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StPO III: Etwas Rechtsprechung zur Pflichtverteidigung, oder: Rückwirkung und Beiordnungsgrund

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Und dann zum Abschluss des heutigen Tages noch ein paar Entscheidungen zur Pflichtverteidigung. Es haben sich zwar seit dem letzten „Pflichti-Tag“ einige Entscheidungen angesammelt, das reicht aber nicht für einen ganzen Tag.

Denn die meisten der mir vorliegenden Entscheidungen befassen sich mit der Frage der Zulässigkeit der nachträglichen Bestellung. Das ist nach wie vor der Dauerbrenner im Bereich der §§ 140 ff. StPO. Die beiden Lager Pro und Contra stehen sich unversöhnlich gegenüber. Als Verteidiger muss man einfach schauen, wie das AG/LG, bei dem man gerade verteidigt (hat) entscheidet und sich dann danach richten.

Ich habe hier dann den LG Aurich, Beschl. v. 07.06.2022 – 12 Qs 93/22 – und den LG Magdeburg, Beschl. v. 03.06.2022 – 21 Qs 41/22.  Die beiden Gerichte haben die rückwirkende Bestellung abgelehnt, und zwar auch dann, wenn der Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt ist. Leider zum Teil unter Hinweis auf m.E. veraltete Rechtsprechung des BGH und der OLG. Im Übrigen: Diese Rechtsprechung segnet Untätigbleiben der AG und der StA ab, die damit die Ziele der Neuregelung unterlaufen können/wollen.  Im Gegensatz danzu kann ich dann aber auch auf den LG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 30.05.2022 – 24 Qs 36/22 – und den AG Chemnitz, Beschl. v. 30.05.2022 – 11 Gs 1615/22 – hinweisen, die die Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung bejaht haben.

Und zu den Beiordnungsgründen (§ 140 Abs. 2 StPO) kann ich dann noch auf den LG Deggendorf, Beschl. v. 02.06.2022 – 1 Qs 31/22– verweisen. Der hat folgenden Leitsatz:

Leidet der Beschuldigte an einer weit fortgeschrittenen Alkoholerkrankung mit erheblichen körperlichen Folgeerscheinungen und kann er sich wegen seines Zustandes nicht selbst verteidigen, ist ihm ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

„Sicherheitsleistung“/Vorschuss, oder: Angabe ja, aber keine Anrechnung

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Freitag ist „Money-Day“ 🙂 , also gebührenrechtliche Entscheidungen. Und die erste des Tages ist der LG Deggendorf, Beschl. v. 13.03.2019 – 1 KLs 4 Js 5712/17 -, den mir der Kollege Wamser aus Passau übersandt hat. Es geht um die Anrechnung eines „Vorschusses“ (§ 58 Abs. 3 RVG). Zum Sachverhalt teilt der Kollege bei der Übersendung mit:

„Der Mandant war zu der Zeit auswärtig in U-Haft, eine Verständigung nur mit einem erfahrungsgemäß teuren Dolmetscher am dritten Ort möglich. Ein Pflichtverteidiger war bereits bestellt, mir wurde das Mandat dazu angetragen. Ich habe von den in der Kanzlei erschienen Angehörigen die im Beschluss als „Sicherheitsleistung“ beschriebenen € 1.200 zur Deckung der Auslagen eingehoben, für den Fall, dass der potenzielle Mandant meine Dienste letztlich nicht in Anspruch nehmen möchte oder eine Beiordnung nicht erfolgt. Der Betrag wurde vor der Abrechnung 1:1 retourniert, die Rechtspflegerin hatte von der Zahlung offenbar bei einem Antrag auf Beratungshilfe der Angehörigen des Mandanten in völlig anderer Sache von der Erstattung Wind bekommen und eine Rückzahlung anteiliger PV-Gebühren angeordnet.“

Die Rechtspflegerin hat dann angerechnet und vom Kollegen einen Teil der gesetzlichen Gebühren zurückgefordert. Das hat das LG anders gesehen:

„Zwar trifft es zu, dass er Erinnerungsführer bei Abrechnung seiner Pflichtverteidigervergütung die von Dritten erhaltene „Sicherheitsleistung“ – es handelt sich wohl um einen Honorarvorschuss mit bedingter Rückzahlungsvereinbarung – in Höhe von 1.200,00 € unzweifelhaft hätte angeben müssen (vgl. die schon in der Stellungnahme des Bezirksrevisors vom 22.02.2019 zitierte Kommentarstelle bei Poller/Härtl/Köpf, Kostenhilferecht, 3. Auflage 2018, Rn. 6 zu § 55 RVG sowie die dortigen Ausführungen unter Randnummer 7 und zu § 58 unter Randnummern 19 ff., die sinngemäß auch für die Pflichtverteidigergebühren gelten). Denn nur durch die Offenlegung solcher Vorschusszahlungen kann dem dafür zuständigen Rechtspfleger die Möglichkeit zur Prüfung der Anrechenbarkeit eröffnet werden. Dies gilt auch für Vorschüsse, für die ausdrücklich oder stillschweigend eine Rückzahlung vereinbart ist.

Allerdings ist nachvollziehbar, dass jedenfalls dann, wenn eine Rückzahlung eines Vorschusses oder einer „Sicherheitsleistung“ vor Bewilligung einer beantragten Prozesskostenhilfe bzw. vor Abrechnung einer Pflichtverteidigervergütung erfolgt, eine Kürzung des Pflichtverteidigerhonorars zu unterbleiben hat. Für den Bereich des Prozesskostenhilferechtes ist es anerkannt, dass der Rechtsanwalt mit der von ihm vertretenen Partei Vereinbarungen treffen kann, dass bestimmte Zahlungen der Anrechnung entzogen werden oder ein Vorschuss nur für solche Ansprüche gezahlt wird, für die die Staatskasse nicht eintreten muss. Besteht zum Schluss eine Eintrittspflicht der Staatskasse – wie vorliegend durch den Freispruch des Mandanten des Erinnerungsführers, durch den die Staatskasse auch für die Wahlverteidigergebühren einstandspflichtig wurde – kann die Partei vorn Rechtsanwalt die Vergütung zurückverlangen. Es erfolgt dann keine Anrechnung (vgl. Pöller/Härtl/Köpf, § 58 Rn. 19). So liegt es nach dem Vorbringen des Erinnerungsführers vom 08.03.2019 auch im vorliegenden Fall. Aus der Datierung des Bankumsatzes ist nachvollziehbar, dass der Erinnerungsführer die Rückzahlung des Vorschusses in Höhe von 1.200,00 € brutto zugleich mit der Abrechnung des Mandates und Erstellung des Vergütungsfestsetzungsantrages vom 05.06.2018 veranlasst hat. Damit steht fest, dass vom Erinnerungsführer intendiert war, dass die Rückzahlung des Vorschusses noch vor Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren erfolgen wird. Eine Anrechnung hat daher zu unterbleiben, eine Rückforderung nach § 58 Abs. 3 Satz 2 RVG ist damit nicht veranlasst, so dass auf die Erinnerung der entsprechende Beschluss des Landgerichts Deggendorf vom 08.02.2019 aufzuheben war.“

Unterlassene Rettungsbemühungen bei einem Selbstmörder – strafbar? Nicht immer

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Mit einer in der letzten Zeit (in der Presse) häufiger diskutierten Problematik hat sich vor einiger Zeit der LG Deggendorf, ?Beschl. v. 13?.?09?.?2013? – 1 Ks 4 Js ?7438?/?11? – befasst, nämlich mit der Frage der Erforderlichkeit von Nothilfe oder, ob unterlassene Rettungsbemühungen eines Notarztes gegenüber einem Suizidenten in jedem Fall strafbar sind. Das LG hat das verneint und die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt..

Das Verhalten des Angeschuldigten war rechtmäßig.

Insbesondere war der Angeschuldigte bei seinem ersten Notarzteinsatz am xx.xx.2013 gegen 09.00 Uhr nicht zur Vornahme lebenserhaltenden Maßnahmen gegenüber dem Patienten Dr. A verpflichtet. Eine solche Verpflichtung ergab sich für den Angeschuldigten weder aus seiner Stellung als diensthabender Notarzt noch aus allgemeinen Grundsätzen.

Einer entsprechenden Handlungsverpflichtung steht insofern bereits der zu beachtende Suizidwille des Dr. A entgegen.

Soweit der Bundesgerichtshof in der – von der Staatsanwaltschaft im Aktenvermerk vom 31.05.2012 (Bl. 54 ff.) zur Beurteilung der Rechtslage zitierten – Entscheidung vom 04.07.1984 (sogen. „Peterle-Entscheidung“, BGHSt 32, 367 = NJW 1984, 2639) den behandelnden Arzt auch gegenüber einem freiverantwortlich handelnden Suizidenten zu lebensrettenden Maßnahmen verpflichtet sah, sobald dieser infolge Bewusstlosigkeit die Tatherrschaft über das Geschehen verloren hatte, folgt dem die Kammer nicht.

Nach Auffassung des Gerichts läuft diese rigide strafrechtliche Sichtweise dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten zuwider und ist spätestens seit Inkrafttreten des § 1901 a Abs. 2 und 3 BGB n.F. auch gesetzlich überholt. Ratio dieser Vorschrift ist es, jede freiverantwortliche Entscheidung des Betroffenen – unabhängig von Art und Stadium seiner Erkrankung – zu achten (so auch: Kutzer, ZRP 5/2012, S. 135 ff. (138)). Dabei strahlt diese Vorschrift aus dem Betreuungsrecht auch auf die im Strafrecht vorzunehmenden Wertungen – auch hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechtes eines Suizidenten – aus.

Auf dieser Basis ist in den Fällen eines freiverantwortlichen Suizides keinen Raum für eine strafrechtliche Sanktionierung von – nur im Hinblick darauf – unterlassenen Rettungsbemühungen.

Die Kammer sieht im Vorgehen des Dr. A einen freiverantwortlichen „Bilanzsuizid“, der auf einer rationalen Abwägung seiner Lebensumstände beruht.

Das folgert die Kammer dann aus der im Einzelnen dargelegten „Vorgeschichte“ und der „Auffindesituation“.