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U-Haft I: Beschleunigungsgrundsatz nach Urteil, oder: Fehler bei der Protokollerstellung

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Heute dann der zweite „Hafttag“ in 2023, also noch einmal drei Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Bremen, Beschl. v. 20.10.2022 – 1 Ws 107/22. Das OLG hat Stellung genommen zur Untersuchungshaftfragen, insbesondere zum Beschleunigungsgrundsatz bei verzögerter Urteilszustellung wegen fehlender Protokollfertigstellung.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 10.12.2020 in Haft wegen der Vorwurfs eines BtM-Delikts. Nach Beginn der Hauptverhandlung am 28.05.2021 hat das LG Bremen den Angeklagten nach 33 Hauptverhandlungstagen am 11.02.2022 unter Teilfreispruch im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 7 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Maschinenpistole) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten verurteilt und die Einziehung eines Betrages in Höhe von 949.476,- EUR angeordnet. Der weitere Vollzug der U-Haft wurde angeordnet.

Der Angeklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Am 09.05.2022 hat die Vorsitzende der Strafkammer die Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe, die am 27.04.2022 zur Geschäftsstelle gelangt sind, verfügt. Durch weitere Verfügung der Vorsitzenden vom 20.06.2022 wurde die Übersendung der Akten gemäß § 347 Abs. 1 StPO an die Staatsanwaltschaft veranlasst. Dort wurde ausweislich einer Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 11.07.2022 festgestellt, dass die Teilprotokolle vom 20. und 29. Hauptverhandlungstag jeweils nicht von der eingesetzten Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet worden waren. Nachdem die fehlenden Unterschriften noch am 11.07.2022 nachgeholt worden waren, verfügte die Vorsitzende unter dem 14.07.2022 erneut die Zustellung des Urteils. Die Verfügung wurde am 20.07.2022 ausgeführt. Rechtsanwalt D. verweigerte seine Mitwirkung bei der Zustellung, indem er das Empfangsbekenntnis nicht abgab, was er damit begründete, dass das per EGVP an ihn übersendete Schriftstück, welches u.a. die Angabe „2. Schreiben 20.07.2022 Urteil A.“ enthalten hatte, nicht eindeutig identifizierbar bezeichnet worden sei. Nachdem die Akten der Vorsitzenden am 05.08.2022 erneut vorgelegt worden waren, verfügte sie noch am selben Tag abermals die Urteilszustellung an Rechtsanwalt D., die ausweislich des durch den Verteidiger nunmehr abgegebenen Empfangsbekenntnisses sodann am 08.08.2022 erfolgte.

Bereits mit Datum vom 17.06.2022 hatte Rechtsanwalt D. die für den Angeklagten eingelegte Revision mit einem insgesamt 2.877 Seiten umfassenden Schriftsatz begründet, die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt sowie die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer beantragt. Mit Schriftsatz vom 16.08.2022 erklärte der Verteidiger, dass davon abgesehen werde, die Revisionsbegründungsschrift vom 17.06.2022 auf die erneute Urteilszustellung hin abermals zu übersenden; sie solle vielmehr „uneingeschränkt fortgelten“.

Mit weiterem Schriftsatz seines Verteidigers Rechtsanwalt D. ebenfalls vom 16.08.2022 wendete sich der Angeklagte gegen den Haftfortdauerbeschluss der Kammer vom 11.02.2022 und beantragte, den Haftbefehl wegen einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes aufzuheben. Das hat die Kammer abgelehnt. Dagegen dann die Beschwerde zum OLG, die keinen Erfolg hatte. Das OLG hat seine Entscheidung umfassend begründet. Das hier im Einzelnen einzustellen, würde den Rahmen sprengen. Ich beschränke mich also auf die Leitsätze, die lauten:

1. Das Ergehen auch einer noch nicht rechtskräftigen tatrichterlichen Verurteilung begründet ein Indiz für das Bestehen eines dringenden Tatverdachts auch für das Beschwerdegericht im Haftbeschwerdeverfahren.

2. Das Beschleunigungsverbot verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils, es vergrößert sich aber mit dieser Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist.

3. Eine von der Justiz zu vertretende Verzögerung des Verfahrens kann dadurch kompensiert werden, dass derselbe Umstand zugleich dafür ursächlich geworden ist, dass weitere Verfahrensschritte früher abgeschlossen werden konnten, als dies im Übrigen der Fall gewesen wäre. So kann, wenn wegen zunächst fehlender Protokollfertigstellung die Übersendung eines schriftlichen Urteils zu wiederholen ist und dadurch der Lauf der Revisionsbegründungsfrist erst verzögert in Gang gesetzt wurde, die Verzögerung dadurch teilweise kompensiert werden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Revisionsgegenerklärung bereits auf die nach der ersten, letztlich nicht wirksam erfolgten Urteilszustellung erstellte Revisionsbegründungsschrift hin erstellt.

4. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse ist auch zu würdigen, ob eine Verfahrensverzögerung auf ein allgemeines Organisationsdefizit der Justiz bzw. auf eine entsprechende Absicht zurückzuführen ist, oder ob sich um ein bloßes Versehen im Einzelfall gehandelt hat. Ungeachtet der hohen Sorgfaltsanforderungen an die Strafjustiz, die in besonderer Weise bei der Bearbeitung von Haftsachen gelten, ist eine Fehlerfreiheit nicht erreichbar.

Rest dann bitte im verlinkten Volltext lesen.

U-Haft II: „Totschlagsargument „Corona-Virus“,, oder: „…. in den Bereich der Geschmacklosigkeit“

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Die zweite Haftentscheidung des Tages kommt vom OLG Jena. Das hat im OLG Jena, Beschl. v. 30.04.2020 – 1 Ws 146/20 – zu der zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht abschließend geklärten Frage der Haftfortdauer in Coronazeiten Stellung genommen.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 03.04.2019 in Untersuchungshaft. Das AG hat ihn mit Urteil vom 02.10.2019 der Vergewaltigung und der sexuellen Belästigung schuldig gesprochen und ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 7 Monaten verurteilt. Dagegen die Berufungen des Angeklagten und der StA. Mit Verfügung vom 10.02.2020 bestimmte der Vorsitzende der Berufungskammer des LG Erfurt Beginn der Berufungshauptverhandlung auf den 26.03.2020 und Termine zur Fortsetzung auf den 27. und 30.03. sowie den 20., 23. und 24.04.2020. Mit Beschluss vom 18.03.2020 hob der Vorsitzende alle Termine ab dem 26.03.2020 auf und kündigte an, dass neuer Termin von Amts wegen ergehe. Zur Begründung ist ausgeführt, dass we­gen der Corona-Pandemie aus Schutzgründen nicht verhandelt werde.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers/seiner Verteidiger hat der Angeklagte Antrag auf mündliche Haftprüfung, Aufhebung des Haftbefehls und hilfsweise Gewährung von Haftverschonung beantragt. Das LG hat die Anträge zurückgewie­sen, Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet und hinsichtlich des weiteren Verfahrensgangs u. a. darauf hingewiesen, dass davon ausgegangen werde, dass die Berufungshauptverhandlung noch vor dem Sommer 2020 stattfinden könne. Dagegen die weitere Haftbeschwerde des Angeklagten.

Die hatte beim OLG keinen Erfolg. Zum mit der Beschwerde offenbar auch angegriffenen dringenden Tatverdacht weist das OLG darauf hin, dass die Bewertung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender bzw. – wie hier – aufgrund bereits (durch Urteil) abgeschlossener Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Überprüfung durch das Beschwerdegericht unterliegt, was ständige Rechtsprechung ist.  Nach durch Urteil abgeschlossener Hauptverhandlung komme eine Aufhebung des Haftbefehls durch das Beschwerdegericht nur ganz ausnahmsweise bei offenkundiger Begründetheit des Rechtsmittels in Betracht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 117 Rn. 11b). Das hat das OLG hier verneint.

Und zum Beschleunigungsgrundsatz – insoweit spielt dann „Corona“ eine Rolle:

„4. Der Fortdauer der Untersuchungshaft steht bislang auch nicht die mit der Beschwerde gerügte Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen entgegen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014, Az. 2 BvR 2248/13, 2 BvR 2301/13, bei juris) setzt das verfassungsrechtliche Erfordernis der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs der Dauer der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung in dem zu sichernden Verfahren eine weitere Grenze, die mit dem verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerten Beschleunigungsgrundsatz in Zusammenhang steht (vgl. BVerfGE 20, 45, 49; 53, 152, 158).

Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermitt­lungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines ge­ordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungs­haft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht ge­rechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (BVerfG, a. a. O.; Senat, Beschluss vom 23.01.2019, 1 Ws 13/19, Rn. 17 juris).

Gemessen daran ist der bisherige Verfahrensgang nicht zu beanstanden. Insbesondere ist nach der – mittlerweile ständigen – Senatsrechtsprechung nichts gegen den mit der Beschwerde pri­mär angegriffenen Beschluss des Landgerichts Erfurt vom 18.03.2020 zu erinnern, mit dem die in den Monaten März und April 2020 zunächst vorgesehenen Verhandlungstermine wieder aufge­hoben wurden. Denn diesem Aufschub der Hauptverhandlung liegt mit den zum betreffenden Zeitpunkt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen dringend gebotenen und nicht nur bundes-, sondern weltweit ergriffenen pandemiebedingten Gefahrenabwehrmaßnahmen im Gesundheits­sektor zum Schutz der Gesamtbevölkerung (COVID-19) ein nachvollziehbarer und wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO zu Grunde (vgl. u. a. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30.03.2020, HEs 1 Ws 84/20, juris), der eine Verletzung des Beschleunigungsgebots aus­schließt.

Hierzu hat der Senat in jüngster Vergangenheit – u. a. mit Blick auf die Rechtsprechung des Bun­desverfassungsgerichts zur Rechtfertigung der Haftfortdauer bei Verfahrensverzögerungen durch unvorhersehbare, schicksalhafte Ereignisse (vgl. etwa BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01. 2019, 2 BvR 2429/18, juris) – bereits mehrfach entschieden, dass eine aus der pan­demiebedingten Verschiebung von Hauptverhandlungen resultierende Verlängerung der Untersu­chungshaft, die auf ein außerhalb der Sphäre der Justiz liegendes schicksalhaftes Ereignis zu­rückgeht, von den Betroffenen in gewissen Grenzen hinzunehmen ist (u. a. Beschl. v. 20.03.2020, Az. 1 Ws 77/20, u. v. 08.04.2020, 1 Ws 109/20). Dies gilt auch für den vorliegenden Fall, zumal die Hauptverhandlung nach derzeitiger – nicht zu beanstandender – Planung der Straf­kammer jedenfalls zeitnah „noch vor dem Sommer“, mithin spätestens Juni 2020 beginnen soll.

Unangebracht erscheint in diesem Kontext der Vorwurf des Verteidigers PP2, dass die Berufungs­kammer seit über einem Monat „im Stillstand“ verharre, da bekanntermaßen erst mit der Dritten Thüringer Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Co­ronavirus SARS-CoV-2 (3. ThürSARS-CoV-2 EindmaßnVO) vom 18.04.2020 die Beschränkun­gen des öffentlichen Lebens teilweise zurückgenommenen wurden, ohne dass im Zeitpunkt des Inkrafttretens am 20.04.2020 absehbar war, wie sich die Lockerungen auf die erst zwei Wochen später seriös bewertbare Entwicklung der Infektionszahlen auswirkt.

Die darüber hinaus im Schriftsatz vom 20.04.2020 gewählte Formulierung „Totschlagsargument „Corona-Virus’“, mit der eine vermeintlich unnötige Verzögerung zu Lasten des „bereits seit über 13 Monaten in Untersuchungshaft“ befindlichen Angeklagten angeprangert werden soll, gerät an­gesichts der in zahllosen amtlichen Erklärungen und zuverlässigen Medien hinlänglich erläuterten Problemstellung der unbedingten Vermeidung einer drohenden – und in einigen Staaten mit einer Vielzahl von Todesfällen leidvoll erfahrenen – Überforderung des Gesundheitssystems bereits in den Bereich der Geschmacklosigkeit.

Soweit in diesem Zusammenhang betont wird, dass die Untersuchungshaft des Angeklagten be­reits mehr als 1 Jahr andauert, führt dies ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung, zumal während dieser Zeit bereits ein Urteil gegen den Angeklagten ergangen ist. Zwar gewinnt im Rahmen der gebotenen Abwägung des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates ersterer mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft an Gewicht. Allerdings vergrößert sich mit einer gerichtlichen Verurteilung auch das in die Abwä­gung einzustellende Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, weil aufgrund einer durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung eines Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der durch das angegriffene Urteil ausgesprochenen Sanktionen bis zur Überprüfung durch das nächsthöhere Gericht. Sie beseitigt indessen nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Um­stand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29.12.2005, 2 BvR 2057/05, juris).

Ungeachtet dessen weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass es angesichts der nach Maßga­be der 3. ThürSARS-CoV-2 EindmaßnVO vom 18.04.2020 teilweise zurückgenommenen Be­schränkungen, die auch nach Ablauf der Inkubationszeit von ca. 2 Wochen keine Verschärfung erfahren haben, mit Blick auf den Freiheitsanspruch des – zwar immerhin in einem ersten Rechtszug, aber noch nicht rechtskräftig verurteilten – Angeklagten nunmehr geboten erscheint, unter Ausschöpfung der Möglichkeiten des Infektionsschutzes bei richterlichen Amtshandlungen, deren Ausgestaltung nach Art und Weise gem. § 3 Abs. 3 der 3. ThürSARS-CoV-2 EindmaßnVO dem Richter überlassen bleibt, alsbald auf eine zeitnahe Neuterminierung hinzuwirken.“

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass das OLG von der Argumentation betreffend „Corona“ „not amused“ war. Die Formulierungen „unangebracht“ und „in den Bereich der Geschmacklosigkeit“ deuten darauf hin 🙂 . Ist/war ja auch irgendwie zweispältig: Da wurde einerseits beklagt, dass bzw. wenn verhandelt wurde, wenn nicht verhandelt wurde, wurde ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz reklamiert.

U-Haft I: Untersuchungshaft mehr als 1 Jahr, oder: „… Leerläufe sind dem Steuerzahler nicht vermittelbar…“

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Ich eröffne die 24. KW./2020 mit zwei Haftentscheidungen

Den Anfang mache ich mit dem BVerfG, Beschl. v. 01.04.2020 – 2 BvR 225/20, über den auch u.a. schon HRRS berichtet hat. Entschieden hat das BVerfG in einem Verfahren, in dem die Untersuchungshaft bereits über ein Jahr gdauert hat. Das BVerfg geht von folgendem Sachverhalt aus:

„1. Eine Haftfortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn das Gericht eine durch eine Aussetzung der Hauptverhandlung und eine Neuterminierung erst auf einen etwa sieben Monate später liegenden Zeitpunkt bedingte Verzögerung unter Hinweis auf das Verteidigungsverhalten des Angeklagten als gerechtfertigt ansieht, obwohl weder erkennbar ist, weshalb die Strafkammer darauf hätte vertrauen können, der Angeklagte werde ein umfassendees Geständnis ablegen, noch, weshalb sie die Hauptverhandlung nach der nur teilgeständigen Einlassung des Angeklagten sogleich ausgesetzt hat, ohne die erschienenen Zeugen zu vernehmen und ohne sich um weitere Fortsetzungstermine zu bemühen.

2. Eine im Zwischenverfahren in Abwesenheit und ohne Zustimmung des Angeklagten zwischen den Berufsrichtern, dem Staatsanwalt und zwei von drei Verteidigern vereinbarte Verfahrensverständigung entfaltet für den Angeklagten keine Bindungswirkung dahingehend, dass er sich daran festhalten lassen muss, es sei ein umfassendes Geständnis in Aussicht gestellt worden. Dies gilt erst recht, wenn die Verteidiger einen Vorbehalt hinsichtlich des angesprochenen Strafrahmens angemeldet haben, der als Bestandteil einer Verständigung in einer synallagmatischen Verknüpfung mit dem Einlassungsverhalten des Angeklagten steht.

3. Hat der Angeklagte sich bei dem vorgesehenen (Neu-)Beginn der Hauptverhandlung bereits ein Jahr und fünf Monate in Untersuchungshaft befunden, ist dies verfassungsrechtlich nur ausnahmsweise hinnehmbar, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen. Die Terminslage eines Verteidigers – bei der es sich nicht um einen verfahrensimmanenten Umstand handelt – kann dabei allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Die Strafkammer hat gegebenenfalls die Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung in Betracht zu ziehen.

4. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.

5. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse. Damit steigen die Anforderungen sowohl an die Zügigkeit der Bearbeitung der Haftsache als auch an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund. Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein.

6. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um mit der gebotenen Schnelligkeit eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.

7. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.

8. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann die Haftfortdauer niemals rechtfertigen. Dies gilt selbst dann, wenn die Überlastung auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt.

9. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.“

Eien kurze Passage aus dem Beschluss will ich dann aber doch anführen, und zwar:

Corona/Haft I: Haftprüfung beim OLG, oder: Haftfortdauer wegen Corona

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Zum Start in die 18 KW., die erste Woche mit Maskenpflicht, zwei Entscheidungen, die sich mal wieder mit Corona befassen, und zwar in Zusammenhang mit Haftfragen.

Und da weise ich dann zunächst hin auf den OLG Celle, Beschl. v. 06.04.2020 – 2 HEs 5/20, der sich (auch/noch einmal) mit der Frage der Haftfortdauer nach §§ 121 f. stPO befasst. Dazu haben sich ja auch schon einige andere OLG geäußert, worüber ich hier ja auch berichtet habe (ggf. einfach in der Suche „Corona“ eingeben, dann findet man die Entscheidungen).

Vom OLG Celle, Beschluss stelle ich hier nur die (amtlichen) Leitsätze vor, da die Entscheidung auf der Linie der anderen OLG-Entscheidungen zu dem Thema liegt. Die lauten:

1. Der in der Regelung von § 10 EGStPO-n.F. zum Ausdruck gekommene Rechtsgedanke, dass es unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung möglich sein muss, den Lauf der in § 229 Absatz 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen zu hemmen, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem COVID-19-Virus nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate, muss auch bei der Auslegung des § 121 StPO berücksichtigt werden.

2. Dem entscheidenden Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Senat nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu (Anschluss OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30.03.2020 – 2 HEs 1 Ws 84/20-). Dieser Ermessensspielraum verringert sich mit weiterer Fortdauer der Untersuchungshaft.

3. Die Aussetzung einer Hauptverhandlung in einer Haftsache zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus ist dann nicht gerechtfertigt, wenn sie ohne jegliche Begründung ergeht und der erneute Verhandlungsbeginn ungewiss ist (Anschluss OLG Braunschweig, B. v. 25.03.2020, 1 Ws 47/20).

4. Jedenfalls dann, wenn es im Ermittlungsverfahren keine Verzögerungen gegeben hat und der Beginn der verlegten Hauptverhandlung innerhalb von zwei Monaten nach Eingang der Anklageschrift erfolgen soll, ist es zur Begründung der Verlegung nach Maßgabe der obigen Ausführungen zum Ermessensspielraum ausreichend, sich auf die geltende Erlasslage zur Eindämmung der Gefahren der COVID-19-Pandemie zu berufen. Bei längeren Verzögerungen sind hingegen Ausführungen zur Undurchführbarkeit auch bei Ergreifen geeigneter Schutzmaßnahme erforderlich.

Corona II: U-Haft, oder: Sicherungs(pflicht)verteidiger?

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Und auch die zweite „Corona-Entscheidung“ stammt aus dem Bereich der sog. Sechsmonatshaftprüfung. Es handelt sich erneut um einen Beschluss des OLG Stuttgart, nämlich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 – H 4 Ws 72/20.

Er liegt auf der Linie der bisherigen zu den „Corona-Fragen“ bekannt gewordenen Entscheidungen. Daher hier zunächst nur die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellen einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO dar.
  2. Ein solcher wichtiger Grund kann auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.
  3. Dem zur Entscheidung berufenen Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Oberlandesgericht im Haftprüfungsverfahren nach § 121 ff. StPO nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu.
  4. Dabei wird allerdings – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn al-lein das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte.

Zu 1 – 3 ist das – wie gesagt – die bisherige Rechtsprechung. Darüber hinaus geht aber Leitsatz 4, zu dem das OLG ausführt:

„Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 121 Rn. 1 mwN). Falls sich entgegen der Annahme des Vorsitzenden des Schöffengerichts die Gefährdungslage zum 21. April 2020 noch nicht in einem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, werden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein. So wird das Gericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken, wobei eine sachkundige Beratung, bspw. durch das Gesundheitsamt, angezeigt erscheint; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Schmitt aaO, GVG § 169 Rn. 5) kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Sollten die erforderlichen Maßnahmen nicht in dem üblichen Sitzungssaal des Schöffengerichts umsetzbar sein, wird zudem die Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Saal, gegebenenfalls sogar außerhalb des Amtsgerichts, zu erwägen sein. Auch wird – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn allein noch das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte. Jedenfalls sind die Anstrengungen des Gerichts und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1, Abs. 2 StPO sowie den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“