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Wenn man müssen muss, oder: Harndrang versus Fahrverbot

Ich eröffne die 45 KW. dann mit der Harndrang-Entscheidung des OLG, die schon in einigen Blogs gelaufen ist und – was klar ist – noch in weiteren laufen wird. Es geht um das Absehen vom Fahrverbot nach einem Geschwindigkeitsverstoß. Der Betroffene – ein Rechtsanwalt – hatte gegenüber dem Fahverbot geltend gemacht – so die Ausführungen des OLG:

„Das Amtsgericht hat unter Zugrundelegung der unwiderlegt hingenommenen Angaben des als Rechtsanwalt tätigen Betroffenen, er verfüge nach einer Prostataoperation nur noch über eine eingeschränkte Kontinenz und habe während der tatgegenständlichen Fahrt von Q zu einem Termin nach L starken, schmerzhaften Harndrang verspürt, so dass er nur noch darauf fokussiert gewesen sei, „rechts ran fahren“ zu können, wobei er eine entsprechende Gelegenheit zum Anhalten auf der Bundesstraße wegen dichten Verkehrs nicht gefunden habe, eine Notstandslage verneint. Im Rahmen der Begründung zum Fahrverbot führt das Amtsgericht aus, dass der Betroffene Tatsachen, welche die Indizwirkung des § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV widerlegen könnten nicht vorgetragen hätte und auch sonstige Umstände, die ausnahmsweise ein Absehen vom Fahrverbot gem. § 4 Abs. 4 BKatV rechtfertigen könnten, weder dargelegt noch sonst ersichtlich seien.

Das OLG Hamm sieht im OLG Hamm, Beschl. v. 10.10.2017 – 4 RBs 326/17 – einen Erörterungsmangel:

„Die Begründung im angefochtenen Urteil zum Rechtsfolgenausspruch weist einen durchgreifenden Erörterungsmangel zu Lasten des Betroffenen auf. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein sehr starker Drang zur Verrichtung der Notdurft, der durch die besondere körperliche Disposition des Betroffenen bedingt ist (etwa: Krankheit, Gebrechen oder Schwangerschaft) und der ursächlich für die Geschwindigkeitsüberschreitung war (in dem Sinne, dass so versucht wurde, baldmöglichst eine Toilette aufsuchen zu können oder der Betroffene abgelenkt war), ein Grund sein kann, vom Regelfahrverbot abzusehen (vgl. OLG Saarbrücken NStZ-RR 1997, 379; AG Bad Segeberg, Urt. v. 04.05.2012 -5 OWi 552 Js 43380/11 (181/11) – juris). Dies ist aber keineswegs der Normalfall. Der bloße Umstand einer bestimmten körperlichen Disposition reicht hier noch nicht, da ansonsten der hiervon betroffene Personenkreis gleichsam einen „Freibrief“ für pflichtwidriges Verhalten im Straßenverkehr erhalten würde. Grundsätzlich muss der Betroffene mit einer solchen körperlichen Disposition seine Fahrt entsprechend planen, gewisse Unwägbarkeiten (wie etwa Stau, Umleitungen etc.) in seine Planungen einstellen und entsprechende Vorkehrungen treffen oder ggf. auf anfänglich auftretenden Harm- oder Stuhldrang rechtzeitig reagieren, damit ihn ein starker Drang zur Verrichtung der Notdurft nicht zu pflichtwidrigem Verhalten verleitet (vgl. etwa: AG Lüdinghausen NZV 2014, 481). Die Formulierungen im angefochtenen Urteil, dass Umstände, „die ein Absehen vom Fahrverbot gem. § 4 Abs. 4 BKatV hätten rechtfertigen können“, „weder dargelegt noch sonst ersichtlich“ seien, obwohl sie doch nach den Urteilsfeststellungen zumindest im Ansatz vorgetragen worden waren, lassen allerdings besorgen, dass der Tatrichter sie insoweit, d.h. bei der Rechtsfolgenbemessung, überhaupt nicht in seine Erwägungen mit einbezogen hat.

Der Senat kann letztlich nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen, dass der Tatrichter bei Berücksichtigung der genannten Umstände bei der Rechtsfolgenbemessung zu einer dem Betroffenen günstigeren Entscheidung gekommen wäre.

Der neue Tatrichter wird im Rahmen seiner Abwägung u.a. zu berücksichtigen haben, wie lange der Harndrang den Betroffenen schon „quälte“, ob der Betroffene in Kenntnis der bevorstehenden Fahrt und Unwägbarkeiten, mit denen immer zu rechnen ist (wie etwa Stau oder Umleitungen), etwa größere Mengen Flüssigkeit zu sich genommen hat (ggf. kann hier der Vortrag aus der Rechtsbeschwerdebegründungsschrift zu weiterer Aufklärung beitragen), inwieweit ein Anhalten am Fahrbahnrand zur Verrichtung der Notdurft eine Gefährdung des Betroffenen durch den Verkehr auf der Bundesstraße bedeutet hätte (vgl. insoweit: OLG Düsseldorf NZV 2008, 470, 471), ob ein Abfahren von der Bundesstraße ab dem Zeitpunkt des Auftretens des Harndrangs auf eine Nebenstraße zur Verrichtung der Notdurft möglich gewesen wäre, aber auch den Umstand, dass der Betroffene den neuen Verstoß nur rund drei Monate nach Ahndung des vorherigen Geschwindigkeitsverstoßes begangen hat. Weiter wird auch zu prüfen sein, ob das Auftreten von sehr dringendem Harndrang eine Situation ist, in welche der Betroffene häufiger kommt. Dann müsste er sich hierauf entsprechend einstellen und es würde das Maß seiner Pflichtwidrigkeit geradezu erhöhen, wenn er dann gleichwohl ein KFZ führt, obwohl er – wie er selbst angegeben hat – wegen des quälenden Harndrangs so „abgelenkt“ gewesen war, dass er der zulässigen Höchstgeschwindigkeit keine Beachtung mehr schenken konnte. Auch wird die in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht aufgrund der Einlassung des Betroffenen zu Tage getretenen Einstellung, dass wenn ihn starker Harndrang quäle, dann „Wichtigeres im Vordergrund“ stehe (als offenbar die Einhaltung von Pflichten im Straßenverkehr) zu werten sein.“

Also: Zweiter Durchgang. Mal sehen, wie das AG nun mit dem „Müssen müssen“ umgeht und ob wir von der Sache noch einmal etwas lesen.