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OWi I: Einmal entbunden, immer „frei“, so der BGH, oder: Unterschied Verlegung/Aussetzung

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Heute dann OWi-Entscheidungen. Ein paar Entscheidungen habe ich, über die ich berichten kann.

Darunter  – und damit beginne ich – ist der BGH, Beschl. v. 10.10.2023 – 4 StR 94/22. Das ist die Entscheidung des BGH in der noch offenen Vorlagefrage zur Reichweite der Entbindung nach § 73  Abs. 2 OWi von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen im Bußgeldverfahren.

Es geht um folgenden Sachverhalt: Das AG hatte den Betroffenen auf seinen Antrag vom persönlichen Erscheinen entbunden. Nach einer Terminsverlegung der geplanten Hauptverhandlung sind dann weder der Betroffene noch sein Verteidiger zum neuen Termin erschienen. Das AG hat daraufhin den Einspruch durch Urteil gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Hiergegen hat der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt.

Er bezieht sich auf einen Beschluss des OLG Bamberg, und zwar auf den OLG Bamberg, Beschl. v. 30.03.2016 – 3 Ss OWi 1502/15 – dazu: Einmal entbunden, immer entbunden….. In dem hatte das OLG entschieden, dass die antragsgemäße Entbindung des Betroffenen von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 2 OWiG bei einer bloßen Verlegung des Hauptverhandlungstermins fortwirkt.

Das hatte das KG anders sehen wollen und die Frage daher mit dem KG, Beschl. v. 28.02.2022 – 3 Ws (B) 31/22 – dazu: OWi I: Einmal entbunden, immer entbunden….?, oder: Das KG fragt mit einer Vorlage den BGH –

zur Entscheidung vorgelegt und gefragt:

Führt die Verlegung eines Hauptverhandlungstermins dazu, dass die vorangegangene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung des persönlichen Erscheinens „verbraucht“ ist, so dass sie für den neuen Termin gegebenenfalls neu beantragt und angeordnet werden muss?

Der BGH hat nun für die Antwort ein wenig gebraucht, wohl auch, weil der GBA noch beim BayObLG angefragt hatte, ob man dort an der Rechtsprechung des OLG Bamberg festhält – die Antwort aus Bayern war klar: Natürlich – und dann hat der BGH, nachdem er die Vorlagefrage etwas enger gefasst hat, entschieden.

Und zwar hat er wie folgt geantwortet:

Die antragsgemäß nicht auf einen konkreten Termin bezogene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG wirkt bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins fort, so dass ein Entbindungsbeschluss des Gerichts für den neuen Termin nicht erneut bean­tragt und erlassen werden muss.

Damit ist das Problem jetzt gelöst. Aber: Achtung! Beantwortet hat der BGH die Frage, wie es bei einer Terminsverlegung ist – da braucht man keinen neuen Antrag. Nicht beantwortet ist die Frage, wie es sich bei einer Aussetzung der Hauptverhandlung verhält, wo man wohl, wenn ich den BGH richtig verstehe, einen neuen Antrag braucht, die Entbindung also nicht fortwirkt. Daher als Verteidiger lieber in solchen Situationen den sicheren Weg gehen und immer einen neuen Antrag stellen.

OWi III: Entbindung wegen Maskenweigerung in der HV, oder: „an sich wollte ich ja doch“ – aber entweder-oder

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Und zum Tagesschluss dann noch der KG, Beschl. v. 02.08.2022 – 3 Ws (B) 196-197/22 – 122 Ss 72/22.  Den Beschluss hätte ich auch an einem „Corona-Tag“ vorstellen können. Er passt aber auch heute, denn im Vordergrund steht die „Entbindungsfrage“.

Der Betroffene hatte nämlich beantragt, von der Erscheinenspflicht in einer Hauptverhandlung wegen Ordnungswidrigkeiten/Verstöße gegen die SARS-CoV-2-Infektionsschutz-VO entbunden zu werden, weil er glaubte in der Hauptverhandlung keine Maske wegen Corona tragen zu müssen. Mit der Rechtsbeschwerde macht er dann geltend, dass er eigentlich habe entbunden werden wollen. Das geht so nicht, sagt das KG (in einem Zusatz):

„Der Betroffene A. hat über einen zugelassenen Rechtsanwalt beantragt, von der Verpflichtung des persönlichen Erscheinens entbunden zu werden. Das Tatgericht hat antragsgemäß entschieden. Vor diesem Hintergrund ist es widersprüchlich und daher rechtsbeschwerderechtlich unbehelflich, nunmehr die Mentalreservation geltend zu machen, er habe eigentlich gar nicht entbunden werden wollen. Wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer dem Betroffenen bekannten Zuschrift zutreffend ausführt, hätte der Betroffene, der glaubte, in der Hauptverhandlung keinen Mund-Nasen-Schutz tragen zu müssen, an der Hauptverhandlung teilnehmen können und müssen. Gegen ein Ordnungsmittel hätte der Betroffene Rechtsbehelf einlegen können; gegen einen – nur möglichen und nicht gewissen – Ausschluss hätte der Betroffene im Falle eines Abwesenheitsurteils die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragen und mit der Verfahrensrüge die Verletzung rechtlichen Gehörs beanstanden können. In dem dem Senat unterbreiteten Sachverhalt aber hat das Amtsgericht den Betroffenen antragsgemäß von der Anwesenheitspflicht entbunden, und dieser war in der Hauptverhandlung ordnungsgemäß vertreten. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt mithin fern.“

M.E. so zutreffend. Entweder/oder.

Rechtsbeschwerde III: Zunächst Entbindung von der HV, oder: Gesinnungswandel – ich will doch, bin aber krank

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Und als dritte Entscheidung dann noch ein Beschluss, der vom KG stammt. Da hatte dann aber die Rechtsbeschwerde mal Erfolg.

Das AG hatte nach Einspruch der Betroffenen Termin zur Hazptverhandlung auf den 21.09.2021 anberaumt. Zu dem Termin waren der Betroffene und sein Verteidiger erschienen . Während der Hauptverhandlung ist der Betroffene dann durch Beschluss des AG auf seinen Antrag von der (weiteren) Anwesenheit in der Hauptverhandlung entbunden worden. In deren weiteren Verlauf wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und für den 30.09.2021 Termin zur Fortsetzung anberaumt. Bei Wideraufruf der Sache erklärte der Verteidiger dem AG, der Betroffene wolle nun doch zur Hauptverhandlung erscheinen und sich zum Sachverhalt persönlich äußern, sei daran jedoch wegen einer akuten Erkrankung gehindert. Nach einer kurzen Unterbrechung der Hauptverhandlung hat der Verteidiger dem Gericht ein am 30.09.2021 von einer Fachärztin für Allgemeinmedizin erstelltes Attest überreicht, das folgenden Inhalt hat:

“Herr D. ist am heutigen Tage bei mir in der Praxis erschienen und hat folgende Beschwerden mitgeteilt: Husten, Kopf- und Gliederschmerzen, Brustschmerzen bei Atmung und Fieber. Nach einer umfangreichen Untersuchung wurde folgende Diagnose gestellt: akute spastische Bronchitis. Aus ärztlicher Sicht und Beurteilung ist Herr D. vom 30.09.21 bis voraussichtlich zum 06.10.21 verhandlungsunfähig erkrankt.”

Zugleich hat der Verteidiger den Antrag gestellt, die Hauptverhandlung auszusetzen, hilfsweise zu unterbrechen, da der erkrankte Betroffene an der Hauptverhandlung teilnehmen wolle. Daraufhin hat das AG auf § 74 Abs. 1 OWiG verwiesen, weil der Betroffene von seiner Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden worden sei. Es hat die Hauptverhandlung fortgesetzt und den Betroffenen wegen eines vorsätzlichen Geschwindigkeitsverstoßes zu einer Geldbuße von 240,- EUR verurteilt.

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte Erfolg. Das KG hat im KG, Beschl. v. 17.03.2022 – 3 Ws (B) 37/22 – das AG-Urteil aufgehoben:

„Der Zulassungsantrag und die Rechtsbeschwerde haben Erfolg.

1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) aufzuheben.

a) Die Rüge ist zulässig, insbesondere entspricht sie den Darlegungsanforderungen von §§ 80 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 StPO. Danach müssen die den Mangel begründenden Tatsachen so genau bezeichnet und vollständig angegeben werden, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein auf Grund der Begründungsschrift ohne Rückgriff auf die Akte erschöpfend prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen – ihre Erweisbarkeit vorausgesetzt – zutreffen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2013 – 2 StR 34/13 – juris; Senat, Beschlüsse vom 27. Januar 2021 – 3 Ws (B) 7/21 – und 5. Februar 2019 – 3 Ws (B) 3/19 – m.w.N.).

aa) Das Anwesenheitsrecht des Betroffenen wird durch die in § 73 Abs. 2 OWiG geregelte Möglichkeit, den Betroffenen von seiner Pflicht zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 1 OWiG zu entbinden, nicht berührt (vgl. Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 73 Rdn. 17 m.w.N.). Ebenso wenig wie ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG bei entschuldigtem Ausbleiben ergehen darf, darf in Abwesenheit des Betroffenen eine Hauptverhandlung durchgeführt werden, wenn er teilnehmen will und ihm ein Erscheinen unmöglich oder unzumutbar ist und er deshalb Terminsverlegung beantragt hat (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 20. September 1999 – Ss 452/99 -, juris m.w.N.; BayObLG VRS 50, 224; NStZ 1995, 39; OLG Karlsruhe VRS 59, 450 u. 91, 193; Senge in KK-OWiG 5. Aufl., § 73 Rdn. 9 m.w.N.). Das gilt selbst dann, wenn der Betroffene durch einen Verteidiger vertreten ist, es sei denn, dass dieser sich gleichwohl mit einer Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen einverstanden erklärt (vgl. OLG Köln a.a.O.). Gibt der Betroffene trotz antragsgemäßer Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen zu erkennen, dass er von seinem Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung Gebrauch machen will und ist er dazu ohne eigenes Verschulden außerstande, darf in seiner Abwesenheit nicht nach § 74 Abs. 1 OWiG verhandelt werden (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1998, 516; Senge a.a.O. m.w.N.). Krankheit entschuldigt auch in so gelagerten Fällen das Ausbleiben, wenn sie nach Art und Auswirkung eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar macht; eine Verhandlungsunfähigkeit muss nicht vorliegen (vgl. OLG Köln a.a.O. und VRS 72, 442, 444; 75, 113; 83, 444, 446; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 331; OLG Hamm NStZ-RR 1998, 281).

bb) Dem folgend muss das Beschwerdevorbringen Angaben dazu enthalten, dass der Betroffene in einer anberaumten Hauptverhandlung nicht anwesend war, das Gericht aber gleichwohl zur Sache verhandelt hat, obwohl der vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundene Betroffene dem Gericht seinen Willen, an dieser teilzunehmen, mitgeteilt hat. Daneben muss der Betroffene mitteilen, auf Grund welcher konkreten Tatsachen, die dem Gericht bekannt waren oder zumindest hätten bekannt sein müssen, es für ihn unzumutbar oder unmöglich war, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, sowie ob und gegebenenfalls wie er sich in der versäumten Hauptverhandlung verteidigt hätte.

cc) Macht der vom persönlichen Erscheinen entbundene Betroffene geltend, er sei krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, kann für die Anforderungen an das Rügevorbringen nichts Anderes gelten als in Fällen von Verwerfungsurteilen nach § 74 Abs. 2 OWiG. Deswegen sind vom Betroffenen die jedenfalls nach allgemeinem Sprachgebrauch zu benennende Art der Erkrankung, die konkrete Symptomatik und die daraus zur Terminszeit resultierenden konkreten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen vorzutragen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 7. Februar 2022 – 3 Ws (B) 328/21 -, juris, 24. Juli 2020 – 3 Ws (B) 166/20 -, 5. Juni 2018 – 3 Ws (B) 161/18 – m.w.N., 24. Oktober 2016 – 3 Ws (B) 504/16 – und 16. Februar 2015 – 3 Ws (B) 80/15 -; OLG Hamm NZV 2014, 140 sowie NZV 2009, 158). Des Weiteren hat der Betroffene bei dieser Rüge vorzutragen, ob das Tatgericht vom Entschuldigungsgrund Kenntnis hatte oder hätte haben müssen oder das Vorbringen rechtsfehlerhaft bewertet hat. Nur wenn die eine dieser Möglichkeiten belegenden tatsächlichen Umstände dargelegt sind, kann das Rechtsbeschwerdegericht beurteilen, ob das Fernbleiben des Betroffenen unverschuldet war (vgl. Senat, Beschluss vom 5. Juni 2018 a.a.O.).

dd) Das Antragsvorbringen erfüllt die dargelegten Voraussetzungen. Insbesondere hat der Betroffene hinreichend dargelegt, wegen seiner dem Amtsgericht bekannten Erkrankung am beabsichtigten Erscheinen im Fortsetzungstermin verhindert gewesen zu sein. Dass der Betroffene den auf seinen Entbindungsantrag erlassenen stattgebenden Beschluss nicht wörtlich wiedergegeben hat, steht der Zulässigkeit seiner Rüge nicht entgegen. Denn zum einen hat das Amtsgericht, wie in der Antragsschrift mitgeteilt, in einem offenkundig vor dem Fortsetzungstermin vom 30. September 2021 verfassten Schreiben an den Betroffenen ausdrücklich auf den am 21. September 2021 erlassenen Entbindungsbeschluss und die dadurch für den Betroffenen entfallene Erscheinenspflicht hingewiesen. Zum anderen ist in den Blick zu nehmen, dass im vorliegenden Fall nicht der Erlass eines Verwerfungsurteils trotz Entbindung des Betroffenen von seiner Erscheinenspflicht gerügt wird, sondern die Verletzung seines Anwesenheitsrechts, die auch dann – und gerade dann – gegeben wäre, wenn das Gericht keinen Entbindungsbeschluss nach § 73 Abs. 2 OWiG erlassen hätte und eine Abwesenheitsentscheidung nach § 74 Abs. 1 Satz 1 OWiG ohnehin ausgeschlossen wäre. Der Mitteilung des Wortlauts der Entbindungsentscheidung bedurfte es daher im vorliegenden Fall nicht.

b) Die Rüge ist auch begründet. Zwar ist der Vortrag des Betroffenen, er sei akut erkrankt gewesen, für sich genommen ohne Aussagekraft. Hinzu tritt jedoch, dass die von der Ärztin mitgeteilte Diagnose akute spastische Bronchitis einen durch die internationale Krankheitsklassifizierung unter ICD-10 J.20 erfassten Krankheitszustand beschreibt, der regelmäßig mit erschwerter Atmung, Kurzatmigkeit, krampfartigem Husten und in der Folge schneller Erschöpfung einhergeht. Bei etwa 90% der Fälle ist die Bronchitis viralen Ursprungs, weswegen erhöhte Ansteckungsgefahr besteht (vgl. Helmholtz Munich in https://www.lungeninformationsdienst.de/krankheiten/virale-infekte/akute-und-chronische-bronchitis/grundlagen/index.html). Hinzu tritt, dass der Betroffene nach der – auch zur Zeit des Fortsetzungstermins gültigen – Verfügung des Präsidenten des Amtsgerichts Tiergarten in Verbindung mit § 12 Abs. 2 der vierten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung des Landes Berlin – vorbehaltlich abweichender sitzungspolizeilicher Anordnungen nach § 176 GVG oder sonstiger verfahrensleitender Maßnahmen des Vorsitzenden – verpflichtet war, im Gerichtsgebäude eine geeignete medizinische Schutzmaske zu tragen, was ihm das Atmen zusätzlich erschwert hätte. Bei einer derartigen Erkrankung war es dem Betroffenen deshalb nicht zuzumuten, zum Fortsetzungstermin zu erscheinen. Das Amtsgericht hätte folglich ohne ihn nicht weiterverhandeln dürfen, sondern wäre stattdessen verpflichtet gewesen, die Hauptverhandlung zumindest (erneut) zu unterbrechen. Dass es dies nicht getan, sondern gleichwohl in Abwesenheit des Betroffenen in der Sache weiterverhandelt hat, erweist sich als Verletzung des dem Betroffenen zustehenden Anwesenheitsrechts und seines damit verknüpften Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG auf rechtliches Gehör.

c) Zu keinem anderen Ergebnis käme man, wenn man dem Vortrag des Verteidigers, der Betroffene wolle nun doch an der Hauptverhandlung teilnehmen, den Erklärungswert eines konkludenten Verzichts auf die Entbindung vom persönlichen Erscheinen beimisst (so Seitz/Bauer a.a.O. Rdn. 19). Denn auch dann wäre dem Gericht die Befugnis zur Abwesenheitsverhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG genommen (vgl. Senge a.a.O. Rdn. 21). Das Tatgericht muss in Fällen der Rücknahme des Entbindungsantrags den Entbindungsbeschluss aufheben und ohne (weitere) Verhandlung zur Sache ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG erlassen (zur Anwendbarkeit von § 74 Abs. 2 OWiG auf Fortsetzungstermine vgl. Senat, Beschlüsse vom 16. März 2017 – 3 Ws (B) 68/17 – und 5. November 2014 – 3 Ws (B) 575/14 – m.w.N.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17. August 2020 – 6 Kart 10/19 (OWi) -; alle juris), wofür aber im vorliegenden Fall – wie bereits dargelegt – mangels unentschuldigten Fernbleibens des Betroffenen kein Raum war. Dass das Amtsgericht gleichwohl weiterverhandelt und ein Sachurteil erlassen hat, erweist sich – wie dargelegt – als rechtswidriger Eingriff in den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör.“

Pflichti kennt Entbindung nicht, kommt zum Termin, oder: Gebühren gibt es trotzdem

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So, heute geht es dann mal wieder um’s Geld 🙂 und zwar zunächst mit dem AG Nürnberg, Beschl. v. 09.12.2019 – 401 Ds 419 Js 65519/16 (3). Der Beschluss ist also schon etwas älter, ich habe ihn aber erst vor kurzem erhalten.

Es geht um die Gebühren eines Pflichtverteidigers, der als Pflichtverteidiger entbunden worden war. Dass der Beschluss rechtskräftig war, war dem Verteidiger aber erst in der Hauptverhandlung, zu der er geladen und erschienen war, mitgeteilt worden. Die Gebühren gab es dann trotzdem:

„Mit Beschluss vom 10.04,2019 wurde der Antragsteller als Pflichtverteidiger entbunden.

Gegen die zutreffende Entscheidung des Amtsgerichts wurde Beschwerde eingelegt. Das Land-gericht Nürnberg verwarf die Beschwerde mit Beschluss vom 15.05.2019 als unbegründet. Der Beschluss wurde dem Verteidiger nicht vor der Hauptverhandlung am 20.05. 2019 bekannt gemacht. Der landgerichtliche Beschluss ging erst am 22.05.2019 beim Verteidiger ein. Er wurde dem Verteidiger auch in der Hauptverhandlung vom 20.05.2019 vom Amtsgericht übergeben. Der Verteidiger wurde mit Ladung vom 11.04.2019 auf 20.05.2019 geladen. In der Ladung befand sich der Satz: „zu diesem Termin werden sie als Pflichtverteidige- des Angeklagten geladen“.

Angesichts dieser Ladung des Amtsgerichts Nürnberg konnte der Verteidiger darauf vertrauen, dass er als Pflichtverteidiger erscheinen muss. Auch wenn die Ladung nach dem Entbindungsbeschluss erfolgte, bestand das Vertrauen des Verteidigers insoweit fort, als das das Landgericht Nürnberg in eine Beschwerde über die Entbindung zu entscheiden hatte. Da die Beschwerdeentscheidung dem Verteidiger aber nicht vor dem Hauptverhandlungstermin zuging und da er zuvor eine Ladung zum Termin als Pflichtverteidiger erhalten hatte, war es gerechtfertigt, dass er die Pflichtverteidigergebühren auch für das Antreten zum Term n vom 20.05.2019 erhält. Insoweit musste die Erinnerung erfolgreich sein.“

Das war dann jetzt übrigens die 6.666 Entscheidung, die ich, weil ich dazu gebloggt habe, auf der Homepage eingestellt habe – ausgenommen die BVerfG- und die BGH-Entscheidungen, auf die ich ja i.d.R. direkt verlinke. Ganz schön viel 🙂 .

StPO II: Wenn der SV die Exploration einer „Hilfsperson“ überlässt, oder: Wiederholung in „kompakter Form“?

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 22.06.2021 – 5 Ks 102 Js 2876/20. Das LG nimmt zur Entbindung eines Sachverständigen von seinem Auftrag nach § 76 StPO Stellung.

Der Sachverständige war von der Staatsanwaltschaft mit der Erstellung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens zu Fragen der medizinischen Voraussetzungen der Schuldfähigkeit und Gefährlichkeit des Angeschuldigten gem. §§ 20, 21, 64 StGB beauftragt worden. In seinem schriftlichen Gutachten führte er dann aus, dass der Angeschuldigte in Anwesenheit von Frau B., B.Sc. Psychologie und des Sachverständigen an zwei Tagen, am 10.03.2021 und 19.03.2021, über insgesamt 2 Stunden und 45 Minuten untersucht wurde. Auf Nachfrage des LG, ob beide Sachverständige die ganze Zeit anwesend waren und wenn nicht, wer bei welchem Teil, insbesondere der Exploration, anwesend war, teilte der Sachverständige mit, dass die Angaben des Angeschuldigten am 10.03.2021 gegenüber Frau B. in „detaillierter Art und Weise“ gemacht und am 19.03.2021 ihm gegenüber in „kompakter Form“ wiederholt worden seien.

Das führt dann zur Entbindung:

„Zwar kann ein beauftragter Sachverständiger, der grundsätzlich zur persönlichen Erstellung und Erstattung des Gutachtens verpflichtet ist, Hilfskräfte in Anspruch nehmen, solange er sich von den Untersuchungsergebnissen selbst überzeugt und das Gutachten selbst verantwortet. Die Staatsanwaltschaft hat die Zuziehung einer Hilfskraft genehmigt.

Aufgrund der Pflicht zur persönlichen Gutachtenerstattung besteht jedoch ein Delegationsverbot, soweit durch Heranziehung anderer Personen die Verantwortung des Sachverständigen für das Gutachten in Frage gestellt wird (BGH, Beschluss vom 25.05.2011 – 2 StR 585/10; Löwe-Rosenberg, 27. Auflage 2017, StPO, § 73 Rn. 6). Das Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen muss eine Exploration des Probanden durch den Sachverständigen einschließen. Dabei handelt es sich um die zentrale Untersuchungsmethode. Deren Ergebnisse kann der gerichtliche Sachverständige nur dann eigenverantwortlich bewerten, wenn er sie selbst durchgeführt oder zumindest insgesamt daran teilgenommen hat. Dies gilt erst recht, wenn bei der Exploration auch Mimik und Gestik des Probanden aufgefasst werden. Die Durchführung dieser Untersuchung darf daher nicht an eine Hilfsperson delegiert werden (MüKoStGB, 4. Auflage 2020, § 20 StGB Rn. 171; Nedopil/Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Auflage 2012, S. 407; BSG, Beschluss vom 18.09.2003 – B 9 VU 2/03 B; OLG Köln, Beschluss vom 20.07.2011 – 17 W 129/11).

Laut Auskunft des Sachverständigen Dr. T. erfolgte eine detaillierte Exploration durch Frau B., durch ihn lediglich eine kompakte Abfrage. Eine kompakte Abfrage reicht aber nicht aus, um sich – bei der Exploration als zentrale Untersuchungsmethode – ein eigenes Bild von der Richtigkeit der Befunderhebung zu machen. Die Kammer hat daher erhebliche Zweifel, dass der Sachverständige die Verantwortung für das Gutachten übernehmen kann. Daran vermag auch eine hypothetisch ergänzende Exploration durch den Sachverständigen Dr. T. nichts zu ändern, da hierdurch verbleibende Zweifel an der notwendigen Objektivität des Sachverständigen bestehen blieben. Dies gilt umso mehr, als der Angeschuldigte in dem beschlagnahmten Brief an seine Lebensgefährtin vom 10.05.2021 (Bl. 372 d.A.) seine Verärgerung über der Sachverständigen Dr. T. zum Ausdruck gebracht hat. In dem Brief äußerte der Angeschuldigte unter anderem, dass er „richtig sauer auf den Sachverständigen“ sei, da das „Gutachten Frau B. und kein T. gemacht habe“, und er „mit ihm nur fünf Minuten über den § 64 und nicht über meine Gedanken gesprochen habe“. Eine unbefangene Mitwirkung des Angeschuldigten an einer weiteren Exploration durch Dr. T. ist daher zweifelhaft.“