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StPO I: Zeitpunkt „nicht logisch nachvollziehbar“, oder: Wahrnehmung prozessualer Schweigerechte

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Und heute dann drei Entscheidungen aus dem StPO-Bereich.-

Zunächst hier noch einmal der BGH, Beschl. v. 16.08.2023 – 5 StR 126/23 -, den ich ja schon einmal hier unter StPO II: Grundloses Nichterscheinen des Zeugen, oder: Verletzung des Konfrontationsrechts?, vorgestellt hatte.

Heute dann nochmals wegen der Ausführungen des BGH zur Beweiswürdigung:

„3. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben.

Allerdings findet sich in der Beweiswürdigung der Strafkammer zur Vorgeschichte der Tat, die rechtlich bedenkliche Wendung, es sei „nicht logisch nachvollziehbar, warum der Angeklagte seine Geschichte nicht schon im Anschluss hieran [an die Vernehmung des Zeugen am ersten Hauptverhandlungstag], sondern erst am dritten Verhandlungstag vorgetragen“ habe. Darin könnte zum Ausdruck kommen, das Landgericht habe allein aus der Wahrnehmung prozessualer Schweigerechte unzulässige Schlüsse gezogen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – 5 StR 411/20, NStZ 2021, 319 mwN, insoweit auch zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Berücksichtigung der Umstände der Einlassung, wie etwa der Möglichkeit, die Einlassung an bisherige Ermittlungsergebnisse anzupassen). Gleiches gilt, soweit es für seine Einschätzung, es handele sich bei der Einlassung des Angeklagten zur Tat um Schutzbehauptungen, ausgeführt hat, es sehe „sich in dieser Annahme nicht zuletzt angesichts des späten Zeitpunkts der Einlassung des Angeklagten bestätigt.“ Mit Blick auf die rechtsfehlerfreie Gesamtwürdigung der Strafkammer, die – ohne Berücksichtigung des Zeitpunkts der Einlassung – die Darstellung des Tatgeschehens durch den Angeklagten nachvollziehbar als unglaubhaft gewertet hat, schließt der Senat aus, dass das Urteil insoweit auf einem etwaigen Rechtsfehler beruht.

OWi II: Es war kein Handy, sondern ein Kühlakku, oder: „etwas unglückliche“ Beweiswürdigungsformulierung

Kühlakku

Und dann als zweite Entscheidung dann der OLG Hamm, Beschl. v. 29.08.2023 – III-5 ORbs 70/23 – zur Beweiswürdigung bei einem Handyverstoß.

Das AG hatte den Betroffenen wegen eines Verstoßes gegen § 23 Abs. 1 StVO verurteilt. Hier das AG Iserlohn, Urt. v. 15.11.2021 – 18 OWi 271/21 -, das ich mit einstelle, da man sonst den OLG Beschluss nicht versteht. Darin führt das AG aus:

„Der Betroffenen hat das Tatgeschehen bestritten. Er hat angegeben, immer Probleme mit seinen Zähnen gehabt zu haben und ein Kühlakku, welches von einem anthrazitfarbenen Handtuch umwickelt war, an seine linke Wange gehalten zu haben. Diesen Kühlakku brachte er zum Hauptverhandlungstermin mit.

Diese Angaben waren nach der durchgeführten Beweisaufnahme und Inaugenscheinnahme des besagten Akkus als Schutzbehauptung widerlegt.

Zum einen konnte schon eine Ähnlichkeit zwischen einem Handy und dem umwickelten Kühlakku nicht festgestellt werden. Die Einlassung des Angeklagten war schon wenig nachvollziehbar und plausibel. Gleichzeitig ist nicht nachvollziehbar weil widersprüchlich, aus welchen Gründen der Betroffene im Rahmen der anschließenden Verkehrskontrolle den einschreitenden Polizeibeamten gar nichts hinsichtlich seines vermeintlich genutzten Kühlakkus erwähnt hat. Erschwerend und mitentscheidend für die mangelnde Glaubhaftigkeit der Einlassung des Betroffenen sind die glaubhaften Angaben der Zeugin pp.. Diese gab an, dass sie sich vage erinnern könne. Sie wisse noch, dass es sich um eine gezielte Verkehrsüberwachung gehandelt habe und sie gefahren sei, der Kollege habe hinten und die Kollegin neben ihr im Fahrzeug gesessen. Sie hätten alle den Verstoß gesehen. Es habe sich 100 %-ig um ein Mobiltelefon gehandelt, keinesfalls um den mitgebrachten Kühlakku oder Ähnliches. Daran erinnere sie sich genau, da der Betroffene das Handy sofort heruntergenommen habe, als er von ihnen —den Zeugen- entdeckt worden sei. Die Angaben sind glaubhaft, weil lebensnah, plausibel und im Wesentlichen widerspruchsfrei. Es bestehen weder Zweifel an der Wahrnehmungsfähigkeit noch an der Wahrnehmungsbereitschaft der Zeugin. Insbesondere hat die Zeugin den Betroffenen nicht übermäßig belastet und hat auch eingeräumt, dass sie sich an die zeitliche Abfolge, wie lange sie n.eben dem Betroffen hergefahren seien, nicht genau erinnern könne. Auch ist keinerlei Motivation einer Falschbelastung auf Seiten der Zeugin erkennbar. Maßgeblich für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin war, dass diese das Geschehen in sich konstant wiedergegeben hat. Die Angaben standen auch nicht im Widerspruch zu den Bekundungen des Zeugen pp. Der Zeuge gab sofort an, sich nicht mehr genau an das Tatgeschehen erinnern zu können. Ob er oder seine Kollegin gefahren sei, wisse er nicht mehr genau. Er konnte sich lediglich an die Verkehrsüberwachung erinnern und daran, dass der Betroffene im Gespräch angegeben habe: „Eine Sauerei, dass aus einem Zivilfahrzeug heraus kontrolliert wird!“ Insoweit wertet das Gericht die Angaben des Betroffenen lediglich als reine Schutzbehauptung.

Dagegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die das OLG verworfen hat, und zwar mit folgendem Zusatz:

„Die Erwägungen in dem Schriftsatz des Verteidigers vom 25.08.2023 rechtfertigen keine andere Entscheidung.

Zwar ist die Formulierung des Tatgerichts in der Beweiswürdigung betreffend das Verhalten des Betroffenen im Rahmen der Verkehrskontrolle (vgl. UA S. 3) etwas unglücklich. Gleichwohl lässt sich daraus nicht der Schluss ziehen, das Amtsgericht habe das Schweigerecht des Betroffenen bzw. den Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ verletzt. Zum einen kann auch der Zeitpunkt, zu dem sich ein Betroffener zur Sache einlässt, ein Umstand sein, der im Rahmen der Gesamtwürdigung die Glaubhaftigkeit der Einlassung beeinflussen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 22.02.2001 — 3 StR 580/00 = BeckRS 2001, 30163532, beck-online). Zum anderen hat der Betroffene ausweislich der Urteilsgründe gar nicht vollständig von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht, sondern geäußert, es sei eine Sauerei, dass aus einem Zivilfahrzeug heraus kontrolliert werde (vgl. UA S. 4). Darüber hinaus ist die tragende Erwägung im Rahmen der — nur eingeschränkt überprüfbaren — Beweiswürdigung des Tatgerichts die Aussage der Zeugin.“

Als ich die Einlassung gelesen habe, musste ich mich an meine Fortbildungen im Verkehrsrecht erinnern 🙂 . Lang, lang ist es her, aber wird offenbar immer noch gern genommen die Einlassung. 🙂 .

OWi I: Geschwindigkeitsüberschreitung auf der BAB, oder: Beweiswürdigung beim Vorsatz

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Und dann heute ein wenig OWi, ein paar Entscheidungen habe ich vorliegen, die ich vorstellen kann.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 06.09.2023 – 202 ObOWi 910/23 – zur „richtigen“ Beweiswürdigung hinsichtlich des Vorsatzes bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer auf einer Autobahn begangenen vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Dazu führt das BayObLG aus:

„Nach den Urteilsfeststellungen befuhr der seine Fahrereigenschaft einräumende, Richtigkeit und Verwertbarkeit der (standardisierten) Messung nicht anzweifelnde Betroffene am 24.11.2022 um 17.01 Uhr als Führer eines Personenkraftwagens die BAB A8 in Richtung München, wobei er in Höhe der Messstelle die zuvor jeweils durch beidseitig insgesamt dreimal aufgestellte Schilderpaare auf 130 km begrenzte zulässige Höchstgeschwindigkeit mit gemessenen (mindestens) 181 km/h um 51 km/h überschritt. Der Betroffene handelte hierbei nach Ansicht der Amtsgerichts vorsätzlich, da er „entweder […] die zulässige Höchstgeschwindigkeit erkannt“ hatte, „indem er mindestens eines der sechs aufgestellten Schilder gesehen […] und diese bewusst ignoriert, oder […] die Beschilderung von Anfang an völlig ignoriert und außer Betracht gelassen und gleichzeitig die ihm bekannte Geschwindigkeitsbegrenzung völlig verdrängt“ hat, „so dass er zumindest billigend in Kauf genommen hat, die Geschwindigkeitsbegrenzung massiv zu überschreiten“.

Zum Tatvorwurf ließ sich der Betroffene im Wesentlichen dahin ein, dass er sich auf dem Weg von seinem Wohnort zu einem Termin in München befunden habe und die Strecke regelmäßig befahre. Bis zu dem Termin um 19.30 Uhr habe er reichlich Zeit gehabt, weshalb er nicht sofort auf die Autobahn aufgefahren, sondern zunächst noch weiter Landstraße bis Leipheim gefahren sei. Noch vor der Geschwindigkeitsmessung habe er sich an der dortigen Tank- und Rastanlage etwas zum Trinken gekauft, ehe er erst an der dortigen Anschlussstelle in Fahrtrichtung München auf die Autobahn aufgefahren sei. Die Strecke zum Flughafen München kenne er gut, da er geschäftlich häufig über den besagten Flughafen reise. „Am Tattag sei er wohl unachtsam gewesen und habe deshalb das 130er-Schild nicht gesehen. Es sei ein Versehen gewesen, dass er so schnell gefahren sei“. Das Amtsgericht hat diese Einlassung des Betroffenen dahin gewürdigt, dass selbst dann, wenn man zu seinen Gunsten hinsichtlich der behaupteten Fahrtstrecke aufgrund des vorangegangenen Halts an der Tank- und Rastanlage nicht von einer Schutzbehauptung ausgehe und der Betroffene deshalb nur ein die Geschwindigkeit auf 130 km/h begrenzendes Schilderpaar vor der Messstelle passiert haben sollte, von Tatvorsatz auszugehen sei. Denn insoweit sei zu berücksichtigen, dass der Betroffene „beim Verlassen der Tank- und Rastanlage […] genau auf ein Verkehrszeichen mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit 130 km/h zugefahren“ sei, welches „prominent am Ende des Beschleunigungsstreifens“ stehe, weshalb man „auf das rechte der beiden Verkehrszeichen […] quasi direkt“ zufahre. Im Übrigen habe der Betroffene nicht geltend gemacht, dass dieses Schild durch Schwerlastverkehr verdeckt gewesen sei, obwohl er sich an diverse andere Details zum Tattag noch genau erinnern könne. Weiter sei zu berücksichtigen, dass die vorhandene Begrenzung seit Jahren unverändert bestehe und der Betroffene selbst angebe, die Strecke regelmäßig zu befahren, weshalb er die massive Geschwindigkeitsüberschreitung „in jedem Fall zumindest billigend in Kauf genommen“ habe.“

Dagegen die Rechtsbeschwerde, die Erfolg hat. Das BayObLG moniert die Beweiswürdigung. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung – Rest dann bitte im Selbstleseverfahren:

    1. Die Möglichkeit, die eine Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn anordnenden Verkehrszeichens übersehen zu haben, ist stets dann in Rechnung zu stellen, wenn sich hierfür Anhaltspunkte ergeben oder im Verfahren von dem Betroffenen eingewandt wird, die beschränkenden Vorschriftszeichen übersehen zu haben. Ist ein solcher Fall gegeben, müssen die tatrichterlichen Feststellungen deshalb selbst bei einer massiven Geschwindigkeitsüberschreitung eindeutig ergeben, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsbeschränkung kannte und entweder bewusst dagegen verstoßen oder aber den Verstoß zumindest billigend in Kauf genommen hat.
    2. Die der Verurteilung wegen einer auf einer Autobahn (bedingt) vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung zugrunde liegende Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft, wenn sie auf einer vom Tatgericht angenommenen Tatsachenalternativität beruht, deren Grundlagen durch die Beweisaufnahme nicht durch Tatsachen belegt sind, die erkennen lassen, dass die gezogenen Schlussfolgerungen mehr als nur eine Vermutung rechtfertigen.

Einzelrichter.

StPO I: Divergierende Urkundenübersetzungen, oder: Gibt es einen Erfahrungssatz „Weglaufen“?

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Und heute am Dienstag dann StPO-Entscheidungen. Alle Entscheidungen, die ich vorstellen werde, stammen vom BGH.

Ich beginne – zum Warmwerden – mit zwei „kleineren“ Entscheidungen des BGH, und zwar:

„Zwar kann es grundsätzlich einen Erörterungsmangel darstellen, wenn unterschiedliche Übersetzungen derselben Kommunikation als Urkunden in die Beweisaufnahme eingeführt werden und sich das Tatgericht mit erheblichen Abweichungen der verschiedenen Übersetzungen nicht befasst. Insoweit geht es der Sache nach nicht um allgemeine Zweifel an der Richtigkeit einer Übersetzung (s. dazu BGH, Beschluss vom 27. November 2018 – 3 StR 339/18, NStZ-RR 2019, 57), sondern um die fehlende Auseinandersetzung mit erhobenen Beweisen. Allerdings kann die Verfahrensrüge nach § 261 StPO („Inbegriffsrüge“), mit der die Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung wegen der nicht erschöpfenden Würdigung des Beweismaterials gerügt wird, der Revision nur dann zum Erfolg verhelfen, wenn sich mit Rücksicht auf die sonstigen Feststellungen eine Erörterung aufdrängen musste (st. Rspr.; etwa BGH, Urteil vom 25. August 2022 – 3 StR 359/21, StV 2023, 293 Rn. 50 mwN). Eine solche Konstellation ist hier nicht gegeben. Insbesondere wird aus beiden Übersetzungen des – für die Beweiswürdigung nicht allein maßgeblichen – Gesprächs ohne weiteres deutlich, dass sich die Männerstimme im Hintergrund ebenso wie die Gesprächspartnerin im Zusammenhang mit den Taliban ersichtlich ablehnend äußert.“

Das Landgericht hat zur Widerlegung der vom Angeklagten behaupteten Notwehrlage in der Beweiswürdigung unter anderem ausgeführt, es entspreche „allgemeiner Lebenserfahrung“, dass ein zuvor Angegriffener froh sei, wenn sein Widersacher weglaufe und ihm so kein weiterer Übergriff drohe. Aus dem von Zeugen beobachteten Verfolgen des Opfers durch den Angeklagten hat es anschließend gefolgert, dass dies gegen den vom Angeklagten behaupteten vorherigen Angriff des Verletzten spreche.

Zwar bestehen Bedenken gegen einen etwaigen Erfahrungssatz dieser Art. Der Senat schließt angesichts der übrigen rechtsfehlerfreien Erwägungen des Landgerichts aber aus, dass die Ablehnung der Notwehrlage auf der bezeichneten Wendung beruht (§ 337 Abs. 1 StPO).“

Verkehrsrecht III: Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Dichtes Auffahren des Hintermannes

Und als dritte Entscheidung dann der KG, Beschl. v. 02.08.2023 – 3 ORbs 158/23 – 122 Ss 71/23. Am Aktenzeichen erkennt man, dass die Entscheidung ein OWi-Verfahren betrifft.

Es geht um eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Polizei Berlin hat mit Bußgeldbescheid v gegen den Betroffenen wegen einer innerörtlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h (erlaubt: 50 km/h) eine Geldbuße von 260 Euro verhängt und ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Dagegen der Einspruch. Das AG hat dann in seinem Urteil nur eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 25 km/ für erwiesen angesehen. In der Beweiswürdigung heißt es insoweit:

„Auf dem Tatvideo ist zu erkennen, dass der Betroffene zunächst gleichbleibend mit einer Geschwindigkeit von etwa 75 Stundenkilometern auf der äußerst rechten Fahrspur fährt, als ein in der mittleren Fahrspur fahrendes Klein-fahrzeug in dem Moment in die rechte Fahrspur wechseln wollte, als sich der Betroffene mit seinem Fahrzeug auf Höhe dieses Fahrzeugs befand, musste das Kleinfahrzeug ruckartig in die mittlere Fahrspur zurücklenken und der Betroffene sein Fahrzeug kurz abbremsen. Dabei ist zu erkennen, dass das messende Polizeifahrzeug so dicht auf den vom Betroffenen geführten PKW auffährt, dass zwar noch das Kennzeichen zu erkennen ist, nicht jedoch der untere hintere Karosserieabschluss des Fahrzeugs des Betroffenen. Nach einem Abbremsen beschleunigte der Betroffene dann das Fahrzeug und fährt über die mittlere in die äußerst linke Fahrspur ein, wobei er das Fahrzeug stark beschleunigt. Ebenfalls ist auf dem Tatvideo zu erkennen, dass die Beschleunigung vom Messwert 1.540 bis 1.600 Meter andauert und der Betroffene sodann die von ihm gefahrene Geschwindigkeit verringert, ohne das Fahrzeug abzubremsen. Während des Spurwechsels von der äußerst rechten in die äußerst linke Fahrspur und eine kurze Fahrtstrecke auf der äußerst linken Fahrspur verringert sich der Abstand des hinterherfahrenden Fahrzeugs nicht. Erst als der Betroffene das Fahrzeug ohne Abbremsung des Fahrzeugs die Geschwindigkeit verringert und schließlich in die äußerste rechte Fahrbahn wechselt, wird der Abstand zum Polizeifahrzeug deutlich größer.“

Dagegen die Rechtsbeschwerder der Amtsanwaltschaft, die beim KG Erfolg hatte:

„1. Die Feststellungen des angefochtenen Urteils enthalten keinerlei Ausführungen zur inneren Tatseite. Ob sich dies im hier gegebenen Fall einer innerorts fahrlässig begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung bereits als durchgreifender und zur Aufhebung des Urteils führender Rechtsfehler erweist, kann offenbleiben. Denn auch die Beweiswürdigung ist unzureichend.

2. So stehen die Feststellungen im Widerspruch zu den erhobenen Beweisen. Während es bei den Feststellungen heißt, der Betroffene habe die zulässige Geschwindigkeit „um 25 Stundenkilometer“ überschritten, heißt es bei der Beweiswürdigung, der Betroffene habe, ausgehend von einer Geschwindigkeit von 75 km/h, noch „weiter beschleunigt“ (UA S. 3). Bei den Feststellungen, jedenfalls aber bei der Beweis-würdigung, müsste sich somit der über 75 km/h liegende Wert finden, den das Amtsgericht für objektiv erwiesen erachtet. Dies gilt auch für den Fall, dass das Amtsgericht diesen Wert für „nicht vorwerfbar“ (UA S. 4) hält. Denn nur, wenn die vom Betroffenen tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit mitgeteilt wird, kann das Rechtsbeschwerdegericht die Würdigung des Tatrichters überprüfen, ob der Wert auch „vorwerfbar“ ist.

3. Auch bleibt gänzlich unklar, auf welcher Grundlage das Amtsgericht zum Ergebnis gekommen ist, dass der Betroffene die zulässige Geschwindigkeit um – nur – 25 km/h überschritten hat. Aus der Beweiswürdigung ergibt sich, dass der Betroffene von einem Polizeifahrzeug verfolgt worden ist; offenbar ist die Geschwindigkeit also durch Nachfahren bestimmt worden.

a) Das Amtsgericht teilt nicht mit und nimmt für seine schriftlichen Urteilsgründe da-mit nicht in Anspruch, dass die Geschwindigkeit durch ein zugelassenes und geeichtes Messgerät bestimmt worden ist. Dem Urteil ist weder die Bezeichnung eines bestimmten Messverfahrens zu entnehmen noch die Veranschlagung eines bei diesem Messverfahren angezeigten Toleranzabzugs. Die Beweiswürdigung kann damit auch die Vereinfachungen, die für standardisierte Messverfahren gelten (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2023 – 2 BvR 1167/20 – [juris]), nicht beanspruchen. Die Beweise müssen somit in einer Weise dargelegt und gewürdigt werden, die es dem Rechtsbeschwerdegericht erlaubt, die Überzeugungsbildung des Tatgerichts nachvollziehen (vgl. Senat DAR 2015, 99). Dies ist hier nicht geschehen.

b) Die Beweiswürdigung enthält schon keine Angaben zur Messstrecke. Zwar ist der rechtlichen Würdigung zu entnehmen, dass es eine „Gesamtmessstrecke von ca. 1.600 Metern“ (UA S. 4) gegeben habe. Allerdings enthält das Urteil keine konsistenten Angaben zu dem vom verfolgenden Polizeifahrzeug während des gesamten Messvorgangs eingehaltenen Abstand (vgl. zum sog. Verfolgungsabstand grundlegend Senat DAR 2015, 99). Die Beweiswürdigung enthält lediglich eine kurze Sequenz dazu, dass das Polizeifahrzeug einmal dicht aufgefahren sei und dass sich der Abstand später „nicht verringert“ habe (UA S. 3). Zur Höhe des festgestellten Bruttowerts, also dem auf dem Tachometer des Polizeifahrzeugs abgelesenen Wert, verhält sich das Urteil ebenso wenig wie zum abgezogenen Toleranzwert. Auch ver-schweigt das Urteil, ob der Tacho des verfolgenden Fahrzeugs geeicht war, was in aller Regel von Bedeutung für den zu veranschlagenden Toleranzabzug ist. Die An-forderungen an einen durch Nachfahren gewonnen Nachweis der Geschwindigkeit verfehlt das Urteil damit auf ganzer Linie.

4. Fehl geht auch die im Rahmen der rechtlichen Würdigung dargestellte Überlegung, eine – möglicherweise tatsächlich festgestellte, aber im Urteil nicht belegte – Geschwindigkeitsüberschreitung von 38 km/h sei dem Betroffenen „nicht vorzuwerfen“, weil „diese lediglich über eine Geschwindigkeit [gemeint offenbar: Strecke] von nicht einmal 200 Metern bei einer Gesamtmessstrecke von ca. 1600 Metern andauerte“ und der Betroffene sich bedrängt gefühlt habe (UA S. 5). Möchte das Amtsgericht hier andeuten, der Betroffene sei mit der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h wegen dichten Auffahrens des nachfolgenden Polizeifahr-zeugs gerechtfertigt oder entschuldigt, so hat es nicht nur das äußere Geschehen aufzuklären und darzustellen, sondern auch die subjektive Seite mitzuteilen und zu erörtern. Denn einen Rechtssatz, eine Annäherung des nachfolgenden Fahrzeugs erlaube eine – zumal drastische – Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, gibt es nicht. Hält das Amtsgericht eine Geschwindigkeitsüberschreitung gleich-wohl für „nicht vorwerfbar“, so hat es die konkreten Umstände in tatsächlicher Hin-sicht darzustellen und in rechtlicher Hinsicht einzuordnen. Dies gilt umso mehr, als hier wohl die Überschreitung um 25 km/h für „vorwerfbar“ gehalten wird, nicht aber die überschießenden 13 km/h. Im Übrigen lassen weder die Feststellungen noch die Beweiswürdigung einen örtlichen, zeitlichen oder gar inneren Zusammenhang zwischen einem „dichten“ Auffahren des Polizeifahrzeugs und der erheblichen Geschwindigkeit des Betroffenen erkennen.“

Und dann – unschön für den Betroffenen – noch:

„5. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben, und die Sache ist zu neuer Ver-handlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Informatorisch teilt der Senat mit, dass die Messung hier offenbar mit einem als standardisiert anerkannten Messverfahren (ProVida mit Auswertung durch ViDistA, vgl. Senat VRR 2022, Nr. 3 [Volltext bei juris]) vorgenommen wurde und die festgestellte Durchschnittsgeschwindigkeit über 271 Meter 88 km/h betrug. Bereits bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 40% kommt, sofern nicht besondere Umstände eine ab-weichende Wertung veranlassen, regelmäßig nur Vorsatz in Betracht (ständige Rspr. des Senats, vgl. zuletzt VRR 2019, Nr. 8 [Volltext bei juris] m. Anm. Krenberger, jurisPR-VerkR 2/2020 Anm. 5).“