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Strafantrag II: Beschränkung eines Strafantrages, oder: Wenn sich Strafanträge widersprechen….

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Und als zweite Entscheidung dann das KG, Urt. v. 30.11.2023 – 2 ORs 31/23 – 121 Ss 130/23 -, also auch nicht mehr ganz taufrisch. zur Beschränkung eines Strafantrages2 ORs 31/23

Das AG hatte den Angeklagten  wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten hat das LG das Urteil aufgehoben und den Angeklagten aus rechtlichen Gründen frei gesprochen.

Zu dem für das Verfahren bdeutsame Geschehen hat das LG im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

„„1. Am 4. Juli 2020 gegen 15:30 Uhr führten die Zeugen PM L und PM Ko am G S in Berlin-T eine Kontrolle des Motorrades des Angeklagten durch. Die beiden Polizeibeamten hatten sich vor Ort im Zusammenhang mit zwei Großdemonstrationen, namentlich einer Motorraddemonstration sowie einer Anti-Rassismus-Demonstration, postiert. Die Unterredung der beiden Polizeibeamten mit dem Angeklagten während der insgesamt etwa achtminütigen Kontrolle erfolgte mit lauten und deutlich vernehmbaren Stimmen. In einem Abstand von nur etwa zwei bis drei Metern zu der Maßnahme hielten sich kurzzeitig mehrere unbekannt gebliebene Personen – insbesondere zwei einzelne Männer sowie ein Paar – auf. Einer der Männer, der ersichtlich das gesprochene Wort der beiden Polizeibeamten und des Angeklagten akustisch wahrnahm, unterhielt sich über eine Minute lang mit dem Zeugen Ko, während der Zeuge L mit dem Angeklagten und dessen Unterlagen zu dem Motorrad befasst war. Der unbekannte Mann schaltete sich zudem gegen Ende der Kontrollmaßnahme mit einem eigenen – nicht näher feststellbaren – Wortbeitrag in die Kommunikation zwischen den beiden Beamten und dem Angeklagten ein. Darüber hinaus passierten zahlreiche Fußgänger, Fahrrad- und Rollerfahrer in einem Abstand von wenigen Metern den unmittelbaren Nahbereich der polizeilichen Maßnahme.

Der Angeklagte nahm die Polizeikontrolle – ohne das Wissen der beiden Zeugen L und Ko – in Wort und Bild mittels einer an seinem Motorradhelm befestigten Kamera auf und speicherte die Aufzeichnungen ab. In der Folge machte er die Aufnahmen zunächst auf seinem Instagramprofil und ab dem 8. Juli 2020 auf seinem unter seinem Künstlernamen „Ku“ betriebenen Y-Kanal einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, wobei er einen Weichzeichner verwendete, um die beiden Beamten unkenntlich zu machen.

Der Zeuge L stellte fristgerecht Strafantrag, den er auf die Strafverfolgung wegen der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes und der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen nach §§ 201, 201a Abs. 2 StGB beschränkte.

2. Am 30. März 2021 zwischen 16:20 Uhr und 17:00 Uhr führten die Zeugen PM N und POM B am Pa Platz in Berlin-M eine Kontrolle des Motorrades des Angeklagten sowie weiterer Motorräder der Begleiter des Angeklagten durch. Der Angeklagte und seine unbekannt gebliebenen Begleiter hielten sich gemeinsam mit den beiden Polizeibeamten in dem Kontrollbereich um die Motorräder auf. Zudem passierten während der Maßnahme zahlreiche unbekannt gebliebene Personen – zu Fuß und mit dem Fahrrad – in einem Abstand von wenigen Metern das Geschehen, wobei sie teilweise zwischen den kontrollierten Motorrädern hindurchliefen und sich mehrere von ihnen interessiert dem Geschehen zuwandten. Da die Kommunikation zwischen dem Angeklagten und den beiden Beamten jeweils mit lauter und deutlich wahrnehmbarer Stimme erfolgte, befanden sich sowohl die Begleiter des Angeklagten als auch die Passanten in Hörweite des Geschehens.

Der Angeklagte nahm auch diese Polizeikontrolle – ohne das Wissen der beiden Zeugen N und B – in Wort und Bild mittels der an seinem Motorradhelm befestigten Kamera auf und speicherte die Aufzeichnungen ab. In der Folge machte er die Aufnahmen auf seinem Y-Kanal einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, wobei er die Identität der beiden Beamten mittels Verpixelung sowie Stimmenverzerrung unkenntlich machte.

Der Zeuge B stellte fristgerecht Strafantrag, den er auf die Strafverfolgung wegen der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes nach § 201 StGB beschränkte.“

Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft  Revision eingelegt, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Die Revision hatte teilweise Erfolg:

1. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat die Berufungskammer in beiden verfahrensgegenständlichen Fällen eine Strafbarkeit wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes gemäß § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB aufgrund einer sogenannten faktischen Öffentlichkeit (vgl. LG Kassel StV 2020, 161; MüKoStGB-Graf, 4. Aufl., § 201 Rdn. 17a; Fischer, StGB 69. Aufl. § 201 Rn. 4) sowie wegen der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen nach § 201a Abs. 2 StGB verneint.

2. Ebenso zutreffend hat die Strafkammer hinsichtlich einer Strafbarkeit gemäß § 42 BDSG wegen der Tat vom 4. Juli 2020 ein Verfahrenshindernis angenommen.

a) Nach § 42 Abs. 3 Satz 1 BDSG handelt es sich bei den Straftatbeständen nach § 42 Abs. 1 und 2 BGSG jeweils um absolute Antragsdelikte. Die auf die allgemeine Sachrüge veranlasste Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen durch den Senat ergab das Fehlen eines wirksamen Strafantrages sowohl in Bezug auf § 42 BDSG als auch hinsichtlich einer etwaigen Strafbarkeit nach § 33 Abs. 1 KunstUrhG, die gemäß § 33 Abs. 2 KunstUrhG ebenfalls einen wirksamen Strafantrag voraussetzt.

b) Der Zeuge PM L hat seinen innerhalb der Frist des § 77b Abs. 1 Satz 1 StGB gestellten Strafantrag – entgegen der Auffassung der Revisionsführerin – wirksam auf die Straftatbestände der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes und der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen nach § 201 und § 201a Abs. 2 StGB beschränkt.

Grundsätzlich gilt der Strafantrag bei idealkonkurrierenden Delikten für sämtliche in der Handlungseinheit verwirklichten Antragsdelikte (vgl. Senat, Beschluss vom 20. August 2021 – (2) 121 Ss 92/21(14/21) – mwN). Eine Beschränkung auf eine von mehreren zusammentreffenden Gesetzesverletzungen (§ 52 StGB) ist jedoch zulässig (vgl. Senat aaO mwN). Ist eine Beschränkung der gewünschten Strafverfolgung weder erklärt, noch sonst eindeutig erkennbar, umfasst der Strafantrag den gesamten geschichtlichen Vorgang, welcher der Beschuldigung zugrunde liegt (vgl. BGHSt 33, 114, 116; Senat aaO; LK-StGB/Greger/Weingarten, 13. Aufl., § 77 Rn. 20-21; MüKoStGB-Mitsch aaO § 77b Rn. 40).

Aufgrund der ausdrücklichen Beschränkung des von dem Zeugen PM L gestellten Strafantrags auf die beiden genannten Strafvorschriften und des eindeutigen Wortlauts des Antrags ist für eine Auslegung dahin, dass die Strafverfolgung wegen aller in Betracht kommender Delikte und damit auch solcher nach dem BDSG oder KunstUrhG gewünscht wird, kein Raum (vgl. SK-StGB/Wolter, 9. Aufl., § 77 Rn. 25).

3. Etwas anderes gilt für die Tat vom 30. März 2021 und den von dem Zeugen POM B deswegen fristgerecht gestellten Strafantrag. Der Zeuge hat nicht nur am Ende seines Berichts vom 10. April 2021 Strafantrag wegen der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes gemäß § 201 StGB gestellt, sondern zusätzlich ein Strafantragsformular unterzeichnet, auf dem zwar das Datum neben der Unterschrift des Antragstellers fehlt, das ausweislich des Datums neben der Unterschrift des polizeilichen Sachbearbeiters aber am 21. April 2021 zu den Ermittlungsakten gelangte und seinem Wortlaut nach unbeschränkt ist. Damit widersprechen sich die beiden durch den Zeugen POM B jeweils form- und fristgerecht gestellten Strafanträge untereinander, so dass sich eine Beschränkung der gewünschten Strafverfolgung auf das Delikt der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes dem Antrag jedenfalls nicht zweifelsfrei entnehmen lässt. Die bloße Hervorhebung einzelner tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte stellt noch keine Antragsbeschränkung dar (vgl. LK-StGB/Greger/Weingarten aaO). Ist eine Beschränkung – wie hier – nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht, ist der Strafantrag als unbeschränkter zu behandeln (vgl. BGHSt aaO; MüKoStGB-Mitsch aaO mwN).

4. Nach dem Vorstehenden ist die Berufungskammer hinsichtlich der Tat vom 30. März 2021 zu Unrecht vom Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung im Hinblick auf über § 201 StGB hinausgehende Straftatbestände ausgegangen und hat folgerichtig lediglich Feststellungen zum (objektiven) Tatbestand des § 201 Abs. 1 StGB getroffen. Das angefochtene Urteil entspricht daher insoweit nicht den sich aus § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO ergebenden Anforderungen an die Begründungspflicht bei freisprechenden Urteilen. …… „

StPO I: Einspruchsbeschränkung beim Strafbefehl, oder: Ausreichende Feststellungen getroffen?

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Es ist Ostermontag, hier geht es aber heute normal weitern. Feiern war gestern. Ich stelle dann zwei StPO-Entscheidungen vor.

Ich beginne hier mit einer Entscheidun aus dem Strafbefehlsverfahren, und zwar mit dem KG, Beschl. v. 31.01.2024 – 1 ORs 1/24 – 161 Ss 3/24 – zur Frage der ausreichenden Feststellungen in einem Strafbefehl im Hinblick auf die Wirksamkeit einer Einspruchbeschränkung. Dazu führt das KG da aus, was auch für eine Berufungsbeschränkung gilt: nämlich:

„a) Entgegen der Revisionsbegründung ist das Landgericht zu Recht von einer wirksamen Beschränkung des Einspruchs auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen. Die Wirksamkeit der Beschränkung hat das Rechtsmittelgericht, ungeachtet dessen, in welchem Verfahrensstadium diese vorgenommen worden ist, wegen der damit verbundenen Frage der (Teil-)Rechtskraft der Entscheidung stets vom Amts wegen zu prüfen. Dabei steht nicht jeder Fehler im nicht angefochtenen Teil der Entscheidung der Wirksamkeit der Beschränkung entgegen. Vielmehr hat das Rechtsmittelgericht im. Fall eines auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsmittels die Prüfung der Rechtsfolgenentscheidung grundsätzlich auf der Basis des Schuldspruchs des angefochtenen Urteils vorzunehmen, auch wenn dieser auf einer rechtsfehlerhaften Subsumtion und damit unzutreffenden rechtlichen Einordnung des Tatgeschehens beruht (vgl. BGH NStZ-RR 2022, 290; Schmitt in; Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl. 2023, § 318 Rn 17a; jew. m.w.N.). Erst wenn die dem Schuldspruch im angefochtenen Urteil zugrundeliegenden Feststellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder so dürftig sind; dass sich Art und Umfang der Schuld nicht in dem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maß bestimmen lassen oder unklar bleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat, ist die Beschränkung unwirksam (vgl. BGH NStZ 2018, 367 m.w.N.).

Art und Umfang der Schuld des Angeklagten sind in dem Strafbefehl in einem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maß bestimmt.“

Außerdem hat das KG dann u.a. noch zu den erfoderlichen Feststellungen bei der gefährlichen Körperverletzung Stellung genommen, und meint zum „gefährlichen Werkzeug“

Zu der Frage der Geeignetheit eines Gegenstandes zur Verletzung von Menschen, müssen nicht ausdrücklich zur Beschaffenheit usw. Feststellungen getroffen werden, wenn sich die Geeignetjeit bereits aus der hier festgestellten Art der konkreten Verwendung ergibt.

 

StPO II: Wiederaufnahme wegen weiterem SV, oder: Vorlage des neuen SV-Gutachtens erforderlich

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Und als zweite Entscheidung dann der KG, Beschl. v. 06.10.2023 – 2 Ws 79/23. Er behandelt einen Bereich, zu dem ich bislang noch nicht viel Entscheidungen vorgestellt habe. Es geht nämlich um ein Wiederaufnahmeverfahren.

Das LG hat den Verurteilten am 01.10.2021 iwegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen vorsätzlichen unerlaubten Besitzes eines Dopingmittels in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und einem Monat verurteilt. Zudem hat das LG gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 8.000,- EUR angeordnet. Wegen der Feststellungen des LG verweise ich auf den Volltext.

Am 30.03.2023 hat der Verurteilte die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 359 Nr. 5 StPO  beantragt, weil anhand eines neuen Beweismittels, nämlich eines weiteren Sachverständigen, eine neue Tatsache dargelegt werde, die dazu führe, dass nicht das BtMGetäubungsmittelgesetz, sondern das Grundstoffüberwachungsgesetz Anwendung finden würde. Dies müsse zu einer milderen Bestrafung des Verurteilten führen.

Das LG hat den Antrag abgelehnt. Dagegen dann die sofortige Beschwerde, die keinen Erfolg hatte. Hier dann nur der Leitsatz der Entscheidung:

Um prüfen zu können, ob ein im Wiederaufnahmeverfahren benannter neuer Sachverständige sein Gutachten aufgrund anderer Anknüpfungstatsachen erstatten wird und er überlegene Forschungsmittel verwendet ist schon im Wiederaufnahmeverfahren die Vorlage des neuen Gutachtens notwendig. Allerdings ist berücksichtigen sein, dass leicht behebbare Mängel eines Wiederaufnahmeantrags nicht ohne vorherige Gelegenheit zur Nachbesserung zu der Verwerfung eines Antrags als unzulässig führen.

Berufung III: Wann gibt es die Annahmeberufung?, oder: Auch bei Absehen von Strafe?

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Und dann noch die dritte Berufungsentscheidung, und zwar der KG, Beschl. v. 29.02.2024 – 4 Ws 7/24 – 161 AR 6/24, zur Frage, ob es auch bei Absehen von Strafe eine Annahmeberufung gibt.

Das AG die Angeklagte des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen für schuldig befunden und gemäß § 86a Abs. 3 StGB in Verbindung mit § 86 Abs. 5 StGB wegen geringer Schuld von einer Bestrafung abgesehen. Die gegen diese Entscheidung von der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufungen hat das LG nach § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig verworfen. Zwar erwähne § 313 Abs. 1 StPO das Absehen von Strafe nicht. Im Wege eines Erst-Recht-Schlusses müsse die Norm aber auch dann Anwendung finden, wenn – wie hier – wegen geringerer Schuld eine Rechtsfolge verhängt worden sei, deren Schwere hinter dem Gewicht der in § 313 Abs. 1 StPO aufgeführten Rechtsfolgen zurückbleibe; denn die Vorschrift diene gerade dem Zweck, die Berufungsgerichte zu entlasten, indem Fälle der Bagatellkriminalität nur unter bestimmten Voraussetzungen in die Berufungsinstanz gelangen könnten.

Dagegen die sofortige Beschwerde der Angeklagten, die Erfolg hatte:

„3. Auch in der Sache hat die sofortige Beschwerde Erfolg. Der Senat teilt nicht die von der Vorsitzenden der Strafkammer vertretene Rechtsauffassung, dass die Berufung in analoger Anwendung des § 313 Abs. 1 Satz 1 StPO der Annahme bedürfe.

a) Hat das Amtsgericht von Strafe abgesehen, gilt § 313 Abs. 1 Satz 1 StPO nach seinem Wortlaut nicht. Zu der Frage, ob in diesem Fall eine analoge Anwendung der Vorschrift in Betracht kommt, werden verschiedene Ansichten vertreten.

Ein Teil der Literatur lehnt eine analoge Anwendung unter Hinweis auf das Gebot der Rechtsmittelklarheit generell ab (vgl. Eschelbach in Graf, StPO 4. Aufl., § 313 Rn. 7; Reichenbach in Gercke/Temming/Zöller, StPO 7. Aufl., § 313 Rn. 6; Quentin in Münchener Kommentar, StPO 2. Aufl., § 313 Rn. 6; Gössel aaO, § 313 Rn. 29).

Die Gegenmeinung, der sich das Landgericht angeschlossen hat, wählt einen differenzierten Ansatz. Sie unterscheidet danach, ob das Absehen von Strafe – wie vorliegend – auf der geringen Schuld des Täters beruht oder – wie etwa bei § 60 StGB – auf anderen Erwägungen, und erachtet im ersteren Fall eine analoge Anwendung aufgrund eines Erst-Recht-Schlusses für geboten (vgl. OLG Stuttgart, aaO Rn. 8 [zu § 113 Abs. 4 Satz 1 StGB]; LG Hamburg, Beschluss vom 11. Mai 2007 – 711 Ns 27/07 –, juris Rn. 5 ff. [zu § 29 Abs. 5 BtmG]; LG Bad Kreuznach, NStZ-RR 2002, 217 [zu § 158 Abs. 1 StGB]; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 313 Rn. 3a; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl., § 313 Rn. 2a; Halbritter in Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl., § 313 Rn. 2; Beukelmann in Radtke/Hohmann, StPO, § 313 Rn. 2; Frisch in SK-StPO, 6. Aufl., § 313 Rn. 6a).

b) Der Senat folgt der erstgenannten Ansicht, nach der eine analoge Anwendung des § 313 Abs. 1 StPO nicht möglich ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt das Gebot der Rechtsmittelklarheit, dass Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürgerinnen und Bürger erkennbar sind. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02 –, juris Rn. 68 und Nichtannahmebeschluss vom 16. Januar 2017 – 1 BvR 2803/06 –, juris Rn. 5). Das Bundesverfassungsgericht folgert daraus einerseits, dass die Nichtanerkennung außerordentlicher Rechtsbehelfe weder willkürlich noch geeignet sei, die betroffene Person in ihrem Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz zu verletzen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 16. Januar 2017 – 1 BvR 2803/06 –, juris Rn. 5), sowie andererseits, dass die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht von der vorherigen Erhebung außerordentlicher Rechtsbehelfe abhängig gemacht werden dürfe (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02 –, juris Rn. 71). Zur Analogiefähigkeit fachgerichtlicher Rechtschutzbestimmungen wird ein differenzierter Ansatz vertreten. Während jedenfalls hergebrachte, im Wege der Analogie geschaffene Rechtsmittel auch nach der Entscheidung zum Gebot der Rechtsmittelklarheit ohne Weiteres als Teil des zu erschöpfenden Rechtswegs angesehen werden (vgl. etwa BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 14. November 2023 – 1 BvR 1498/23 –, juris Rn. 9 [zum Antrag auf gerichtliche Entscheidung analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO]), ist die noch nicht etablierte analoge Anwendung fachgerichtlicher Rechtschutzbestimmungen als mit dem Gebot der Rechtsmittelklarheit unvereinbar angesehen worden (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. August 2008 – 2 BvR 460/08 –, juris Rn. 9 [zur analogen Anwendung des § 33a StPO im Verfahren nach dem RUAStrGHG]).

Die Rechtsansicht, nach der § 313 Abs. 1 StPO im Fall des Absehens von Strafe analoge Anwendung finden soll, erscheint danach verfassungsrechtlich problematisch. Da eine gefestigte Rechtsprechung zur analogen Anwendbarkeit des § 313 Abs. 1 StPO im Fall des Absehens von Strafe nicht existiert, dürfte dessen analoger Heranziehung bereits das Gebot der Rechtsmittelklarheit entgegenstehen. Dies gilt umso mehr, als gerade bei rechtswegbeschränkenden Vorschriften besonders strenge Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit zu stellen sein dürften (pauschal gegen eine Analogiefähigkeit rechtswegbeschränkender Normen: OLG Koblenz, Beschluss vom 9. Mai 2006 – 12 W 254/06 –, juris Rn. 8; Singer, Rechtsklarheit und Dritte Gewalt, Seite 294; a. A.: BGH, Beschluss vom 29. Mai 2006 – II ZB 5/06 –, juris Rn. 16 ff.).

Letztlich kann die vorgenannte Frage aber offenbleiben, denn eine analoge Anwendung des § 313 Abs. 1 StPO auf die Konstellation des Absehens von Strafe kommt jedenfalls deshalb nicht in Betracht, weil die Voraussetzungen einer Analogie nicht vorliegen. Es lässt sich nicht mit der Eindeutigkeit, die angesichts der Natur des § 313 Abs. 1 StPO als rechtswegbeschränkende Ausnahmevorschrift zu verlangen ist, feststellen, dass der Gesetzgeber die – bei Erlass des § 313 Abs. 1 StPO bereits existierenden – Vorschriften zum Absehen von Strafe lediglich versehentlich nicht in den Gesetzestext aufgenommen hätte und insoweit mithin von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen wäre.

Das Anliegen des Gesetzgebers, durch § 313 Abs. 1 StPO den Rechtsweg in Fällen „kleinerer Kriminalität“ und bei „Straftaten geringer Schwere, die häufig vorkommen“ (vgl. BR-Drs. 12/1217, Seite 39), zu beschränken, wurde flankiert von dem Bestreben, eine einfache, Zweifelsfragen nicht erlaubende Norm zu schaffen. Dem Gesetzgeber war bewusst, dass die von ihm gewählte Regelung nicht jeden Fall der Bagatellkriminalität erfassen und nicht frei von Wertungswidersprüchen sein würde. Er nahm dies „im Interesse der größtmöglichen Vereinfachung“ in Kauf (vgl. BR-Drs. 12/1217, Seite 39 f.: „Sind in dem Urteil für die Tat neben der Geldstrafe noch andere Rechtsfolgen, etwa Fahrverbot, Entzug der Fahrerlaubnis, Verfall, Einziehung usw. festgesetzt, so ist die Regelung […] nicht anwendbar; der Entwurf hat insoweit einer einfachen Abgrenzung den Vorzug gegeben. […] [Der Entwurf] stellt bei der Prüfung der Frage, ob die Berufung der Zulassung bedarf, im Interesse der größtmöglichen Vereinfachung auch ausschließlich auf das angefochtene Urteil ab. Beschränkungen der Berufung bleiben außer Betracht. […] Auch sie [die Geldbuße] führt, wenn sie zu einer Geldstrafe hinzutritt, zur Unanwendbarkeit des § 313. Auch insoweit hat der Entwurf einer raschen Klärung der Frage, ob die Berufung zulassungsbedürftig ist, den Vorzug vor einer Regelung gegeben, die eine Vielzahl von Fallgestaltungen hätte auffangen müssen und gleich in welcher Gestalt, zahlreiche Zweifelsfragen aufgeworfen hätte.“).

Eine Festlegung dahingehend, dass einzelne Bereiche der Bagatellkriminalität bewusst, andere hingegen nur versehentlich nicht geregelt wurden, erscheint vor dem Hintergrund einer explizit unvollständigen Regelung bereits im Ansatz problematisch und kann jedenfalls für die Rechtsfolge des Absehens von Strafe nicht erfolgen. Letztere ist für eine Vielzahl von Konstellationen vorgesehen und beruht auf vielgestaltigen kriminologischen Erwägungen. Neben den im allgemeinen Teil verorteten Vorschriften der §§ 23 Abs. 3, 46a Abs. 1, 46b Abs. 1 und 60 StGB finden sich in den §§ 86 Abs. 5, 86a Abs. 3, 113 Abs. 4, 157, 158 Abs. 1, 174 Abs. 1, 182 Abs. 6, 306e Abs. 1, 314a Abs. 2 StGB sowie in § 29 Abs. 5 BtmG auch tatbestandsakzessorische Regelungen. Dabei erfassen neben der Konstellation des § 60 StGB, auf die § 313 Abs. 1 StPO unstreitig keine Anwendung findet, auch zahlreiche weitere Fallgestaltungen Straftaten, die nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres dem Bereich der „kleineren Kriminalität“ zuzuordnen sind; so etwa § 46a StGB (Absehen von Strafe bei ansonsten verwirkter Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen), § 46b StGB (Absehen von Strafe bei ansonsten verwirkter Freiheitsstrafe von nicht mehr als drei Jahren) sowie die §§ 158 Abs. 1, 306e Abs. 1 und § 314a Abs. 2 StGB, die im Fall tätiger Reue auch bei Verbrechenstatbeständen ein Absehen von Strafe erlauben. Bei Beibehaltung der Grundkonzeption des § 313 Abs. 1 StPO wären demnach allenfalls einzelne, im Gesetzestext ausdrücklich anzuführende Anwendungsfälle des Absehens von Strafe für eine Einbeziehung in den Regelungsbereich des § 313 Abs. 1 StPO in Betracht gekommen. Die Benennung der entsprechenden Normen hätte zu einer fragmentierten Lösung geführt, die der Gesetzgeber aber gerade vermeiden wollte. Ebenso wie einem Versehen kann ihr Unterlassen daher einer bewussten gesetzgeberischen Entscheidung geschuldet sein und eine planwidrige Regelungslücke mithin nicht mit der erforderlichen Klarheit festgestellt werden.“

StGB II: Ist erzwungener Oralverkehr Vergewaltigung?, oder: Entgegenstehenden Willen eindeutig geäußert?

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, behandelt eine Frage in Zusammenhang mit dem Vergewaltigungstatbestand (§ 177 StGB). Ich hatte die Entscheidung, den KG, Beschl. v. 27.12.2023 – 4 ORs 72/23 – 161 Ss 133/23 -, schon einmal vorgestellt, und zwar wegen der Ausführungen des KG zur Einheitsjugendstrafe (vgl. Strafe II: Zwei Entscheidungen aus dem Jugendrecht, oder: Schwere der Schuld und Einheitsjugendstrafe). 

Heute kommt der Beschluss also noch einmal, und zwar wegen der Ausführungen des KG zum materiellen Recht, nämlich zur Frage des Vorliegens einer Vergewaltigung. Konkret geht es darum, ob auch ein Oralverkehr des Opfers an dem Täter unter § 177 Abs. 1 Var. 2 StGB fallen kann. Das KG hat die Frage bejaht und sich eingehend mit der Porblematik auseinandergesetzt. Die Verteidigung war insoweit der Auffassung gewesen, ein Oralverkehr des Opfers an dem Täter könne nicht unter § 177 Abs. 1 Var. 2 StGB fallen, da der Oralverkehr dessen aktives Handeln erfordere und damit stets dem natürlichen Willen des Opfers entspreche,

Dem hat sich das KG nicht angeschlossen. Ich stelle hier nur den Leitsatz des KG ein/vor. Den Rest bitte im verlinkten Volltext selbst lesen:

Auch ein Oralverkehr des Opfers an dem Täter kann unter § 177 Abs. 1 Var. 2 StGB fallen. Es genügt für die Verwirklichung des § 177 Abs. 1 Var. 2 StGB, dass eine vor der Tathandlung zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des Opfers so nachhaltig ist, dass sie die Kraft hat, den durch die Vornahme der sexuellen Handlung entstehenden Eindruck der „Freiwilligkeit“ zu überwinden. Die Beweiswürdigung hat sich in diesen Fällen besonders sorgfältig mit dem gewichtigen Umstand auseinanderzusetzen.