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AG Tiergarten: Keine Entziehung der Fahrerlaubnis bei 3,64 Promille, oder: Geduld muss man haben

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Zweiter „Aufräumtag“ nach dem Urlaub. Den eröffne ich mit dem AG Tiergarten, Urt. v. 20.04.2017 – (315 Cs) 3023 Js 2034/16 (254/16). Bei der Entscheidung handelt es sich um den zweiten „Durchgang“ – der BGH spricht manchmal vom „Rechtsgang“ – nach dem KG, Urt. v. 20.12.2016 – (3) 121 Ss 163/16 (111/16) (vgl. dazu Dreimal KG, oder: Einwilligung in die Blutentnahme/Verfahrensrüge, BAK von 3,64 Promille und Strafzumessung). Der Kollege Kroll – Verteidiger in dem Verfahren – hat in seiner Übersendungsmail darauf hingewiesen, dass der Strafsenat in der Revisionshauptverhandlung die Rücknahme der Revision angeregt hatte, um die Sperrzeit für den Angeklagten kürzer zu halten. Der Kollege hatte aber noch eine erfolgreiche Verkehrstherapie in petto, die er bis dahin nicht vorgetragen hatte. Er hatte die Sache entscheiden lassen und hat dann beim AG jetzt die Therapiebescheinigung über die Verkehrstherapie vorgelegt. Und es hat sich für den Mandanten gelohnt: Die Fahrerlaubnis gab es in der Verhandlung zurück, und das nach einen BAK von 3,64 Promille! „Mein neuer Spitzenreiter!“ schreibt der Kollege.

Zur Verkehrstherapie führt das AG dann aus:

3. Dem Angeklagten, ist neben der Strafe die Fahrerlaubnis nicht zu entziehen. Zwar liegt in der vom Angeklagten begangenen Tat ein Regelfall des §§ 69 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB vor, der nach Auffassung des Gesetzgebers regelmäßig zur Entziehung der Fahrerlaubnis führt. Der Angeklagte weist jedoch in seiner Person als auch in dem Nachtatverhalten wesentliche Besonderheiten auf, durch die die indizielle Bedeutung des Regelbeispiels zum jetzigen Zeitpunkt kompensiert wird.

Der Angeklagte hat selbständig, ohne dass es äußeren sozialen Druckes bedurfte, seit dem 3. April 2016, also mehr als 1 Jahr, keinen Alkohol mehr zu sich genommen. Dabei hat er sich bewusst — entgegen dem Rat seiner Frau und Familie — dafür entschieden, dass das in der Wohnung des Angeklagten befindliche Weinregal und die Hausbar nicht entfernt werden sollen, um den Umgang mit der Abstinenz zu erlernen.

In der Zeit vom 3. April 2016 bis zum 4. April 2017 hat der Angeklagte erfolgreich eine verkehrspsychologische Einzeltherapie bei Dipl-Psych. R. absolviert, bei der er in 18 Einzelsitzungen (á 50 Minuten) sich intensiv mit dem Umgang mit Alkohol und seiner Tat auseinandergesetzt hat. Daneben hat er bislang vier spontan stattfindende Urin-Screenings im Rahmen eines Drogenabstinenzprogramms durchgeführt, die jeweils einen negativen Befund aufwiesen,

Die Ehe- und Familiensituation hat sich nach den glaubhaften Angaben der Ehefrau des Angeklagten dahingehend geändert, dass der Angeklagte offener und zugänglicher geworden ist, indem sie gemeinsam kulturelle Veranstaltungen wahrnehmen und der Angeklagte zwei bis drei Mal in der Woche Sport treibt, welches vor dem Unfall undenkbar gewesen sei. Der Angeklagte geht mit seinem Alkoholismus offen in der Familie und dem Freundeskreis um und erfährt zahlreiche Unterstützung. Selbst einen tragischen Zwischenfall in seiner Familie, bei dem der Angeklagte Ende des vergangenen Jahres um das Leben seines Sohnes bangen musste, hat er ohne „zur Flasche zu greifen“ überstanden und auch diese für das Gericht nachvollziehbar schwere Situation gemeistert.

Nach alledem ist das Gericht – auch vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte seit dem Tattag am 11. Februar 2016 und damit mehr als 14 Monate ohne Führerschein ist und das Verfahren rund 10 Monate andauert – überzeugt, dass dem Angeklagten eine günstige soziale Prognose gestellt werden kann. Es besteht für das Gericht kein Zweifel, dass der Angeklagte (wieder) geeignet ist am Straßenverkehr als Fahrzeugführer teilzunehmen.

4. Entgegen der Auffassung des Verteidigers konnte auch von einem deklaratorischen Fahrverbot abgesehen werden, welches in der Regel zu verhängen ist, wenn in den Fällen einer Verurteilung wegen (fahrlässiger) Trunkenheit die Entziehung der Fahrerlaubnis unterblieben ist, § 44 Abs. 1 S. 2 StGB. Dabei ist das Gericht davon ausgegangen, dass zwischen der Hauptstrafe (hier der Geldstrafe) und der Nebenstrafe des Fahrverbots eine Wechselwirkung besteht. Die Nebenstrafe darf nur verhängt werden, wenn die Hauptstrafe allein den mit der Nebenstrafe verfolgten spezialpräventiven Zweck nicht erreichen kann, und beide zusammen die Tatschuld nicht überschreiten (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 10. Januar 2007 — (3) 1 Ss 389/06 (125/06) —, juris). Dies vorangestellt, ist das Gericht überzeugt, dass die Geldstrafe ausreicht, dem Angeklagten sein Fehlverhalten vor Augen zu halten. Die unter Ziffer 3 aufgezeigten besonderen Umstände, gebieten es von der Regelvermutung des § 44 Abs. 1 S. 2 StGB abzuweichen. Hinzu kommt, dass seit der Tat rund 14 Monate vergangen sind, sodass der Sinn und Zweck eines Fahrverbots als Warnungs- und Besinnungsstrafe durch Einwirken in angemessenem zeitlichen Abstand zur Tat auf den Täter nicht mehr erfüllt werden kann.“

Ein schöner Erfolg – es hat noch nicht einmal ein Fahrverbot nach § 44 StGB gegeben. Warten/Geduld kann sich also lohnen. Das Zurückhalten der Verkehrstherapie ist natürlich nicht ganz ungefährlich. Aber: Es macht sich natürlich nicht so gut, wenn man die Blutprobe als unverwertbares Beweismittel angreift und gleichzeitig eine umfassende Therapiebescheinigung vorlegt. Allerdings: Wenn die Revision nicht durchgeht, dann war es das mit der Therapie.