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Abkommen von der Fahrbahn infolge ungeklärter Ursache, oder: Vielleicht doch Sekundenschlaf?

entnommen wikimedia.org
Urheber Ulfbastel

Im „Kessel Buntes“ dann heute zwei Entscheidungen zur Haftung nach Verkehrsunfällen.

Ich beginne mit dem OLG Celle, Urt. v. 01.07.2020 – 14 U 8/20. Es ist um die Haftung nach einem Verkehrsunfall infolge  Abkommen von der Fahrbahn gestritten worden. Die Klägerin und die beklagte Versicherung streiten über die Frage, ob der Unfall auf einem grob fahrlässigen Verhalten des bei der Beklagten beklagten Versicherungsnehmer beruht. Der ist vom AG rechskräftig wegen des Unfalls wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen in Tateinheit mit fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung und mit fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung und zu einem zweimonatigen Fahrverbot verurteilt worden. Das Urteil enthält keine Erklärung zum Grad des Fahrlässigkeitsvorwurfs. Der Beklagte war bei Nebel mit einer Geschwindigkeit von ca. 75 km/h von der gerade verlaufenden Fahrbahn abgekommen, in den Gegenverkehr geraten und dort frontal mit einem ihm entgegenkommenden Sattelzug kollidiert, dessen Fahrer – der Zeuge B. – den Unfall unstreitig nicht hatte vermeiden können.

Die Klägerin hat dem Beklagten vorgeworfen, grob fahrlässig gehandelt zu haben, weil er bei einer Sichtweite von maximal 20 m mit unangemessener, erheblich überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei bzw. sehr wahrscheinlich in einen Sekundenschlaf gefallen sei, wobei er vorherige Anzeichen für seine Übermüdung ignoriert gehabt habe. Der Beklagte hat dies bestritten und sein Verschulden als fahrlässig eingestuft. Die Klägerin habe lediglich Spekulationen im Ermittlungsverfahren aufgegriffen, die nicht bewiesen seien. Er sei es gewohnt gewesen, früh aufzustehen und habe ausreichend lang geschlafen gehabt. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung (Bl. 203R – 204R d. A.).

Das LG hat die Klage abgewiesen. Dagegen die Berufung, die keinen Erfolg hatte. Das OLG führt zum „Sekundenschlaf aus“:

„Der Klägerin ist darin zuzustimmen, dass vorliegend einiges für einen Sekundenschlaf des Beklagten als Unfallursache spricht, weil er nach den glaubhaften Angaben des Zeugen Bi. ohne zu bremsen oder auszuweichen quasi in Zeitlupe in den Gegenverkehr geraten und dort mit dem vom Zeugen B. gesteuerten Sattelzug kollidiert ist. Hiervon sind Polizei und Staatsanwaltschaft in dem beigezogenen Ermittlungsverfahren ausgegangen. Dass der Beklagte dies akzeptiert hat, verwundert aus strafrechtlicher Sicht nicht: Seine Verantwortung für die Tötung zweier Menschen und die Körperverletzung eines weiteren Mitfahrers sowie seines Unfallgegners konnte er nicht leugnen. Es kam ihm bei seinem Einspruch gegen den Strafbefehl ersichtlich maßgeblich darauf an, erträgliche Rechtsfolgen zu erzielen. Eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe dürfte unabhängig von ihrer genauen Höhe akzeptabel gewesen sein; eine einjährige Sperre für die Fahrerlaubnis jedoch nicht. Sein Einspruch hatte dann auch schließlich den Erfolg, dass die Maßregel auf ein zweimonatiges Fahrverbot reduziert worden ist.

Im Zivilverfahren ist die Frage, ob der Beklagte am Steuer eingeschlafen war, streitig: Zunächst hatte die Klägerin selbst vorgetragen, sie halte den im Ermittlungsverfahren angenommen Sekundenschlaf für spekulativ (Bl. 9 d. A.). Ihre spätere Behauptung, das Vorliegen eines Sekundenschlafs sei sehr wahrscheinlich (Bl. 157, 158, 198, 199 d. A.), hat der Beklagte ausdrücklich bestritten (Bl. 169, 170 d. A.). Auch im Rahmen seiner mündlichen Anhörung am 12. November 2019 hat er erklärt, er glaube nicht, eingeschlafen zu sein (Bl. 175 d. A.). Den Sekundenschlaf des Beklagten muss die Klägerin beweisen. Die Angaben des Zeugen Bi. legen diese Unfallursache nahe, die einzig denkbar mögliche ist es jedoch nicht (siehe oben unter Ziffer 2.).

Aber selbst wenn man mit der Klägerin einen Sekundenschlaf des Beklagten annähme, führte dies – anders als sie meint – nicht ohne Weiteres zur Bejahung grober Fahrlässigkeit. Objektiv dürfte der Beklagte dann zwar grob fahrlässig gehandelt haben. Denn der Bundesgerichtshof hat schon vor Jahren nach sachverständiger Beratung entschieden, nach dem Stand der ärztlichen Wissenschaft bestehe der Erfahrungssatz, dass ein Kraftfahrer, bevor er am Steuer seines Fahrzeugs während der Fahrt einschlafe (einnicke), stets deutliche Zeichen der Ermüdung (Übermüdung) an sich wahrnehme oder wenigstens wahrnehmen könne. Dies beruht auf der in den berufenen Fachkreisen gesicherten Kenntnis, dass ein gesunder, bislang hellwacher Mensch nicht plötzlich von einer Müdigkeit überfallen wird. [BGH, Beschluss vom 18. November 1969 – 4 StR 66/69 -, Leitsatz und Rn. 38; OLG Frankfurt/M., Urteil vom 26. Mai 1992 – 8 U 184/91 -; BayOLG, Urteil vom 18. August 2003 – 1 St RR 67/03 -; LG Wiesbaden, Beschluss vom 22. Juni 2015 – 1 Qs 61/15 -, Rn. 16; alle zitiert nach juris].

Für die Annahme eines grob fahrlässigen Verhaltens bedarf es aber auch der Feststellung eines in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoßes gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (siehe oben). Ein leichtes Einnicken (sog. Sekundenschlaf) begründet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs deshalb nur dann den Vorwurf eines leichtfertigen Handelns, wenn sich der Fahrer bewusst über von ihm erkannte Anzeichen einer Übermüdung hinweggesetzt hat [BGH, Urteil vom 31. Februar 2007 – I ZR 166/04 -, MDR 2007, 1383; OLGR Rostock 2009, 115 (117); OLG Koblenz, Beschluss vom 8. Juni 2006 – 10 U 1161/05 -, zitiert nach juris; OLGR Düsseldorf 2000, 144; OLG Düsseldorf, Urteil vom 1. Oktober 2001 – 1 U 73/01 -, Orientierungssatz und Rn. 10, zitiert nach juris; OLG Koblenz, Urteil vom 12. Januar 2007 – 10 U 949/96 -, Orientierungssatz und Rn. 14 m. w. N., zitiert nach juris]. Dies muss positiv festgestellt werden. Denn die Regeln des Anscheinsbeweises gelten insoweit nicht [BGH, Urteil vom 21. März 2007 – I ZR 166/04 -, Leitsatz und Rn. 20 m. w. N.; OLG Stuttgart, Urteil vom 28. Juli 2005 – 7 U 51/05 -, Orientierungssatz und Rn. 3 und 4; OLG Celle, Urteil vom 3. Februar 2005 – 8 U 82/04 -, Rn. 6 m. w. N.; alle zitiert nach juris]. Im Falle des Abkommens von der Fahrbahn, dessen Gründe nicht geklärt sind, ist nicht stets ein grob fahrlässiges Verhalten anzunehmen [OLG Stuttgart, Urteil vom 28. Juli 2005 – 7 U 51/05 -, Orientierungssatz; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 15. September 2009 – 4 U 375/08 -, Orientierungssatz und Rn. 57; beide zitiert nach juris]. Ein Sekundenschlaf kann „einfach fahrlässig“ nicht vorhergesehen worden sein [OLG Celle, Urteil vom 3. Februar 2005 – 8 U 82/04 -, Rn. 6 m. w. N.; zitiert nach juris], weil objektiv vorhandene Übermüdungserscheinungen häufig subjektiv nicht wahrgenommen werden [nach sachverständiger Beratung: Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 15. September 2009 – 4 U 375/08 -, Rn. 57; zitiert nach juris].

Vorliegend lässt sich nicht aufklären, ob der Beklagte objektive Übermüdungsanzeichen ignoriert oder sich bewusst hierüber hinweggesetzt hat. Er selbst bestreitet, überhaupt eingeschlafen zu sein. Ferner hat er erklärt, ca. 10 Minuten vor dem Unfall habe er sich noch mit seinem Beifahrer unterhalten gehabt, das Radio sei gelaufen und er sei es gewohnt gewesen, früh aufzustehen (Bl. 175 d. A.). Der einzige Beifahrer, der den Unfall überlebt hat, ist der Versicherungsnehmer der Klägerin; dieser hat ausweislich seiner Angaben gegenüber der Polizei am 14. April 2016 (Bl. 47 d. BA) hinter dem Beklagten gesessen und geschlafen. Deshalb ist auszuschließen, dass er Angaben zu dem subjektiven Empfinden des Beklagten zu seinen etwaigen Übermüdungserscheinungen machen kann. Unter diesen Umständen kann sich der Senat nicht die gemäß § 286 ZPO unter Ausschluss jeden vernünftigen Zweifels erforderliche Überzeugung bilden, der Beklagte habe den Unfall auch subjektiv grob fahrlässig verursacht, weil er unter Missachtung von objektiv vorhandenen Übermüdungserscheinungen eingeschlafen sei. Insoweit bleibt auch zu berücksichtigen, dass der Beklagte auf die Gegenfahrbahn geraten sein könnte, weil er infolge der Fahrbahnsenke sowohl die Lichter aus dem Gegenverkehr als auch die Rückleuchten der vorausfahrenden Fahrzeuge aus den Augen verloren haben und kurzzeitig orientierungslos gewesen sein könnte. Dies wäre gleichfalls nicht völlig unentschuldbar.

Anders als die Klägerin meint, spricht auch die Dauer des Sekundenschlafs vorliegend nicht für einen subjektiv unentschuldbaren Sorgfaltsverstoß. Denn die Strecke, die der Beklagte bis zur Kollision mit dem Lkw auf der Gegenspur zurückgelegt hat, war bei einer zweispurig ausgebauten Landstraße kurz. Der Beklagte hat lediglich eine Fahrbahnhälfte gekreuzt. Eine andere Bewertung des Grades des Fahrlässigkeitsvorwurfs ergibt sich auch nicht daraus, dass der Senat den Sachverhalt im Rahmen des § 110 SGB VII zu prüfen hat. Bei der Beurteilung eines Verhaltens als grob fahrlässig kommt es nach Auffassung des Senats nicht darauf an, innerhalb welcher Anspruchsgrundlage dies geschieht. Entscheidend ist vielmehr, wie das Verhalten nach den Anforderungen des jeweils maßgeblichen Verkehrs zu beurteilen ist. Hierzu hat der Senat die vorstehend zitierte Rechtsprechung zum Sekundenschlaf im Straßenverkehr umfassend ausgewertet und den streitgegenständlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze subsumiert. Dem steht die von der Klägerin zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30. Januar 2001 – VI ZR 49/00 –, NJW 2001, 2092 – 2094 nicht entgegen. Denn hierbei handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung zu Unfallverhütungsvorschriften, die mit dem streitgegenständlichen Fall in keiner Hinsicht vergleichbar sind.“

Wie schnell darf ich am „Zebrastreifen“ fahren?

© Pink Badger - Fotolia.com

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Das richtige Verhalten – nämlich die „richtige Geschwindigkeit“ – an einem Fußgängerüberweg ist Gegenstand des OLG Stuttgart, Beschl. v. 30.05.2014 – 1 Ss 358/14 – gewesen, mit dem das OLG ein landgerichtliches Urteil aufgehoben hat. Das LG hatte den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt und eine nicht angepasste Geschwindigkeit angenommen. Das OLG sieht das anders:

„b) Auch ausgehend von einem entsprechend markierten Fußgängerüberweg ist das Urteil jedenfalls deshalb aufzuheben, weil das Landgericht keine Umstände festgestellt hat, nach denen der Angeklagte, dessen Ausgangsgeschwindigkeit nicht festgestellt werden konnte, verpflichtet gewesen wäre, mit einer niedrigeren als der an der Unfallstelle zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h an die Unfallstelle heranzufahren. Vor diesem Hintergrund kann die Feststellung, dass der Angeklagte den Unfall bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 40 km/h hätte verhindern können, den Fahrlässigkeitsvorwurf ebenso wenig begründen wie die Möglichkeit, dass er sich „dem Fußgängerüberweg mit einer höheren Geschwindigkeit als 40 km/h genähert hatte“. Das Landgericht hätte zugunsten des Angeklagten vielmehr davon ausgehen müssen, dass er mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h an die Unfallstelle heranfuhr. Ob er den Unfall bei dieser Ausgangsgeschwindigkeit hätte verhindern können, ist dem Urteil nicht zu entnehmen.

Eine Verpflichtung des Angeklagten, unabhängig vom Auftauchen des Geschädigten mit einer niedrigeren als der dort zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h an den Überweg heranzufahren, ergab sich nach den Urteilsfeststellungen weder aus § 26 Abs. 1 Satz 2 StVO noch aus § 3 Abs. 1 StVO.

Nach § 26 Abs. 1 Satz 2 StVO in Verbindung mit Satz 1 dieser Vorschrift muss ein Fahrzeug „dann“ – und nur dann – mit mäßiger Geschwindigkeit an einen Fußgängerüberweg heranfahren, wenn ein Fußgänger den Überweg erkennbar benutzen will (vgl. Burmann / Heß / Jahnke / Janker, a. a. O., § 26 Rn. 4 – 4b). Abweichenden früheren Entscheidungen – auch derjenigen des Oberlandesgerichts Düsseldorf, auf die sich das Landgericht beruft – lag eine 1988 außer Kraft getretene Fassung von § 26 Abs. 1 Satz 2 StVO zugrunde, in der es statt „dann““deshalb“ hieß, was bei wörtlicher Auslegung eine allgemeine Verpflichtung zu mäßiger Geschwindigkeit vor Fußgängerüberwegen ergab. Diese Auslegung ist mit der aktuellen Fassung des Gesetzes nicht mehr vereinbar. Dass im vorliegenden Fall vor dem Auftauchen des Geschädigten ein Fußgänger den Überweg erkennbar benutzen wollte, ist dem Urteil nicht zu entnehmen.

Aus § 3 Abs. 1 StVO ergibt sich nichts anderes. Es gibt keine allgemeine Verpflichtung eines Kraftfahrers, seine Geschwindigkeit alleine deshalb zu verlangsamen, weil die nicht ausschließbare Möglichkeit besteht, ein Fußgänger könne den Überweg benutzen (vgl. OLG Karlsruhe, NZV 1992, 330). Zwar kann etwas anderes gelten, wenn durch haltende oder parkende Fahrzeuge ein Teil des Überwegs oder der angrenzende Gehweg für den Kraftfahrer nicht einsehbar ist (vgl. BGH, NJW 1961, 35 ). Dass dem im vorliegenden Fall so gewesen wäre, ist dem Urteil aber ebenfalls nicht zu entnehmen; im Gegenteil ist ausgeführt, dass der Geschädigte bereits „auf dem Gehweg sichtbar“ war (UA S. 7).

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verpflichtung zur Mäßigung der Geschwindigkeit selbst dann nicht besteht, wenn ein Fußgänger parallel zur Fahrbahn neben dem Überweg geht (vgl. OLG Karlsruhe, NZV 1992, 330). Vor diesem Hintergrund begründet die bloße Möglichkeit, dass ein Fußgänger aus einer „kurz hinter dem Überweg einmündenden Querstraße“ (UA S. 8) – oder auch einem nicht einsehbaren Hauseingang – auftauchen könnte, möglicherweise eine Verpflichtung zu erhöhter Aufmerksamkeit, aber noch keine zur Mäßigung der Geschwindigkeit.“