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OLG München: Was schert mich der EGMR – oder kein Abgesang auf die Berufungsverwerfung

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Ich hatte im Dezember über das EGMR, Urt. v. 08.11.2012 in Sachen Neziraj gegen Deutschland (Nr. 30804/07 (vgl. hier und hier) betreffend die deutsche Rechtslage im Hinblick auf die Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO berichtet. M.E. der zumindest teilweise Abgesang der Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO, aber ich hatte schon damals so meine Zweifel, ob die deutschen Gerichte dem folgen würden (vgl. zur verneinten Konventionswidrigkeit auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27. 2. 2012 – III-2 RVs 11/12 und OLG Hamm, Beschl. v. 14. 6. 2012 – III 1 RVs 41/12).

Und siehe da: Ich habe mich nicht getäuscht. Da ist die erste OLG-Entscheidung, die dem EGMR nicht folgt (fast bin ich geneigt zu schreiben: natürlich aus Bayern). Das OLG München geht im OLG München, Beschl. v. 17.01.2013, 4 StRR (A) 18/12 – von folgenden Leitsätzen aus:

„1. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 8. November 2012, StraFo 2012, 490ff., wonach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht mit Art. 6 Abs. 1 und 3 MRK vereinbar sei, verkennt das Regelungsgefüge dieser Vorschrift und die Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht.

2. Selbst bei einer unterstellten Konventionswidrigkeit ist die Vorschrift angesichts ihres eindeutigen Wortlautes von deutschen Gerichten aufgrund ihrer Bindung an die geltenden Gesetze anzuwenden und eine auf die Konventionswidrigkeit der Vorschrift gestützte Revision offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).“

Begründet wird das vom OLG u.a. wie folgt:

„aa) Zwar hält der EGMR in seiner neuesten Rechtsprechung (vgl. die vom Angeklagten angeführte Entscheidung vom 08.11.2012, Application no. 30804/07, Neziraj v. Germany, dort insbesondere Rdn. 55ff. – auszugsweise veröffentlicht in StraFo 2012, 490ff.) tatsächlich die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO im Fall eines verteidigten Angeklagten für nicht mit Art. 6 Abs. 1, 3 MRK vereinbar. Begründet wird das mit dem Recht auf Verteidigung, welches zu den tragenden Grundlagen eines fairen Verfahrens gehöre und welches der Angeklagte auch nicht allein dadurch verliere, dass er zur Verhandlung nicht erscheine.

 bb) Wie allerdings bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 27.12.2006, 2 BvR 535/04 (zitiert nach juris) ausgeführt hat, verkennt das alleinige Abstellen auf das Recht des Angeklagten zur effektiven Verteidigung das Regelungsgefüge des § 329 StPO. Auf die entsprechenden Ausführungen des BVerfG (aaO Rdn. 9ff.) wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Die durch § 329 Abs. 1 S. 1 StPO festgelegte Pflicht des Angeklagten zur persönlichen Anwesenheit (auf welche nebst den Folgen des Ausbleibens bereits in der Ladung hingewiesen wird) dient nämlich auch der Wahrheitsfindung und ist somit eine Ausprägung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit, über die der Angeklagte nicht disponieren kann, wie bereits § 338 Nr. 5 StPO zeigt. Hiermit setzt sich die Entscheidung des EGMR nicht auseinander.

Darüber hinaus scheint der Entscheidung des EGMR ein unzutreffendes Verständnis der Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht zugrunde zu liegen. Anders als in vielen anderen europäischen Rechtsordnungen ist der Verteidiger gerade nicht ohne weiteres der Vertreter des Angeklagten, der dessen Anwesenheit in der Hauptverhandlung entbehrlich macht, wie bereits § 234 StPO zeigt; er bedarf etwa auch für die Rücknahme von Rechtsmitteln einer gesonderten Ermächtigung des Angeklagten (vgl. § 302 Abs. 2 StPO).“

Nun ja – „scheint der Entscheidung des EGMR ein unzutreffendes Verständnis der Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht zugrunde zu liegen“ – ganz schön mutig. Ich bin gespannt, wie es weiter geht und vor allem: was macht die Bundesregierung oder der Gesetzgeber?

Nachtrag: Die Überschrift lautete zunächst: „OLG München: Was schert mich der EuGH – oder kein Abgesang auf die Berufungsverwerfung“, was natürlich falsch war. Muss „EGMR“ heißen und ist so auch richtig gestellt.


Verfahrensverzögerung: Doppelte Berücksichtigung bei der Strafzumessung

Der BGH, Beschl. v. 16.03.2011 – 5 StR 585/10 weist (noch einmal) auf einen Punkt hin, der bei der Strafzumessung manchmal übersehen wird, nämlich: Bei der Strafzumessung kann eine überlange Verfahrensdauer doppelt strafmildernd zu beachten sein, und zwar eben nicht nur bei der „allgemeinen Strafzumessung“, sondern auch hinsichtlich der Frage, ob nicht eine eigenständig bedeutsame Verfahrensverzögerung insgesamt eingetreten ist und ob die Verfahrensverzögerung als solche auch einen Verstoß gegen die EMRK dargestellt hat, was im Rahmen einer Kompensation im Wege der Vollstreckungslösung zu beachten ist.