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„Gerichtskundig“ – so einfach geht das nicht

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Einen etwas (zu) einfachen Weg wollte eine Strafkammer des LG Erfurt in einem Verfahren wegen Verstoßes gegen das BtM-Gesetz gehen. Sie hat den Angeklagten u.a. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. Dabei hat sie den ihr aus einem anderen Verfahren bekannten Wirkstoffgehalt der bei einem anderen Verfolgten sichergestellten Betäubungsmittel als „gerichtskundig“ behandelt. Das hat der Angeklagte mit der sog. Inbegriffsrüge (§ 261 StPO) gerügt und hatte damit beim 2. Strafsenat des BGH Erfolg. Der führt dazu im BGH, Beschl. v. 24.09.2015 – 2 StR 126/15 -aus:

„Soweit der Angeklagte wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäu-bungsmitteln in zwölf Fällen verurteilt worden ist, hat die Revision mit der Rüge einer Verletzung von § 261 StPO Erfolg. Das Landgericht durfte den ihr aus einem anderen Verfahren bekannten Wirkstoffgehalt der beim gesondert Verfolgten F. sichergestellten Betäubungsmittel nicht als gerichtskundig behandeln.

a) Der Tatrichter darf seiner Entscheidung über die Schuld- und Straffrage nur die Erkenntnisse zugrunde legen, die er in der Hauptverhandlung nach den Regeln des Strengbeweises gewonnen hat. Dies schließt es grundsätzlich aus, außerhalb der Hauptverhandlung erlangtes Wissen ohne förmliche Beweiserhebung zum Nachteil des Angeklagten zu verwerten (vgl. BGHSt 19, 193, 195, 45, 354, 357; BGH NStZ 2013, 367). Eine Ausnahme kann für gerichtskundige Tatsachen gelten, wenn – was das Revisionsgericht im Zweifel freibeweislich nachprüft – in der Hauptverhandlung darauf hingewiesen wurde, dass sie der Entscheidung als offenkundig zugrunde gelegt werden könnten. Dies ist erforderlich, um den Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. BGHSt 36, 354, 359; BGH NStZ 2013, 121 u. 357). Auf den Einzelfall bezogene Wahrnehmungen über Tatsachen, die unmittelbar für Merkmale des äußeren und inneren Tatbestandes erheblich oder mittelbar für die Überführung des Angeklagten von wesentlicher Bedeutung sind, dürfen nicht als gerichtskundig behandelt werden (vgl. BGHSt 45, 354, 358 f.; 47, 270, 274; BGH NStZ-RR 2007, 116, 117).

b) Nach diesen Maßstäben konnten die nicht anderweitig eingeführten Erkenntnisse zum Wirkstoffgehalt der beim gesondert Verfolgten F. sichergestellten Betäubungsmittel, die der gesondert Verfolgte B. zuvor beim Angeklagten erworben hatte, nicht – wie geschehen – als gerichtskundig verwertet werden. Denn der Wirkstoffgehalt war für die Frage, ob der Angeklagte in Fall II.11 mit Betäubungsmittel in nicht geringer Menge Handel getrieben hat, unmittelbar erheblich. Zudem war er ein wesentliches Indiz dafür, dass auch die vom Angeklagten in den Fällen II.1 bis 10 und 12 veräußerten bzw. zum Verkauf vorrätig gehaltenen Betäubungsmittel jeweils nicht geringe Mengen im Sinne des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG bildeten.

Das Urteil beruht auch auf diesem Rechtsfehler (vgl. Ott, in: KK-StPO 7. Aufl., § 261 Rn. 80). Das Landgericht hat sich unter Verwertung der nicht prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführten Erkenntnisse die Überzeugung vom Vorliegen jeweils nicht geringer Mengen in den Fällen II.1 bis 12 gebildet.“

So einfach geht es also nicht: Also entweder Hinweis oder ggf. Verlesung entsprechender Unterlagen über den Wirkstoffgehalt.

Gerichtskundig? – Wenn ja, darf das nicht geheim bleiben.

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„Gerichtskundige“ Tatsachen können für den Verfahrensausgang von entscheidender Bedeutung sein. Deshalb muss der Angeklagte wissen, was das Gericht als „gerichtskundig“ behandeln will. d.h., ihm ist insoweit rechtliches Gehör zu gewähren, damit er sich darauf einstellen kann. Damit befasst sich der BGH, Beschl. v. 27.07.2012 – 1 StR 68/12.

In dem Verfahren hatte das LG den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Zur Frage, ob es in der potentiellen Tatnacht zum Geschlechtsverkehr gekommen war, gab es unterschiedliche Angaben des Angeklagten. Die Geschädigte Y. hatte in der Hauptverhandlung auch keine keine konkrete Erinnerung an die Tatnacht mehr. Im Verfahren wurden dann bei einer rund 23 Stunden nach der Tat durchgeführten gynäkologischen Untersuchung von Y. keine Spermatozoen festgestellt. Dies hat das Landgericht als nicht gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Anga-ben sprechend bewertet, weil der ungeschützte Geschlechtsverkehr zum Un-tersuchungszeitpunkt bereits etwa 23 Stunden zurücklag, und diesbezüglich ausgeführt: „Wie der Kammer, die häufig mit Sexualdelikten befasst ist, be-kannt ist, können Spermatozoen innerhalb eines solchen Zeitraums bereits zer-setzt und damit nicht mehr nachweisbar sein“.

Der Angeklagte hatte geltend gemacht, das LG habe über diese Tatsache keinen Beweis erhoben, sondern sie als gerichtskundig angesehen und bei seiner Beweiswürdigung herangezogen, ohne den Angeklagten zuvor auf die in Anspruch genommenen gerichtlichen Kenntnisse hingewiesen zu haben.. Mit Erfolg. Der BGh führt dazu aus:

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist vor der Verwertung einer gerichtskundigen Tatsache in aller Regel ein Hinweis zu ertei-len, das Tatgericht werde sie (möglicherweise) seiner Entscheidung als offen-kundig zugrunde legen (BGH, Urteil vom 3. November 1994 – 1 StR 436/94, BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 2; ebenso Alsberg/Nüse/Meyer, Der Be-weisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., S. 570 f. mwN). Hierdurch soll dem Ange-klagten rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gewährt und ihm insbesondere die Möglichkeit wirksamer Verteidigung eröffnet werden (BGH, Urteil vom 29. März 1994 – 1 StR 12/94, BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 1; s. auch BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2005 – 4 StR 198/05, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Offenkundigkeit 3).

bb) Ein solcher Hinweis ist vorliegend nicht gegeben worden. Dies folgt allerdings nicht schon daraus, dass das Hauptverhandlungsprotokoll insoweit schweigt. Denn die Erörterung einer gerichtskundigen Tatsache gehört nicht zu den wesentlichen Förmlichkeiten, deren Beachtung das Protokoll ersichtlich machen muss (BGH, Beschluss vom 6. Februar 1990 – 2 StR 29/89, BGHSt 36, 354, 359 f.).
Der geltend gemachte Verfahrensfehler wird jedoch durch die vom Senat eingeholten dienstlichen Erklärungen bewiesen. Nach der Stellungnahme der Vorsitzenden Richterin vom 10. April 2012 „hat sich die Kammer nicht veran-lasst gesehen, noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Annah-me eines stattgefundenen Geschlechtsverkehrs mit“ dem gynäkologischen „Un-tersuchungsergebnis durchaus zu vereinbaren sein kann“. In vergleichbarer Weise haben sich die beisitzenden Richterinnen in ihren Stellungnahmen vom 10. bzw. 13. April 2012 geäußert. Die staatsanwaltschaftlichen Sitzungsvertre-ter haben sich diesbezüglich nicht mehr erinnern können.