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Notwehr verneint, der BGH hat Bedenken

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Mit einer Notwehrsituation befasst sich der BGH, Beschl. v. 07.06.2017 – 4 StR 197/17 -, und zwar auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:

„Nach den Feststellungen des Landgerichts sah sich der Angeklagte am Abend des 9. August 2015 aus Anlass einer Festveranstaltung mit etwa 200 Gästen in einer Halle in M. seitens des Nebenklägers mit dem – tatsächlich unzutreffenden – Vorwurf konfrontiert, diesem auf der Veranstal-tung das Mobiltelefon entwendet zu haben. Auf die wütende Aufforderung des Nebenklägers, stehen zu bleiben, bekam es der Angeklagte mit der Angst zu tun und wich zurück. Der Nebenkläger und einige seiner Bekannten bedrängten den Angeklagten weiter und forderten ihn zur Rückgabe des Telefons auf, wo-raufhin der Angeklagte erwiderte, er habe es nicht. Als einer der Begleiter des Nebenklägers dem Angeklagten ins Gesicht fasste, wich dieser weiter zurück und trat schließlich die Flucht aus der Festhalle an. Er wurde vom Nebenkläger verfolgt, dem es vor der Halle gelang, den Angeklagten einzuholen. Auf die er-neut und nachdrücklich erhobene Aufforderung zur Rückgabe des Mobiltelefons bestritt der Angeklagte, dieses entwendet zu haben, woraufhin der Nebenkläger antwortete, dass er ihm nicht glaube und ihn nunmehr durchsuchen wolle. Das wollte der Angeklagte seinerseits nicht zulassen und beschloss wegzulaufen. Der Nebenkläger beharrte auf einer Klärung der Angelegenheit und fasste den Angeklagten an der Schulter. Nunmehr entschied sich der Angeklagte, die beabsichtigte Flucht auch gewaltsam durchzusetzen und den Nebenkläger daran zu hindern, weiter auf ihn einzuwirken. Er zog ein unbekanntes Schneidwerk-zeug mit kurzer Klinge aus seiner Tasche und fügte dem Nebenkläger damit zwei Schnitte im rechten Brustbereich zu, wodurch zwei klaffende und binnen kurzem stark blutende Wunden entstanden. Kurz darauf überbrachte ein Beglei-ter des Nebenklägers diesem sein Telefon mit dem Bemerken, er habe es ge-rade auf dem Boden gefunden. Diese Situation nutzte der Angeklagte zur Flucht.

Das LG hatte Notwehr verneint. Der BGH hat Bedenken.

Nach den bisherigen Feststellungen ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Messerstiche einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt war und sich daher in einer Notwehrsituation im Sinne des § 32 StGB befand.

a) Gegenwärtig kann auch ein Verhalten sein, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entwe-der deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlichen, nicht mehr hin-nehmbaren Risiken aussetzen würde (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2017 – 1 StR 486/16, juris Rn. 28 mwN). Hat der Angreifer bereits eine Verletzungs-handlung begangen, dauert der Angriff so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist (BGH, Urteil vom 21. März 2017 aaO). Dabei kommt es auf die objektive Sachlage an. Entscheidend sind daher nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr ei-ner (neuerlichen oder unverändert fortdauernden) Rechtsgutsverletzung (BGH aaO mwN).

b) Danach hätte das Landgericht das Vorliegen einer Notwehrlage hier nicht unerörtert lassen dürfen. Denn dem Angeklagten drohte zu dem Zeitpunkt, als er sich zum Einsatz des unbekannt gebliebenen Schneidwerkzeugs ent-schloss, eine Verletzung seiner rechtlich geschützten Interessen. Er musste weder hinnehmen, dass der – sich in Begleitung weiterer Personen befind-liche – Nebenkläger ihn, wie angekündigt, durchsuchen, noch dass dieser ihn deshalb durch Festhalten am Verlassen des Festgeländes hindern wollte.“