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Pflichti I: Kleines Potpourri der Beiordnungsgründe, oder: Strafvollstreckung, Betreuung, Ausländer

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Heute dann zur Wochenmitte mal wieder ein „Pflichti-Tag“.

Ich beginne in diesem Posting mit drei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Die Mitwirkung eines Verteidigers im Verfahren zur Erledigung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist regelmäßig in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO erforderlich, wenn die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen fehlender Erfolgsaussicht trotz Fortbestehens des Therapiewillens des Untergebrachten gem. § 67d Abs. 5 StGB für erledigt erklärt wird.

1. Insbesondere bei einem unter Betreuung mit dem „Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden“ stehenden Angeklagten ist regelmäßig von einer Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit auszugehen, so dass ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO zu bestellen ist.

2. Gegen die Bestellung der Pflichtverteidigerin spricht nicht der Umstand, dass das Verfahren zum Zeitpunkt der Entscheidung nach § 154f StPO eingestellt ist.

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird bei einem nicht hinreichend sprachkundigen Angeklagten nicht bereits deshalb entbehrlich, wenn die sich aus den Sprachschwierigkeiten ergebenden Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers „abgemildert“ werden. Vielmehr kann in solchen Fällen nur dann von der Verteidigerbestellung abgesehen werden, wenn die Einschränkungen durch den Dolmetscher völlig ausgeglichen werden, was bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage fraglich sein kann.

 

Revision III: Hauptverhandlung ohne Dolmetscher, oder: Anforderungen an die Verfahrensrüge

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Und im dritten Posting komme ich dann noch einmal auf den KG, Beschl. v. 17.03.2022 – 3 Ws (B) 33/22 – zurück. Über den hatte ich schon hier unter Rechtsmittel II. Beschränkung des Einspruchs in der HV, oder: Erinnerungslücke beim Verteidiger? berichtet.

Heute weise ich auf die Ausführungen des KG zur Rüge des Betroffenen, das AG habe die Hauptverhandlung ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers durchgeführt, hin. Dazu das KG:

„a) Soweit der Betroffene rügt, die Hauptverhandlung vom 30. November 2021 sei ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers durchgeführt worden, obwohl er über keine ausreichenden Deutschkenntnisse verfüge, ist die Rechtsbeschwerde bereits unzulässig, weil sein Vorbringen nicht den Darlegungsvoraussetzungen von §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.

Will ein Betroffener – gestützt auf §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 338 Nr. 5 StPO, 187 Abs. 1 Satz 1 GVG – rügen, es sei ohne Dolmetscher verhandelt worden, obwohl dies zur Ausübung seiner prozessualen Rechte erforderlich gewesen sei, ist im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen er der Hauptverhandlung wegen mangelnder Sprachkenntnisse nicht folgen konnte. Ist ein Betroffener nur teilweise des Deutschen mächtig, liegt die Entscheidung des Gerichts, ob es die Hinzuziehung eines Dolmetschers für geboten hält – anders als bei Verfahrensbeteiligten, die keinerlei Deutschkenntnisse haben – in seinem Ermessen (vgl. BGH NStZ 1984, 328). Damit das Rechtsbeschwerdegericht feststellen kann, ob die Rechtsfolge von § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG vom Tatgericht zwingend anzuwenden war oder in seinem Ermessen stand, bedarf es der Angabe, ob der Betroffene der deutschen Sprache nicht oder nur teilweise mächtig war. War ein Betroffener nur teilweise der deutschen Sprache mächtig, sind zudem genaue Angabe der einzelnen Umstände, die bei einem wesentlichen Verfahrensteil die Zuziehung eines Dolmetschers geboten (Franke in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 338 Rdn. 138), erforderlich. Insbesondere ist darzulegen, wie weit die sprachlichen Fertigkeiten des Betroffenen reichten und was Gegenstand des in Rede stehenden Verhandlungsteiles war, zu dem er der Mitwirkung eines Dolmetschers bedurft hätte (vgl. BGH StV 1992, 54; BayObLG, Beschluss vom 28. Juni 2001 – 5St RR 168/01 -, juris).

Diesen Anforderungen genügt das Rechtsbeschwerdevorbringen nicht, denn es wird schon nicht mit der gebotenen Klarheit mitgeteilt, bei welchem – wesentlichen – Teil der Hauptverhandlung der Betroffene eines Dolmetschers bedurft hätte. Zudem finden sich keine hinreichend genauen Angaben zu den sprachlichen Fähigkeiten des Betroffenen, denn dieser hat lediglich pauschal behauptet, er sei des Deutschen nur “sehr eingeschränkt” mächtig bzw. seine Deutschkenntnisse seien “rudimentär”, zugleich aber vorgetragen, er habe sich in der Hauptverhandlung vom 30. November 2021 zur Sache eingelassen. Auf der Grundlage dessen vermag der Senat die Entscheidung des Amtsgerichts, ohne Dolmetscher zu verhandeln, auf seine Ermessensfehlerhaftigkeit und dem folgend auch nicht darauf zu überprüfen, ob die Hauptverhandlung im Sinne von §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 338 Nr. 5 StPO, 187 Abs. 1 Satz 1 GVG in Abwesenheit einer Person stattgefunden hat, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt.“

Pflichti III: Potpourri von Beiordnungsgründen, oder: Ausländer, Steuer, „ungeimpft“, Betreuung, Beweislage

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Und zum Tagesschluss dann noch einige Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – also i.d.R. §3 140 Abs. 2 StPO. Hier stelle ich aber nur die Leitsätze vor, sonst wird es zu viel. Den Volltext muss man dann ggf. selbst lesen 🙂 . Und da sind dann.

Zur (verneinten) Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein ukrainische Beschuldigte, der ein Vergehen gem. § 235 StGB vorgeworfen wird, deren Sprachdefizite durch die Zuziehung eines Dolmetschers ausgeglichen werden können.

Steht der Beschuldigte unter Betreuung und zählt zum Aufgabenkreis des Betreuers die Vertretung vor Behörden, ist insoweit stets von einer notwendigen Verteidigung wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung auszugehen.

Es liegt eine schwierige Beweislage, die die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordert vor, wenn zwei Justizorgane die Beweislage unterschiedlich beurteilen.

1. Es besteht schon eine schwierige Rechtslage, wenn divergierende obergerichtliche zu einer Rechtsfrage vorliegen, ohne dass bislang der BGH dazu entschieden hat (im Hinblick auf die Frage der Volksverhetzung für ein Profilbild, auf dem der gelbe Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ abgebildet ist.
2. Eine schwierige Rechtslage besteht wohl auch, wenn eine Verständigung erörtert wird.
3. Bei der Beurteilung der Schwere der Rechtsfolge sind in die Beurteilung ggf. durch eine Verurteilung drohende Nebenfolgen einzubeziehen.

In einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung ist die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten (§ 140 Abs. 2 StPO).

OWi I: Vernehmung eines „gestellten“ Zeugen, oder: Wer A sagt, muss auch mit einem Dolmetscher B sagen

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Nachdem ich Montag nur einen kleinen „OWi-Tag“ hatte, heute dann ein vollständiger. Es liegt im Moment aber auch nicht so viel an Rechtsprechung, über die man berichten könnte vor. Also: Ich kann Material gebrauchen.

Ich starte mit dem OLG Celle, Beschl. v. 21.09.2021 – 3 Ss (OWi) 220/21. Der Beschluss ist im Bußgeldverfahren ergangen, die verfahrensrechtliche Konstellation kann sich aber auch im Strafverfahren ergeben. Es geht um die unterbliebene Hinzuziehung eines Dolmetschers bei der Vernehmung eines Zeugen (§ 185 GVG, § 338 Nr. 5 StPO) Erfolg. Die Einzelheiten ergeben sich aus der Begründung des Beschlusses, mit dem das OLG aufgehoben hat:

„1. Das Rechtsbeschwerdevorbringen genügt den Begründungsanforderungen an eine solche Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG).

Der Beschwerdeführer hat vorgetragen, dass die Vorsitzende „seinen Beifahrer“ als Zeugen gefragt habe, ob er sicher sei, dass der Betroffene sein Handy nicht benutzt habe. Diese Frage habe er – der Beschwerdeführer – dem „k. Zeugen, der nur über sehr lückenhafte Deutschkenntnisse verfüge, übersetzt“. Das habe die Vorsitzende unterbunden. Sie habe sodann den Zeugen gefragt, ob er sich erinnern könne, wo die Verkehrskontrolle war, worauf der Zeuge nur „S.“ geantwortet habe. Daraufhin sei die Vernehmung beendet worden. Da der Beschwerdeführer den Zeugen „nicht als sprachunkundig angemeldet“ habe, sei ein Dolmetscher nicht anwesend gewesen.

Im Übrigen ergibt sich der maßgebliche Verfahrensgang aus den Urteilsgründen selbst (UA S. 4 unten, S. 5 oben). Danach hat der „vom Betroffenen mitgebrachte Zeuge R. J.“ mitgeteilt, dass er Beifahrer gewesen sei. Konkrete Erinnerungen an die Örtlichkeiten habe der Zeuge jedoch nicht mitteilen können. Ob es sich bei dem Zeugen tatsächlich um den Beifahrer gehandelt habe, habe auch nach Vernehmung der Polizeibeamten „nicht eindeutig verifiziert werden“ können. Aufgrund der „erheblichen Verständigungsprobleme“ sei auf eine „weitere Vernehmung verzichtet“ worden. Der Betroffene habe „keinen Beweisantrag“ gestellt.

2. Das Urteil unterliegt gemäß § 338 Nr. 5 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG der Aufhebung, weil entgegen § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG, § 46 Abs. 1 OWiG an der Hauptverhandlung kein Dolmetscher für den Zeugen J. teilgenommen hat.

a) Nach § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG, der auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren gilt (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 22. Juli 2015 – 1 Ss (OWi) 118/15, NStZ 2015, 720), ist ein Dolmetscher hinzuzuziehen, wenn unter Beteiligung von Personen verhandelt wird, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Beteiligt in diesem Sinn sind alle Personen, mit denen eine Verständigung mittels der Sprache notwendig ist, dazu gehören auch Zeugen (BayObLG, Beschluss vom 24. September 2004 – 1 St RR 143/04, NStZ-RR 2005, 178 mwN; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 185 GVG Rn. 1).

Ausweislich des Protokolls war in der Hauptverhandlung ein Dolmetscher für den Zeugen J. nicht anwesend, obwohl sich nach den Urteilsfeststellungen während der Vernehmung des Zeugen „erhebliche Verständigungsprobleme“ zeigten, die das Gericht dazu veranlassten, auf eine „weitere Vernehmung“ zu verzichten. Unter derartigen Umständen ist gemäß § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG die Hinzuziehung eines Dolmetschers geboten, auch wenn sich deren Notwendigkeit erst im Verlauf der Vernehmung herausstellt (BayObLG aaO).

b) Eine andere Bewertung der Verfahrensweise ergibt sich auch nicht daraus, dass es sich um einen mitgebrachten („sistierten“) Zeugen handelte und ein Beweisantrag nicht gestellt wurde.

Zwar gelten die besonderen Regeln für präsente Beweispersonen nach § 245 Abs. 2 StPO nur, wenn diese vom Betroffenen förmlich nach § 38 StPO unter Einschaltung eines Gerichtsvollziehers zur Hauptverhandlung geladen werden und zudem ein förmlicher Beweisantrag gestellt wird. Die Aufklärungspflicht des Gerichts (§ 77 Abs. 1 OWiG) wird durch § 245 Abs. 2 StPO indes nicht eingeschränkt. Wenn es der Sachaufklärung dient, muss das Gericht von Amts wegen jedes erreichbare Beweismittel ausschöpfen, auch wenn ein förmlicher Beweisantrag nicht gestellt wird oder die Anwesenheit der Beweisperson nicht in der gesetzlich geforderten Form bewirkt wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 1981 – 1 StR 385/81, NStZ 1981, 401; Becker in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. § 245 Rn. 7).

Hier hat das Amtsgericht der Beweisanregung des Betroffenen stattgegeben und den von ihm mitgebrachten Zeugen J. vernommen. Es hat damit zu erkennen gegeben, dass es die Vernehmung des Zeugen für sachdienlich erachtet. Die Annahme, dass die Vernehmung des Zeugen der gebotenen Sachaufklärung dient, hat sich auch spätestens in dem Moment bestätigt, als der Zeuge bekundet hat, er sei Beifahrer des Betroffenen – mithin unmittelbarer Tatzeuge – gewesen. Vor diesem Hintergrund war es rechtlich geboten, die Vernehmung des Zeugen ordnungsgemäß und vollständig durchzuführen. Dass sich das Amtsgericht daran aufgrund erheblicher Verständigungsprobleme gehindert sah, rechtfertigt es nicht, die Vernehmung abzubrechen und den möglichen Entlastungsbeweis nicht weiter zu erheben. Die Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung gebietet auch die erschöpfende Nutzung der zugezogenen Beweismittel; gehörte Beweispersonen müssen so vernommen werden, dass sie ihr ganzes verfahrenserhebliches Wissen offenbaren (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 1997 – 4 StR 23/97, BGHSt 43, 63, 64; BayObLG aaO; Becker aaO § 244 Rn. 64 mwN). Das Unterbleiben einer erschöpfenden Vernehmung des Zeugen ergibt sich im vorliegenden Fall aus den Urteilsgründen selbst und ist deshalb der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht ohne eine – regelmäßig unzulässige – Rekonstruktion der Beweisaufnahme zugänglich. Soweit das Gericht auf eine weitere Vernehmung verzichtet hat, nachdem der Zeuge „konkrete Erinnerungen an die Örtlichkeiten“ nicht habe mitteilen können, ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen, ob und auf welche Weise das Gericht mit Blick auf die festgestellten erheblichen Verständigungsprobleme sichergestellt hat, dass der Zeuge die Frage richtig verstanden hat.

c) Da die Hauptverhandlung somit in Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz (§ 185 Abs. 1 Satz 1 GVG) vorschreibt, stattgefunden hat, besteht der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO (BayObLG aaO; Wickern in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. § 185 GVG Rn. 37). Dieser gilt nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG auch im Rechtsbeschwerdeverfahren (vgl. KK/OWiG-Hadamitzky § 79 Rn. 109 mwN).“

M.E. zutreffend. Denn „Wer A sagt, muss auch B“ sagen = wen sich das Gericht entschieden hat, den „gestellten“ Zeugen zu vernehmen, dann ist es an diese Entscheidung gebunden und kann dan nicht – ohne Gründe – davon abweichen, hier weil es ohne Dolmetscher zu schwierig wurde.

Pflichti III: Täter/Opfer bei einer „körperlichen Auseinandersetzung, oder: Zumindest dann Pflichtverteidiger

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Die dritte Pflichtverteidigungsentscheidung kommt mit dem LG Leipzig, Beschl. v. 01.07.2019 – 1 Qs 138/19 – heute dann noch einmal aus dem Osten. Sie behandelt die Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen ausländischen Beschuldigten im Fall der Körperverletzung, wenn er zugleich Täter und Opfer sein soll. Das AG hatte abgelehnt, das LG ordnet mit der Begründung: Sonderfall, bei:

„Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln gegen den Angeklagten wegen Vorwürfen der Körperverletzung und der Beleidigung.

Insoweit erließ das Amtsgericht Torgau am 26.04.2019 einen Strafbefehl, mit dem dem Angeklagten folgender Sachverhalt zur Last gelegt wurde:

„Am 20.02.2019 gegen 1900 Uhr verletzten Sie auf der Bahnhofstraße in 04758 Oschatz den pp., indem Sie den Geschädigten in das Gesicht und in den Bauch schlugen. Hierdurch erlitt der Geschädigte, wie von Ihnen zumindest vorhergesehen und billigend in Kauf genommen, eine blutende Nase, eine Verletzung an der Unterlippe sowie eine blutende Wunde am linken Zeigefinger. Dann bezeichneten Sie den Geschädigten mit den Worten „Hure“ und „Zuhälter“, um ihre Missachtung auszudrücken. … „

Als Rechtsfolge sollte eine Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen zu je 30 € festgesetzt werden.

Der Angeklagte legte mit Verteidigerschriftsatz vom 16.05.2019 Einspruch ein und beantragte die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger. Dabei wurde umfangreich darauf hingewiesen, dass der Angeklagte als ausländischer Staatsangehöriger mit den Gepflogenheiten des deutschen Prozessrechts nicht ausreichend vertraut sei, eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliege und die Probleme im Rahmen einer Beweiswürdigung nicht durch die Beiordnung eines Dolmetschers gelöst werden könnten.

Darüber hinaus trug der Verteidiger vor, dass auch gegen das mutmaßliche Opfer ein Ermittlungsverfahren wegen dieses Sachverhalts anhängig sei (Az.: 951 Js 13845/19), weswegen zur Klärung des komplexen Sachverhaltes der Angeklagte eines Verteidigers bedürfe.

Durch den angefochtenen Beschluss vom 08.06.2019 wies das Amtsgericht Torgau den Antrag, dem Angeklagten einen notwendigen Verteidiger zu besteilen, zurück. Dabei wies das Gericht darauf hin, dass den Belangen des Angeklagten, insbesondere hinsichtlich der Sprachprobleme durch die Beiziehung eines Dolmetschers ausreichend begegnet werden könne. Auch sei die angeklagte Tat dem Kulturkreis des Angeklagten sicherlich nicht fremd. Eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage sei nicht zu erkennen.

Gegen diesen Beschluss wandte sich der Angeklagte mit der durch Verteidigerschriftsatz vom 13.06.2019 erhobenen Beschwerde, in dem nochmals auf das „Gegenverfahren“ des in diesem Fall mutmaßlich Geschädigten hingewiesen wurde.

Die zulässige Beschwerde ist auch begründet und führt vorliegend zur Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als notwendiger Verteidiger des Angeklagten.

Dem Amtsgericht Torgau ist zunächst insoweit Recht zu geben, dass die von dem Verteidiger vorgetragenen Argumente hinsichtlich möglicher Sprachbarrieren, anderen Kulturkreises u.a. nicht zu überzeugen vermögen. Der Angeklagte befindet sich seit mehreren Jahren in der Bundesrepublik. Auch sind Vorwürfe der Körperverletzung und Beleidigung auch dem Kulturkreis des Angeklagten in keine Weise fremd, wobei die „Besonderheiten“ des deutschen Straf- und Strafprozessrecht dem Angeklagten mittels eines Dolmetschers sicherlich problemlos vermittelt werden können. Auch der Umstand, dass eine mögliche Aussage-gegen-Aussa¬ge-Konstellation vorliegen könnte – der Angeklagte hat allerdings im Rahmen dieses Verfahren bisher von seinem Recht zu schweigen Gebrauch gemacht – rechtfertigt keine andere Entscheidung. Wollte man die Argumentation des Verteidigers zu dieser Problematik übernehmen, müsste quasi in jedem Fall, in dem ein Angeklagter nicht vollumfänglich gesteht, diesem einen Pflichtverteidiger beigeordnet werden. Dies ist von dem Gesetzgeber und der Ausgestaltung des § 140 StPO ersichtlich nicht gewollt. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass der Sachverhalt als solches übersichtlich ist, bereits auf Blatt 20 der Akte sich der Strafbefehl befindet und eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage, die gemäß § 140 Abs. 2 StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten könnte, nach Aktenlage – isoliert betrachtet für dieses Verfahren – erkennbar nicht vorliegt.

Allerdings hatte die Kammer vorliegend folgende Besonderheit zu berücksichtigen:

Gegen den in dem hier gegenständlichen Verfahren mutmaßlich Geschädigten pp. hat die Staatsanwaltschaft Leipzig ebenfalls am 11.04.2019 folgende Anklageschrift erhoben (Az.: 951 Js 13845/19):

„Am 20.02.2019 gegen 19.00 Uhr verletzte der Angeschuldigte auf der Bahnhofstraße in 04758 Oschatz den pp., in dem der Angeschuldigte mehrfach mit dem Fuß gegen den Brustkorb des Geschädigten trat. Sodann würgte der Angeschuldigte den Geschädigten mit einem Schal, sodass der Geschädigte in der Folge etwa 30 Sekunden bewusstlos war. Währenddessen schrie der Angeschuldigte zu dem Geschädigten die Worte: „Ich bringe dich um“. Hierdurch erlitt der Geschädigte, wie von dem Angeschuldigten zumindest vorhergesehen und billigend in Kauf genommen, eine Fraktur des Brustbeins, eine Thoraxprellung, eine Verstauchung und Zerrung der Halswirbelsäule, Prellungen des Handgelenks und der Hand sowie eine Quetschung an Zahn 42 und eine Bis 2 Fraktur am Zahn 41. Aufgrund der Verletzungen, die seitens des behandelnden Arztes zunächst als lebensbedrohlich eingestuft wurden, wurde der Geschädigte stationär in der pp.-Klinik in Oschatz behandelt. Der Angeschuldigte nahm dabei zumindest billigend in Kauf, dass der Geschädigte durch die Tat lebensgefährliche Verletzungen davonträgt.“

Die Staatsanwaltschaft wertete diesen Sachverhalt als gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 5, 223 Abs. 1 StGB. Insoweit geht die Staatsanwaltschaft offensichtlich von dem zeitgleichen Sachverhalt aus, wobei die beiden Kontrahenten der Auseinandersetzung einmal als Angeklagte, einmal als Opfer bezeichnet werden.

Der Kammer ist bewusst, dass gerade im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung möglicherweise beide Kontrahenten sich strafbar gemacht haben könnten. Allerdings erschließt sich der Kammer vorliegend nicht, inwieweit gerade im Falle auch der Anklageerhebung gegen beide Kontrahenten – erhoben durch denselben Staatsanwalt – keine Überlegungen zu möglichen Verteidigungsverhalten, Beginn der Auseinandersetzung u.a. ersichtlich sind. Dies gilt umso mehr, als bereits im Schlussbericht auf Blatt 14 der Akte auf die Gegenanzeige und die dort vorhandenen möglichen Angaben des Beschuldigten hingewiesen worden ist.

Insoweit sind ausnahmsweise unter dieser besonderen Konstellation – Anklageerhebung unter wechselnder Schuldzuweisung < Täter-Opfer > die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO gegeben, weshalb aufgrund des Fehlens sonstiger Gesichtspunkte, die für eine Pflichtverteidigung sprechen könnten, für diesen Sonderfall die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten war. Insoweit war Rechtsanwalt pp. zu bestellen, da in seiner Person Gründe, die der Beiordnung entgegenstehen könnten, nicht ersichtlich sind.“

In meinen Augen hat die Kammer gerade noch einmal die Kurve bekommen. Denn für mich hätten schon die übrigen Gründe gereicht, dem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Aber das war offensichtlich nicht gewollt.

Kleine Anmerkung zur Kostenentscheidung: Die lautet: „Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last“, was zutreffend ist. Allerdings beruht die Kostenentscheidung dann nicht auf § 465 StPo, wie die Kammer im Beschluss ausführt, sondern wohl auf § 467 StPO. Kann passieren (?).