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OWi III: Keine Entbindung von der Anwesenheitspflicht, oder: Der Zeuge muss den Betroffenen sehen

Und als letzte Entscheidung des Tages dann noch der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.07.2021 – IV 3 RBs 74/21. Es geht mal wieder um § 73 Abs. 2 OWiG, also um die Entbindung des Betroffenen von seiner Erscheinenspflicht. Das AG hatte den Betroffenen nicht entbunden. Das OLG meint: Musste es auch nicht:

„Das Amtsgericht hat den Betroffenen nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbinden müssen. Zutreffend hat es aufgrund einer Prognose zur Dienlichkeit der Anwesenheit des Betroffenen für die durchzuführende Beweisaufnahme entschieden.

Soweit die Entscheidung über einen Antrag des Betroffenen auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung von der Frage abhängt, ob dessen Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts erforderlich. ist (§ 73 Abs. 2 OWiG), muss der Tatrichter notwendiger: weise eine Prognose über den zu erwartenden Verlauf der Beweisaufnahme mit und ohne Anwesenheit des Betroffenen anstellen. Nur auf dieser Grundlage kann er seine Entscheidung treffen, ob er auf der Anwesenheit des Betroffenen bestehen muss (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Februar 2018, IV-2 RBs 16118 m.w.N.).

Ausgehend hiervon erweisen sich die Erwägungen des Amtsgerichts als rechtsfehlerfrei. Dem Betroffenen wird vorgeworfen, am 16. Juni 2020 als Führer eines Kraftfahrzeugs verbotswidrig bei unklarer Verkehrslage überholt sowie tateinheitlich verbotswidrig über eine Fahrstreifenbegrenzung gefahren zu sein. Die Hauptverhandlung fand am 8. April 2021 statt, also mehr als neun Monate nach der Tat. Die Feststellung, ob der Betroffene verbotswidrig überholt hat sowie verbotswidrig über eine Fahrstreifen-begrenzung gefahren ist, hing maßgeblich davon ab, ob sich der zum Hauptverhandlungstermin geladene Zeuge PHK pp. an den konkreten Einzelfall erinnerte. Eine solche Erinnerung ist regelmäßig an den optischen Eindruck von dem Betroffenen geknüpft. Ausweislich des Bußgeldbescheides vom 22. Juni 2020 hatte der Betroffene am Tattag Gelegenheit, sich zu dem Tatvorwurf zu äußern. Daher konnte der erkennende Richter davon ausgehen, dass es zu einem persönlichen Kontakt zwischen dem Betroffenen und Zeugen pp. gekommen war. Dieser Umstand rechtfertigte die Annahme des Gerichts, dass die Anwesenheit des Betroffenen zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich ist und der Zeuge zu zuverlässigeren Bekundungen in der Lage sein werde.“

Na ja.

Anwesenheit bei einem Parkverstoß nicht erforderlich, oder: Von „meinem Entbindungsspezialisten“

entnommen wikimedai.org
Urheber 4028mdk09

Und den Abschluss des Tages macht dann der OLG Dresden, Beschl. v. 05.04.2017 – OLG 22 Ss 901/16 (Z) -, den mir der Kollege L.H. Kroll aus Berlin zugesandt hat. Er ist „mein Entbindungsspezialist“, weil ich von ihm sehr viele Entscheidungen zur Problematik der §3 73, 74 OWiG erhalte, in denen seine Rechtsbeschwerden erfolgreich gewesen sind. Das beweist meine These, dass man an der Stelle sehr schön Zeit gewinnen kann. Und es beweist, dass die Amtsrichter häufig „mit dem Kopf durch die Wand wollen“, wenn es um die Entbindung des Betroffenen von seiner Anwesenheitspflicht geht und auf dem Erscheinen in der Hauptverhandlung bestehen, so dass der Entbindungsantrag abgelehnt wird.

So auch der Richter beim AG Leipzig. Der hatte in einem Bußgeldverfahren, in dem es um eine Geldbuße von 35 € ging wegen Parkens auf einem Sonderparkplatz für Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung, beidseitiger Amelie oder Phokomelie sowie für blinde Menschen, ohne dass ein besonderer Parkausweis gut lesbar auslag, den Entbindungsantrag des Betroffenen abgelehnt und den Einspruch des dann ausgebliebenen Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Das OLG sagt: Geht nicht:

„Der Betroffene war vorliegend nach § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Anwesenheitspflicht zu ent­binden. Nach dieser Bestimmung entbindet das Gericht den Betroffenen von seiner Verpflich­tung zum persönlichen Erscheinen, wenn er sich zur Sache geäußert hat oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht äußern werde und seine Anwesenheit zur Aufklä­rung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes nicht erforderlich ist. Dabei ist zu beach­ten, dass die Entscheidung über den Entbindungsantrag nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt ist, dieses vielmehr verpflichtet ist, dem Antrag zu entsprechen, sofern die Vorausset­zungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (vgl. OLG Hamm, DAR 2016, 595; OLG Karlsruhe, NZV 2011, 95). Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass aus dem Ge­sichtspunkt der Aufklärungspflicht die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung geboten gewesen wäre. Dem Betroffenen wurde ein Parkverstoß zur Last gelegt. Der Betrof­fene hatte jedoch seine Fahrereigenschaft bestritten und im Übrigen erklärt, dass er weitere Angaben zur Sache nicht machen werde. Damit waren jedoch die Voraussetzungen für die Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen gegeben und das Amtsgericht hätte dem Antrag stattgeben müssen. Denn es waren keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür er­kennbar, dass in der Hauptverhandlung von der persönlichen Anwesenheit des Betroffenen ein maßgeblicher Beitrag zur Aufklärung des Sachverhaltes, insbesondere zur Fahreridentifizie­rung, zu erwarten war. Solche wurden im Übrigen von der Tatrichterin in der den Antrag ableh­nenden Entscheidung auch nicht benannt. Im Übrigen hätte aber auch allein die theoretische Möglichkeit, der zur Hauptverhandlung geladene Zeuge könnte den Betroffenen als Fahrer des Fahrzeuges wiedererkennen, zur Ablehnung des Entbindungsantrages nicht genügt, wenn sich zuvor aus der Akte kein konkreter Hinweis dafür bot, dass der Zeuge entsprechende Be­obachtungen bezüglich des Führers des geparkten Fahrzeuges gemacht hatte (vgl. OLG Karlsruhe, a.a.O; BayObLG, VRS 64, 137 – zur sogn. Kennzeichenanzeige). Soweit das Amtsgericht die Ablehnung des Entbindungsantrages mit der Klärung der Frage begründet hat, ob ggf. ein Kostenbescheid nach § 25 a StVG gegen den Betroffenen erlassen wird, ist weder in der ablehnenden Entscheidung begründet noch anderweitig ersichtlich, inwieweit die­se Entscheidung vor dem Hintergrund der Erklärung des Betroffenen seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung erforderlich gemacht hat.“

Als Verteidiger muss man wissen, dass der Weg in den Fällen, in denen es um eine geringfügige Geldbuße geht und die Rechtsbeschwerde zugelassen werden müsste, über § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG geht – Stichwort: Versagung des rechtlichen Gehörs.

Und: Was mich erstaunt? Nun, dass der Amtsrichter trotz der m.E. eindeutigen Rechtsprechung der OLG hier auf der Anwesenheit des Betroffenen bestanden hat. Die Aufhebung war m.E. absehbar. Noch erstaunlich ist daher, dass die GStA das amtsrichterliche Urteil offenbar „gesund gebetet hat“. Denn anders ist der Verwerfungsantrag nicht zu erklären.