht. Ohne weitere, auf das entsprechende Risiko weisende Anhaltspunkte kommt eine Haftung wegen einer Verkehrssicherungspflichtverletzung nicht in Betracht.

Termin ohne Angeklagten dauert nur 15 Minuten, oder: Terminsgebühr unter der Mittelgebühr

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Der zweite Beschluss, den ich heute vorstelle, kommt vom LG Dessau-Roßlau. Das hat im – schon etwas älteren – LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 23.02.2023 – 6 Qs 29/23 – zur Höhe der Hauptverhandlungsterminsgebühr Stellung genommen.

Zu den Termin, um den hier gestritten wird, war der Angeklagte zwar geladen, aber nicht erschienen. Der Termin beim AG hat daher nur 15 Minuten gedauert. Der Verteidiger hatte dafür die Mittelgebühr angesetzt, also nach dem anwendbaren alten Recht 275,– EUR. Der Rechtspfleger hatte nur 150,– EUR festgesetzt. Das hat beim LG gehalten:

„Hinsichtlich der Verteidigergebühren sind die vom Amtsgericht festgesetzten von der Landeskasse dem Verteidiger zu erstattenden notwendigen Auslagen nicht zu beanstanden. Die von dem Verteidiger geltend gemachte Terminsgebühr für den Hauptverhandlungstermin am 01.03.2021 ist unbillig und damit unverbindlich (§ 14 Abs. 1 S. 4 RVG). Die durch den Rechtspfleger vorgenommene Kürzung der insoweit beantragten Gebühr nach Nr. 4108 VV RVG auf 150,00 EUR hält der rechtlichen Überprüfung stand.

Die Bemessung von Rahmengebühren hat der Rechtsanwalt gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 RVG unter Berücksichtigung aller Umstände nach billigem Ermessen vorzunehmen. Unbillig und damit nach § 14 Abs. 1 S. 4 RVG unverbindlich ist der Gebührenansatz dann, wenn die beantragte Gebühr um mehr als 20% über der angemessenen Gebühr liegt, da einem Rechtsanwalt insoweit eine Toleranzgrenze eingeräumt wird (BGH, Urteil vom 31.10.2006 – VI ZR 261/05, NJW-RR 2007, 420, 421 m.w.N.). Maßgebliche Kriterien für die Bemessung von Rahmengebühren sind u.a. Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Bedeutung der Angelegenheit sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Auftraggebers. Die sog. Mittelgebühr ist anzusetzen, wenn der „Normalfall“ vorliegt, also ein Fall in dem sämtliche, vor allem die nach § 14 Abs. 1 S. 1 RVG zu berücksichtigenden Umstände, durchschnittlicher Art sind (Gerold/Schmidt /Mayer, a.a.O., § 14 Rn. 10).

Die Terminsgebühr nach Nr. 4108 VV RVG entsteht für die Teilnahme an gerichtlichen Terminen. Wegen des insoweit zu vergütenden Zeitaufwandes des Verteidigers stellt die Verhandlungsdauer des jeweiligen Hauptverhandlungstermins das wesentliche Bemessungskriterium für die Terminsgebühr dar (OLG Hamm Beschluss vom 3.12.2009 – 2 Ws 270/09, BeckRS 2010, 2547; KG Beschluss vom 24.11.2011 – 1 Ws 113-114/10, BeckRS 2012, 11963; OLG Bamberg, Beschluss vom 6.2.2018 – 1 Ws 51/18, NStZ-RR 2018, 192 m.w.N.). Hier betrug die Verhandlungsdauer am 01.03.2021 ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls 15 Minuten, da der vormalige Angeklagte nicht erschienen war. Die Hauptverhandlungsdauer von 15 Minuten ist für ein Strafverfahren als unterdurchschnittlich anzusehen. Hinzu kommt, dass aufgrund des unentschuldigten Fernbleibens des vormaligen Angeklagten keinerlei Tätigkeit des Verteidigers in dem Termin erforderlich war. Der Arbeitsaufwand des Verteidigers im Rahmen dieses Hauptverhandlungstermins ist demnach insgesamt als sehr gering und weit unterdurchschnittlich anzusehen. Die deutliche Herabsetzung der Terminsgebühr für den Hauptverhandlungstermin am 01.03.2021 von der Mittelgebühr auf 150,00 EUR erscheint der Kammer daher als angemessen.“

Nun, 15 Minuten sind auch beim AG ein wenig kurz, so dass man gegen die Kürzung auf 150,00 EUR nichts einwenden kann (wir streiten bitte nicht darüber, dass die Gebührensätze des RVG grundsätzlich zu niedrig sind).

Auslagenerstattung nach dem Bußgeldverfahren I, oder: Mittelgebühr, privates SV-Gutachten, USt

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Heute ist Gebührenfreitag, und zwar mit zwei LG-Entscheidungen zur Auslagenerstattung im bzw. nach einem Bußgeldverfahren.

Den Opener mache ich mit dem LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 04.05.2023 – 6 Qs 394 Js 26340/21 (56/23).

Dem Betroffenen war eine Geschwindigkeitsüberschreitung auf einer BAB zur Last gelegt worden. Es wurde deshalb eine Geldbuße von i.H.v. 100,00 EUR gegen ihn festgesetzt. Gegen den Bußgeldbescheid legte der Betroffene mit anwaltlichem Schriftsatz Einspruch ein. Der Betroffene beauftragte einen Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens hinsichtlich der Ordnungsgemäßheit der durchgeführten Messung. In dem sodann erstellten und dem Amtsgericht vorgelegten Gutachten kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Messserie im Hinblick auf die Fotopositionen Auffälligkeiten aufweise. Das AG hob daraufhin einen zuvor bereits bestimmten Hauptverhandlungstermin auf und beauftragte seinerseits einen Sachverständigen mit der Erstellung eines schriftlichen Gutachtens. Der gerichtliche Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die einwandfreie elektronische Funktion der Messanlage für den Messzeitraum nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden könne. Der Betroffene wurde daraufhin im Beschlusswege §§ 72 OWiG) freigesprochen und die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landeskasse auferlegt.

Der Betroffene hat dann beantragt, seine notwendigen Auslagen gegen die Landeskasse festzusetzen. Dabei hat er bei den anwaltlichen Gebühren jeweils von der Mittelgebühr ausgegangen. Die Bezirksrevisorin hat das teilweise, u.a. bei der Verfahrensgebühr Nr. 5103 VV RVG, beanstandet. Zudem hat sie der Festsetzung der Kosten für den privat durch den Betroffenen beauftragten Sachverständigen widersprochen. Eine Verwendung des privaten Sachverständigengutachtens sei im Verfahren nicht erfolgt. Zudem sei es Aufgabe der Verteidigung anhand von Rechtsprechung und Literatur selbst zu prüfen, ob es Anhaltspunkte für Messfehler und sonstige Ungenauigkeiten gegeben habe.

Das AG hat die Auslagen unter Berücksichtigung der Ausführungen der Bezirksrevisorin festgesetzt. Eine Festsetzung der Umsatzsteuer erfolgte ebenfalls nicht, da der Betroffene vorsteuerabzugsberechtigt sei. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Betroffenen hatte Erfolg:

„Die gemäß § 464b S. 3 und 4 StPO, 1 1 Abs. 1, 21 Nr. 1 RPflG i.V.m. § 104 Abs. 3 S. 1 ZPO statthafte sofortige Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Sie wurde fristgerecht innerhalb von zwei Wochen eingelegt. Der Beschwerdegegenstand übersteigt entsprechend den Vorgaben des § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 304 Abs. 3 StPO einen Wert von 200,00 EUR.

Die sofortige Beschwerde ist darüber hinaus auch begründet.

Die von dem Verteidiger geltend gemachten Gebühren entsprechen billigem Ermessen und sind daher verbindlich (§ 14 Abs. 1 S. 1, 4 RVG). Die von dem Rechtspfleger vorgenommene Kürzung der Verfahrensgebühr nach Nr. 5103 VV RVG hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Auch die Ablehnung der beantragten Erstattung der außergerichtlichen Sachverständigenkosten und der Umsatzsteuer ist rechtsfehlerhaft.

Die Bemessung von Rahmengebühren hat der Rechtsanwalt gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 RVG unter Berücksichtigung aller Umstände nach billigem Ermessen vorzunehmen. Unbillig und damit nach § 14 Abs. 1 S. 4 RVG unverbindlich ist der Gebührenansatz dann, wenn die beantragte Gebühr um mehr als 20 % über der angemessenen Gebühr liegt, da einem Rechtsanwalt insoweit eine Toleranzgrenze eingeräumt wird (BGH, Urteil vom 31.10.2006 – VI ZR 261/05, NJW-RR 2007, 420, 421 m.w.N.). Maßgebliche Kriterien für die Bemessung von Rahmengebühren sind u.a. Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Bedeutung der Angelegenheit sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Auftraggebers. Die sog. Mittelgebühr ist anzusetzen, wenn der „Normalfall“ vorliegt, also ein Fall in dem sämtliche, vor allem die nach § 14 Abs. 1 S. 1 RVG zu berücksichtigenden Umstände, durchschnittlicher Art sind (Gerold/Schmidt/Mayer, 25. Aufl. 2021, RVG § 14 Rn. 10). Aus Sicht der Kammer ergibt sich aus den gesetzlichen Regelungen des RVG kein Grund dafür, in den Fällen straßenverkehrsrechtlicher Bußgeldverfahren grundsätzlich davon auszugehen, dass der Ansatz der Mittelgebühr als Ausgangspunkt nicht gerechtfertigt ist (so auch Gerold/Schmidt/Mayer, a.a.O., Rn. 54 m.w.N.). Vielmehr ist stets der konkrete Arbeitsaufwand des Rechtsanwalts zu bemessen.

Die Verfahrensgebühr nach Nr. 5103 VV RVG entsteht für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information durch den Rechtsanwalt, Dazu gehören insbesondere auch die Tätigkeiten im gerichtlichen Zwischenverfahren oder in Zusammenhang mit Rechtsbehelfen betreffend Akteneinsicht (Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O., RVG W 5101 Rn. 4). Der Verteidiger hat vorliegend nicht nur den Einspruch eingelegt, sondern im Rahmen des Zwischenverfahrens nach vorheriger Besprechung mit dem Betroffenen ein privates Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben (vgl. BI. 54 der Akte). Insofern war bereits zu diesem Zeitpunkt eine Auseinandersetzung mit den technischen Voraussetzungen der Messung erforderlich. Daher hat die Kammer keine Anhaltspunkte für einen unterdurchschnittlichen Arbeitsaufwand des Verteidigers im Hinblick auf vergleichbare Verfahren in diesem Verfahrensstadium.

Hinzu kommt, dass dem Betroffenen ausweislich des rechtlichen Hinweises des Amtsgerichts BI. 67 ff. der Akte – die Verhängung eines Fahrverbotes drohte. Die ausgesprochene Geldbuße i.H.v. 100,00 EUR lag zudem zwar am unteren, jedoch nicht am untersten Rand innerhalb des Gebührenrahmens von 60,00 EUR – 5.000,00 EUR. Daher ist auch die Bedeutung der Sache nicht als unterdurchschnittlich anzusehen.

Vielmehr entspricht die Schwierigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hier einem durchschnittlichen Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren betreffend eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Jedenfalls aber liegt die angemessene Gebühr innerhalb der Toleranzgrenze von 20 % ausgehend von der Mittelgebühr,

Darüber hinaus sind dem Betroffenen die Auslagen für das durch seinen Verteidiger in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten zu erstatten. Es handelt sich dabei in dem vorliegenden Fall um notwendige Auslagen im Sinne des § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. 467 Abs. 1, 464a Abs. 2 StPO.

Notwendige Auslagen sind die einem Beteiligten erwachsenen, in Geld messbaren Aufwendungen, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder zur Geltendmachung prozessualer Rechte erforderlich waren (LG Aachen Beschl. v. 12.7.2018 66 Qs-509 Js-OWi 2524/16-31/18 BeckRS 2018, 16186, Rn. 3). Aufwendungen für private Ermittlungen oder Beweiserhebungen sind in der Regel nicht notwendig, weil Ermittlungsbehörden (§ 160 Abs. 1 u. 2 StPO) und Gericht (§ 244 Abs. 2 StPO) von Amts wegen zur Sachaufklärung und zur Beachtung des Zweifelssatzes verpflichtet sind und die Betroffenen daneben regelmäßig durch Initiativanträge, insbesondere Beweisanträge, das Gericht zu der begehrten Beweisaufnahme bestimmen können und werden (KK-StPO/Gieg, 9. Aufl. 2023, § 464a Rn. 7 m.w.N.).

Die Kosten für die Einholung eines privaten Sachverständigengutachtens sind jedoch unter anderem dann ausnahmsweise als notwendige Kosten anzuerkennen, wenn schwierige technische Fragestellungen zu beurteilen sind oder wenn aus Sicht des Betroffenen ex ante ein privates Sachverständigengutachten erforderlich ist, da ansonsten eine erhebliche Verschlechterung der Prozesslage zu befürchten wäre (LG Göttingen Beschl. v. 4.7.2022 – 1 Qs 13/22 -, BeckRS 2022, 17434, Rn. 14 m.w.N.). Unabhängig von der subjektiven Bewertung der Prozesslage durch den Betroffenen sind die Kosten eines durch ihn in dem Bußgeldverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens nach einem Freispruch von dem Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit aber jedenfalls dann erstattungsfähig, wenn das eingeholte Privatgutachten zu dem Freispruch beigetragen hat (vgl. LG Aachen Beschl. v. 12.7.2018, a.a.O., 7; LG Aachen Beschl. v. 30.9.2019 – 66 Qs 58/19 BeckRS 2019, 35426).

Die vorgenannten Voraussetzungen für die Erstattungsfähigkeit der außergerichtlichen Sachverständigenkosten sind hier gegeben. Das durch den Verteidiger des Betroffenen beauftragte Sachverständigengutachten hat erkennbar zu dem Freispruch des Betroffenen beigetragen.

Das wird schon daran deutlich, dass das Amtsgericht nach dem Eingang des Verfahrens bereits Termin zur Hauptverhandlung bestimmt und im Rahmen der Ladung explizit darauf hingewiesen hatte, dass aus seiner Sicht Anhaltspunkte für einen Messfehler derzeit nicht ersichtlich seien, Allein das sodann durch den Verteidiger vorgelegte Sachverständigengutachten führte dazu, dass das Amtsgericht den Termin zur Hauptverhandlung aufhob und seinerseits einen Sachverständigen mit der Erstellung eines schriftlichen Gutachtens zu der Frage, ob das Ergebnis der Messung am Tattag zur Tatzeit am Tatort mit der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit des streitgegenständlichen Kraftfahrzeugs nicht übereinstimme, beauftragte.

Ohne die Anbringung konkreter Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung wäre daher damit zu rechnen gewesen, dass das Gericht in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens unter den erleichterten Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG sowie § 244 Abs. 4 S. 2 StPO ablehnen würde. zur Überprüfung auf solche Zweifel war angesichts der technisch komplizierten Materie aber die Überprüfung durch einen Sachverständigen notwendig (so auch LG Oldenburg Beschl. v. 28.3.2022 – 5 Qs 108/20, BeckRS 2022 8935, Rn. 6).

Hinzu kommt, dass in dem durch das Gericht eingeholten Sachverständigengutachten ausdrücklich auf das Privatgutachten des Betroffenen Bezug genommen und weitgehend Übereinstimmung in den festgestellten Ergebnissen konstatiert wurde.

Vor dem Hintergrund dieser objektiven Umstände ist es hier nicht entscheidungserheblich, dass das Amtsgericht in seiner Entscheidungsbegründung in dem Beschluss vom 14.06.2022 nicht ausdrücklich auch auf das Privatgutachten des Betroffenen verwiesen hat. Der Beitrag des durch den Betroffenen eingeholten Sachverständigengutachtens zu seinem Freispruch ergibt sich vielmehr aus dem tatsächlichen Verfahrensverlauf.

Die beantragten Sachverständigenkosten sind darüber hinaus auch in der Höhe plausibel und daher erstattungsfähig.

Schließlich ist auch die beantragte Umsatzsteuer dem Betroffenen in dem vorliegenden Fall zu erstatten. Für die Frage, ob einem Freigesprochenen die von seinem Verteidiger in Rechnung gestellte Umsatzsteuer erstattet werden kann, kommt es nach § 464b S. 3 StPO i.V.m. § 104 Abs. 2 S. 3 ZPO nicht darauf an, ob der Freigesprochene generell vorsteuerabzugsberechtigt ist, sondern ob er die von seinem Verteidiger in Rechnung gestellten Beträge tatsächlich als Vorsteuer abziehen kann (LG Berlin, Beschluss vom 8. Januar 1996 519 Qs 463/95 juris). Für das Strafverfahren kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass die Vorsteuer auf Verteidigerkosten nicht als Vorsteuer geltend gemacht werden kann, weil es sich bei der Verteidigertätigkeit nicht um eine Leistung für das Unternehmen des Freigesprochenen im Sinne des § 15 UStG handelt (ebd.; vgl. auch BFH, Urteil vom 1 1. April 2013 – V R 29/10 -, BFHE 241, 438, BStBl Il 2013, 840, juris). Diese Grundsätze müssen evident auch für das ebenfalls von einem Sanktionscharakter geprägten Ordnungswidrigkeitenrecht gelten. In dem vorliegenden Fall gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es dem Betroffenen möglich war, die Kosten der Verteidigung aufgrund seiner unternehmerischen Tätigkeit als Maschinentechniker als Vorsteuer abzuziehen.“

In allen drei Punkten richtig 🙂 .

Pflichti I: Einiges Neues zu den Beiordnungsgründen, oder: Vollstreckung, Einziehung, Schwere der Tat u.a.

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Bevor es dann morgen noch einen „Gebührentag“ gibt und dann das Pfingstwochenende kommt, stelle ich heute erst noch einmal Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Da haben sich seit dem letzten „Pflichti-Tag“ wieder einige angesammelt.

Hier zunächst eine Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, allerdings – wie gewohnt – nur die Leitsätze:

1. In entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ist dem Verurteilten auch im Vollstreckungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten oder besondere Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen. Dies gilt auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019.

2. Zu den Gründen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Verfahren über die Reststrafenaussetzung.

1. Aus § 428 Abs. 2 StPO ergibt sich keine ausdrückliche Einschränkung dahingehend, dass der Beiordnungsantrag nicht von einem Rechtsanwalt für die Einziehungsbeteiligte gestellt werden darf.

2. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (vgl. § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO) beurteilt sich für eine Beiordnung nach § 428 Abs. 2 StPO nicht nach der gesamten Strafsache, sondern nur nach dem Verfahrensteil, den die Einziehungsbeteiligung betrifft.

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

Erstrebt die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Verfahren in einer Parallelsache, in der der Angeklagte bereits schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, eine (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in dem Verfahren, in dem über eine Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden ist, insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde, ist ihm wegen Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn es sich bei der Verurteilung aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung zu treffen ist, voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird.

Ist der „Vorgang“ wegen der Aktenführung unübersichtlich ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lassen kann.