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AG III: Datenübermittlung aus Personalausweisregister, oder: Beweisverwertungsverbot?

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Und zum Tagesschluss dann noch eine Entscheidung aus dem Bußgeldverfahren, nämlich das AG Frankfurt am Main, Urt. v. 11.04.2023 – 994 OWi – 359 Js 13613/23.

Es geht um einen Abstandsverstoß im September 2022 auf der BAB A 3. Die Betroffene hatte ihre Fahrzeugführereigenschaft in Zusammenhang mit einem Entbindungsantrag eingeräumt. Die Richtigkeit der Abstandsmessung ist vom Verteidiger nicht in Zweifel gezogen. Er hatte sich jedoch darauf berufen, dass im Vorfeld der Ermittlungen Fehler passiert seien. Aufgrund eines Verstoßes gegen § 22 Abs. 3, 3 PaßG beziehungs-eise § 24 Abs. 2 und Abs. 3 PAuswG liege ein Verfahrenshindernis vor, sodass das Verfahren eingestellt oder die Betroffene freizusprechen sei. Die Betroffene hätte vor Anforderung eines Passbildes als Betroffene im Verfahren angehört werden müssen.

Das hat das AG anders gesehen:

„Sofern sich der Verteidiger darauf beruft, dass das Verfahren aufgrund eines Verfahrensfehlers wegen Verstoßes gegen § 24 Abs. 2 und Abs. 3 des PAuswG an einem derart schwerwiegenden Verfahrensmangel leidet, dass dies zur Einstellung beziehungsweise hier zum Freispruch hätte führen müssen, kann dem nicht entsprochen werden.

Nach § 24 Abs. 2 Satz 1 Nummer 1 PAuswG dürfen Behörden auf deren Ersuchen Daten aus dem Personalausweisregister übermitteln, wenn die ersuchende Behörde aufgrund von Gesetz oder Rechtsverordnung berechtigt ist, solche Daten zu erhalten. Dies sind etwa Strafverfolgungsbehörden und Verwaltungsbehörden im Ordnungswidrigkeitsverfahren auf Basis der vom §§ 161,163b StPO; 35, 46 Abs. 1 OWiG erhaltenen Ermächtigungsgrundlagen.

In der Hauptverhandlung verlesen worden ist Blatt 31 der Akte, der polizeiliche Vermerk des PK pp. vom 21.11.2022, wonach die Halteranschrift des zunächst im Verfahren als Betroffener geführten Herrn pp. angefahren wurde, um eine Betroffenenermittlung durchzuführen. Laut Bericht ist bei dem zuvor geführten Betroffenen pp. geklingelt worden und dieser habe die Tür aufgemacht. Nach erneuter Belehrung und Verweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht habe er hiervon Gebrauch gemacht. Im Anschluss habe Unterzeichner, pp., gefragt, ob er denn alleine wohne. Er gab ab, dass er mit seiner Frau, Frau pp. zusammenwohne, welche derzeit nicht zu Hause sei. Daraufhin habe die Streife das Haus verlassen.

Anhand eines angeforderten Lichtbildes des Personalausweises von Frau pp. sei diese sodann an mit Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Fahrzeugführerin identifiziert worden.

Die Polizeibehörde durch PK pp. hat daher im Rahmen der allgemeinen Ermächtigungsgrundlangen zur Ermittlung des Sachverhalts betreffend des Ordnungswidrigkeitenverfahrens gehandelt, wobei hierdurch die formellen Voraussetzungen des § 24 PAuswG eingehalten worden sind.

Auch im Übrigen sind keine Fehler bei der Anforderung des Bildes aus dem Personalausweis der Betroffenen erfolgt.

Es mag sein, dass in der Praxis teilweise standardmäßig Lichtbilder angefordert werden, ohne dass zunächst andere Ermittlungen durchgeführt werden. Vorliegend war jedoch die Polizeibehörde bereits bei dem zuvor als Betroffeneneigenschaft geführten Herrn pp. vor Ort und hat vor Ort Ermittlungen hinsichtlich der Betroffenen angestellt. Hierbei war aufgrund des Fahrerfotos, Blatt 7 der Akte, ersichtlich, dass es sich um eine weibliche Person handeln muss. Aufgrund der Angaben des Herrn pp., dass er mit einer Frau pp.  zusammenwohne, lag der Verdacht nahe, dass es sich hierbei um die mögliche Betroffene handeln könnte. Hiernach hat die Polizei bereits die vermutete Betroffene zum Zwecke der Identifizierung aufgesucht, diese aber nicht angetroffen im konkreten Zeitpunkt.

Dies ist vorliegend als ausreichende Ermittlungshandlung anzusehen, um es zu rechtfertigen, von der Betroffenen ein Lichtbild aus dem Personalausweis anzufordern.

Sollte dies anders gesehen werden, handelt es sich hierbei jedenfalls nicht um einen derart unerträglichen Verstoß, dass dieser zu einem Beweisverwertungsverbot führen könnte, Vgl. Hornung, PaßG-PAuswG 1 Aufl. 2011, § 22 Randnummer 12 m.w.n. Willkür ist nicht ersichtlich.“

Na ja. Vorab: Das OLG Frankfurt am Main hat die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen, das aber mit keinem Wort begründet. Nun ja, kann man machen, aber: Es gibt ja abweichende Rechtsprechung zu der Frage. Dazu hätte man ja mal ein Wort verlieren können. Und: Wie ist es denn, wenn der Zeuge von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, er dann aber weiter befragt wird und er dann Angaben macht? Verwertbar? Schwierig? Jedenfalls hätte man auch dazu mal ein Wort verlieren können. Aber hat man nicht……

Pflichti I: Wieder etwas zu Beiordnungsgründen, oder: Schwere der Tat, Waffengleichheit, Beweisverwertung

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Und heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Es haben sich wieder ein paar Entscheidungen angesammelt. Nichts Weltbewegendes, aber es lohnt sich :-).

Zunäch dann die Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – und auch ein wenig Verfahrensrecht. Ich stelle aber nur die Leitsätze vor, und zwar:

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

1. Gegen die Versagung der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht dem Beschuldigten ein Beschwerderecht zu, nicht aber dem nicht beigeordneten Rechtsanwalt. Im Zweifel ist zwar davon auszugehen, dass eine Einlegung eines Rechtsmittels nicht im eigenen Namen des Verteidigers erfolgt. Dies gilt allerdings nicht, wenn sich aus den Umständen die Beschwerdeeinlegung im eigenen Namen des Verteidigers ergibt.

2. Die Schwere der dem Beschuldigten drohenden Rechtsfolgen, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

3. Zur Frage, wann weitere laufende Verfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern.

Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert beim Vorwurf einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung, sowie der Tatsache, dass sowohl die beiden als Haupttäter Mitangeklagten als auch der Nebenkläger anwaltlich vertreten sind, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn das Amtsgericht aufzuklären hat, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO in Betracht kommt.

Na, zufrieden? Ich denke, dass man das sein kann, denn insbesondere die Entscheidungen des LG Magdeburg und des LG Nünrberg-Fürth sind „sehr schön“.

Zu der verfahrensrechtlichen Porblematik bei LG Koblenz kann man nur sagen: Selbst schuld, denn warum macht man nicht deutlich, dass der Mandant Rechtsmittel einlegt?

Aufklärung I: Bestand ein Beweisverwertungsverbot?, oder: Vertrauensperson mit Sperrerklärung

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Und heute am Pfingstmontag hier „normales“ Programm. Der ein oder andere wird arbeiten, alle anderen können dann morgen lesen.

Zur Thematik: Ich stelle heute zwei Entscheidungen des BGH vor, die mit Aufklärung und Aufklärungspflicht zu tun haben.

Ich beginne mit dem BGH, Urt. v. 15.02.2023 – 2 StR 270/22 – zur Aufklärungsrüge und zu unzutreffende Annahmer eines Beweisverwertungsverbots.

Das LG hat die Angeklagten in einem Verfahren wegen Verstoßes gegen das BtMG von Verstößen gegen das BtM unter Verurteilung im Übrigen teilfreigesprochen. In dem Verfahren hatte das LKA, nachdem es Hinweise auf einen Handel mit Kokain und Marihuana erhalten hatte, eine Vertrauensperson mit dem Decknamen M auf die Angeklagten angesetzt. M hatte von deneb in drei Fällen Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge erworben. Das LG hatte ein Verwertungsverbot hinsichtlich der Angaben der wegen einer vollumfänglichen Sperrerklärung nicht vernehmbaren Vertrau­ensperson M gegenüber dem Vernehmungsbeamten angenommen. Dagegen die Revision der StA, die erfolgreich war. Der BGh hat umfassen begründet, warum ein Verwertungsverbot nicht bestanden hat.

„2. Die erhobene Aufklärungsrüge ist zulässig. Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass sich das Landgericht aus Rechtsgründen gehindert sah, Beweise im Zusammenhang mit der Vertrauensperson M.   zu erheben, wozu es sich ansonsten gedrängt gesehen hätte. Dies genügt.

Die Aufklärungsrüge ist auch begründet. Das Landgericht hat es entgegen § 244 Abs. 2 StPO unterlassen, Beweis über die Angaben der wegen einer vollumfänglichen Sperrerklärung nicht vernehmbaren Vertrauensperson M.  gegenüber dem Vernehmungsbeamten sowie über die Erkenntnisse aus einer mit ihr zusammenhängenden akustischen Überwachung gemäß § 100f StPO zu erheben.

a) Die Angaben der wegen einer vollumfänglichen Sperrerklärung nicht vernehmbaren Vertrauensperson M.  gegenüber dem Vernehmungsbeamten sowie die Erkenntnisse aus einer mit dem Einsatz der Vertrauensperson zusammenhängenden akustischen Überwachung gemäß § 100f StPO sind verwertbar.

Das Landgericht hat in einem Hinweisbeschluss die Angaben der Vertrauensperson M.  gegenüber dem Vernehmungsbeamten sowie die Erkenntnisse aus einer mit dem Einsatz der Vertrauensperson zusammenhängenden akustischen Überwachung gemäß § 100f StPO für nicht verwertbar erklärt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt sei. Die Vertrauensperson stehe aufgrund der vollumfänglichen Sperrerklärung des Thüringer Innenministeriums für eine konfrontative Befragung durch die Verfahrensbeteiligten nicht zur Verfügung. Aus diesem Grund sei es sowohl der Kammer als auch den Verfahrensbeteiligten verwehrt, sich von der Glaubwürdigkeit der Vertrauensperson einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Hinzu komme, dass die Vertrauensperson zumindest auch eingesetzt worden sei, um die Vorschriften über den Verdeckten Ermittler nach §§ 110a ff. StPO zu umgehen. Die Vertrauensperson dürfe nicht gezielt Nachforschungen anstellen, sondern sich nur umhören, um Informationen zu beschaffen, die geeignet seien, einen Anfangsverdacht zu begründen. Darüber hinaus gehende Ermittlungsmaßnahmen, wie die Durchführung von Abhörmaßnahmen, oblägen allein den Ermittlungsbehörden. Das Aufzeichnen von Ausforschungsgesprächen nach § 100f StPO könne nicht auf die Ermittlungsgeneralklausel gestützt werden, da hierfür ein gehobener Verdachtsgrad erforderlich sei.

Dieser Rechtsauffassung ist nicht zu folgen.

aa) Der Einsatz der Vertrauensperson M.  war zulässig. Insbesondere ist eine Umgehung der Vorschriften über den Verdeckten Ermittler gem. § 110a ff. StPO nicht festzustellen.

(1) Der heimliche Einsatz von Personen, die den Beschuldigten befragen, um ihn zu belastenden Äußerungen zu veranlassen, ist jedenfalls dann zulässig, wenn es sich bei der den Gegenstand der Verfolgung bildenden Tat um eine Straftat von erheblicher Bedeutung handelt und wenn der Einsatz anderer Ermittlungsmethoden – für deren Auswahl untereinander wiederum der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt – erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre. Für die Beantwortung der Frage, wann eine Straftat von erheblicher Bedeutung vorliegt, vermitteln die Kataloge in §§ 98a, 100a, 110a StPO Hinweise; die Aufzählung ist nicht abschließend (BGH, Beschluss vom 13. Mai 1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 157; vgl. auch BGH, Urteil vom 26. Juli 2007 – 3 StR 104/07, NJW 2007, 3138, 3142).

Dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15. Juli 1992 (OrgKG) für bestimmte Formen besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität den Einsatz Verdeckter Ermittler, der bis dahin auf die Generalklauseln der §§ 161, 163 StPO gestützt wurde, durch Einfügung der §§ 110a ff. StPO im Einzelnen geregelt hat, rechtfertigt nicht den Schluss, dass er die traditionell als zulässig anerkannte Inanspruchnahme anderer Personen ausschließen wollte (BGH, Beschluss vom 13. Mai 1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 151). Die Kontaktaufnahme solcher anderen Personen mit dem Beschuldigten hat der Gesetzgeber in diesem Gesetz bewusst nicht geregelt. Diese sollte weiterhin zulässig sein (vgl. Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drucks. 12/989 S. 41).

Soweit Stimmen in der Literatur eine spezielle gesetzliche Regelung über den Einsatz von V-Leuten für erforderlich halten (vgl. Barczak, StV 2012, 182, 186; Gebhard/Hoheisel-Gruler, Kriminalistik 2021, 515, 517; Gercke, StV 2017, 615, 622; Soiné, ZRP 2021, 47 ff.; SSW-StPO/Eschelbach, 5. Aufl., § 110a Rn. 11), sieht der Senat keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.

(2) Indes sind rechtsstaatliche Grenzen zu beachten, die der vernehmungsähnlichen Befragung von Tatverdächtigen ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsicht – wegen ihrer Nähe zum nemo-tenetur-Prinzip – gesetzt sind. Aus dieser Nähe sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip, speziell dem Grundsatz des fairen Verfahrens kann sich eine heimliche Befragung im Einzelfall auch unter Berücksichtigung des Gebotes einer effektiven Strafverfolgung als unzulässig erweisen (vgl. Beschluss vom 13. Mai 1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 156 f.). Als Beispiele aus der Rechtsprechung werden in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Fälle erwähnt, dass einem Untersuchungshäftling ein Spitzel in die Zelle gelegt (BGH, Urteil vom 28. April 1987 – 5 StR 666/86, BGHSt 34, 362; vgl. auch Urteil vom 21. Juli 1998 – 5 StR 302/97, BGHSt 44, 129; EGMR, Entscheidung vom 5. November 2002 – 48539/99, – Allan v. Großbritannien – StV 2003, 257, 259 f.) oder das gesprochene Wort verbotswidrig fixiert wurde (BGH, Urteile vom 17. März 1983 – 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 308; vom 9. April 1986 – 3 StR 551/85, BGHSt 34, 39, 43). Mit dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist es ebenfalls nicht vereinbar, dem Beschuldigten, der sein Schweigerecht in Anspruch genommen hat, in gezielten, vernehmungsähnlichen Befragungen, die auf Initiative der Ermittlungsbehörden ohne Aufdeckung der Verfolgungsabsicht durchgeführt werden, selbstbelastende Angaben zur Sache zu entlocken (BGH, Urteil vom 26. Juli 2007 – 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11, 19). Unzulässig ist es auch, den Beschuldigten zu selbstbelastenden Äußerungen zu drängen (zu verdeckten Ermittlern: BGH, Beschluss vom 18. Mai 2010 – 5 StR 51/10, BGHSt 55, 138, 145; Urteil vom 26. Juli 2007 – 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11, 15; Beschluss vom 27. Januar 2009 – 4 StR 296/08, NStZ 2009, 343, 344) oder einem psychologischen Druck gleichkommend zu täuschen (BGH, Beschluss vom 31. März 2011 – 3 StR 400/10, BGHR StGB § 9 Abs. 1 Teilnahme 1).

Eine weitergehende generelle Unverwertbarkeit der Angaben des Beschuldigten gegenüber einer V-Person mit Blick auf §§ 136 Abs. 1, 136a Abs. 1 Satz 1 StPO (so Lagodny, StV 1996, 167, 168; SSW-StPO/Eschelbach, 5. Aufl., § 136 Rn. 23 ff.; § 136a Rn. 9 f. jeweils mwN) ist hingegen abzulehnen, da gerade keine Vernehmung vorliegt und die Aussagefreiheit des Beschuldigten nicht berührt ist. So hat der EGMR eine Verletzung des Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit in einem Fall verneint, in welchem es dem Beschuldigten, der sich weder in Haft befand noch bis dahin polizeilich vernommen worden war, freistand, sich mit dem Informanten der Polizei, der das verdeckt geführte Gespräch heimlich aufzeichnete, zu unterhalten (EGMR, Urteil vom 10. März 2009 – 4378/02 – Bykov v. Russland, NJW 2010, 213, 215).

(3) Gemessen daran war der Einsatz der Vertrauensperson zulässig. Es bestand ein Anfangsverdacht aufgrund der Angaben eines Hinweisgebers, dass der Angeklagte S.   seit etwa einem halben Jahr im Raum Erfurt Handel mit Kokain und Marihuana treibe, wobei er regelmäßig über Marihuana im Kilogrammbereich verfüge, das er möglicherweise vom Angeklagten O.  erwerbe. Damit handelte es sich bei der Verdachtstat um eine schwerwiegende Straftat, nämlich um Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Einsatz anderer Ermittlungsmethoden erfolgversprechender gewesen wäre. Die aufgrund des Einsatzes der Vertrauensperson gewonnenen Erkenntnisse sind danach grundsätzlich verwertbar.

Ein aufgrund des nemo-tenetur-Grundsatzes bestehendes Verwertungsverbot besteht ebenfalls nicht. Die Auffassung des Landgerichts, dass eine Vertrauensperson nicht gezielt Nachforschungen anstellen dürfe, ist unzutreffend. Es existieren lediglich die oben genannten Einschränkungen, für deren Vorliegen hier keine Anhaltspunkte bestehen.

bb) Dass die Vertrauensperson wegen der Sperrerklärung nicht in der Hauptverhandlung als Zeuge zur Verfügung stand, hinderte nicht die Verwertung der Angaben, welche die Vertrauensperson im Rahmen einer Vernehmung gemacht hatte.

(1) Das von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK garantierte Recht des Angeklagten auf konfrontative Befragung von Belastungszeugen stellt eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK dar. Ob die fehlende Gelegenheit für den Angeklagten beziehungsweise seinen Verteidiger, einen Zeugen selbst zu befragen, eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK begründet, hängt von einer einzelfallbezogenen Gesamtwürdigung ab (BGH, Urteil vom 13. Januar 2022 – 3 StR 341/21, NStZ 2022, 496, 497 f.; EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 9154/10, Schatschaschwili v. Deutschland, StV 2017, 213, 216 Rn. 100 f.; BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2009 – 2 BvR 547/08, NJW 2010, 925 f.; BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16, NStZ 2018, 51, 52; Beschlüsse vom 17. März 2010 – 2 StR 397/09, BGHSt 55, 70, 74; vom 29. November 2006 – 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150, 154).

Dabei ist nicht nur in Rechnung zu stellen, ob die Nichtgewährung des Konfrontationsrechts im Zurechnungsbereich der Justiz liegt, sondern vor allem auch in den Blick zu nehmen, mit welchem Gewicht die Verurteilung des Angeklagten auf die Bekundungen eines nicht konfrontativ befragten Zeugen gestützt worden ist und ob das Gericht die Unmöglichkeit der Befragung des Zeugen durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger kompensiert hat, namentlich durch eine besonders kritische und zurückhaltende Würdigung der Bekundungen des Zeugen (BGH, Urteil vom 13. Januar 2022 – 3 StR 341/21, NStZ 2022, 496, 497 f.; vgl. EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 9154/10, Schatschaschwili v. Deutschland, StV 2017, 213, 217, Rn. 107 ff.; Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16, NStZ 2018, 51, 52 ff.; Beschluss vom 26. April 2017 – 1 StR 32/17, NStZ 2017, 602, 603).

Ist die unterbliebene konfrontative Befragung eines Zeugen der Justiz zuzurechnen, kann eine Verurteilung auf dessen Angaben nur gestützt werden, wenn diese durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden (BGH, Beschluss vom 29. November 2006 – 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150, 155 f.; Urteil vom 25. Juli 2000 – 1 StR 169/00, BGHSt 46, 93, 105 f.).

(2) Gemessen daran durfte das Landgericht nicht von vorneherein die Angaben der Vertrauensperson gegenüber dem Vernehmungsbeamten außer Acht lassen.

Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob eine Verletzung des völkerrechtlich gewährleisteten Konfrontationsrechts im innerstaatlichen Recht lediglich auf der Ebene der Beweiswürdigung zu besonders strengen Beweis- und Begründungsanforderungen führt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2010 – 2 BvR 547/08, NJW 2010, 925, 926; BGH, Urteil vom 25. Juli 2000 – 1 StR 169/00, BGHSt 46, 93, 103 ff.; Beschluss vom 29. November 2006 – 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150, 157) oder – obwohl verfassungsrechtlich nicht geboten (BVerfG, aaO) – die Unverwertbarkeit von auf einen nicht konfrontativ befragten Zeugen zurückgehender Informationen bewirkt (vgl. BGH, Urteil vom 16. April 2014 – 1 StR 638/13, NStZ-RR 2014, 246, 248; Senat, Beschluss vom 17. März 2010 – 2 StR 397/09, BGHSt 55, 70, 78 f.).

Zwar liegt der Umstand, dass eine konfrontative Befragung nicht durchgeführt werden konnte, vorliegend im Verantwortungsbereich der Justiz, da dieser die Sperrerklärung des Thüringer Innenministeriums zuzurechnen ist. Allerdings sind auch in einem derartigen Fall die Angaben vor dem Vernehmungsbeamten verwertbar, wenn sie durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden. Hierfür liegen Anhaltspunkte vor, wie insbesondere die Übergabe der Betäubungsmittel durch die Vertrauensperson an die Polizei am 15. Juni 2020 und am 2. Juli 2020, die Observation des Wohnobjekts des Angeklagten K.   am 2. und 10. Juli 2020, die aufgezeichneten Gespräche zwischen der Vertrauensperson und dem Angeklagten S.   vom 2. und 10. Juli 2020 sowie insbesondere die Erkenntnisse aufgrund des Zugriffs vom 10. Juli 2020 mit der Sicherstellung einer Tasche mit 4.776,06 Gramm Marihuana, die     B.   dem Angeklagten S.   brachte.

cc) Die Aufzeichnung der Gespräche war ebenfalls nicht rechtswidrig, so dass kein Verwertungsverbot hinsichtlich der dadurch erlangten Erkenntnisse vorliegt.

(1) Ein Verwertungsverbot kommt dann in Betracht, wenn das Gespräch zwischen einer Vertrauensperson und dem Tatverdächtigen verbotswidrig fixiert wurde (vgl. BGH, Urteile vom 17. März 1983 – 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 306 f.; vom 9. April 1986 – 3 StR 551/85, BGHSt 34, 39, 43; Beschluss vom 31. März 2011 – 3 StR 400/10, BGHR StGB § 9 Abs. 1 Teilnahme 1). Im Umkehrschluss folgt daraus, dass eine Verwertung von Gesprächsaufzeichnungen unter Beteiligung einer Vertrauensperson möglich ist, wenn die Aufzeichnung rechtmäßig angeordnet wurde.

(2) Mit Beschluss des Amtsgerichts Erfurt vom 1. Juli 2020 lag eine rechtmäßige Anordnung zum Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes gemäß § 100f StPO vor. Dessen Voraussetzungen waren erfüllt, zumal ein Anfangsverdacht hinsichtlich einer Katalogtat bestand. Auch in einer Gesamtschau mit dem Einsatz einer Vertrauensperson kann eine Unzulässigkeit der Aufzeichnung nicht erkannt werden. Vielmehr kann das Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes gerade dazu dienen sicherzustellen, dass die durch die Vertrauensperson gewonnenen Erkenntnisse rechtlich unbedenklich erlangt wurden, nämlich ohne Zwang oder durch eine – psychologischem Druck gleichkommende – Täuschung.

b) Der Senat kann insbesondere angesichts der von der Revisionsführerin vorgetragenen Inhalte der gemäß § 100f StPO aufgezeichneten Gespräche nicht ausschließen, dass das Landgericht – im Falle der gebotenen Beweiserhebungen – hinsichtlich der am 2. und 10. Juli 2020 begangenen Taten zu einer Verurteilung der Angeklagten S.   und K.   wegen täterschaftlichen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie hinsichtlich der Tat vom 10. Juli 2020 zu einer solchen Verurteilung auch des Angeklagten O.   gelangt wäre, zumal sich das Landgericht selbst dazu gedrängt gesehen, jedoch aus rechtlich fehlerhaften Erwägungen davon abgesehen hat.

Aufgrund der genannten Beweismittel, die Anhaltspunkte für eine Beteiligung mehrerer Personen an den beiden Betäubungsmittelgeschäften geben, ist in der gebotenen Zusammenschau mit den übrigen Beweismitteln ein Schluss auf ein mittäterschaftliches bandenmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln nicht völlig fernliegend. So deutet der Inhalt des aufgezeichneten Gesprächs vom 2. Juli 2020 darauf hin, dass der Angeklagte S.   die Lieferung von anderen Arten von Betäubungsmitteln nur nach Rücksprache mit anderen Personen verhandeln konnte. Der Angeklagte S.   erklärte hier der Vertrauensperson M.  , dass ihre Anfrage nach weiteren Stoffarten „jetzte gar nicht“ gehe, da er „kein erreicht“ habe. In Zukunft wolle er dies „auch noch mal mit denen“ absprechen. Im Gespräch zwischen der Vertrauensperson M.  und dem Angeklagten O.  , am 10.07.2020 gab dieser zu verstehen, die benötigte Vorbereitungszeit für die Lieferung von 500 Gramm Methamphetamin liege bei einer Woche. Auf die Äußerung der Vertrauensperson, dass sie „längerfristige Geschichten“ suche, entgegnete der Angeklagte O.  , dass „wir auch richtig dafür“ seien. Nach Hinzukommen des gesondert Verfolgten B.   zum Fahrzeug der M.  übernahm dieser die Gesprächsführung, was als weiteres Indiz einer Bandenabrede in Betracht kommt.“

Pflichti I: Zunächst zu den Beiordnungsgründen, oder: Mehrere Beschuldigte, BVV, JGG-Verfahren

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Heute steht dann mal wieder ein „Pflichtverteidigungstag“ an. Ich denke, es wird der letzte in diesem Jahr sein. Bei der Gelegenheit danke ich allen Einsendern, die mir im Laufe des Jahres insbesondere (auch) Pflichtverteidigungsentscheidungen geschickt haben. So ist eine schöne Sammlung zustande gekommen.

Ich beginne heute die Berichterstattung hier mit drei LG-Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Im Falle mehrerer Mitbeschuldigter kann, wenn ein Mitbeschuldigter einen Verteidiger hat, die Beiordnung eines Rechtsanwalts für die anderen Mitbeschuldigten in Betracht kommen, insbesondere wenn sich die Beschuldigten gegenseitig belasten.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO liegt u.a. vor, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt oder wenn es sich um Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen handelt.

Die Mitwirkung eines Verteidigers ist geboten, wenn die Beschuldigte zur mutmaßlichen Tatzeit erst 14 Jahre und drei Monate alt war und zudem an einer sonstigen kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10 F92.8), einer Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10 F94.2) und einer ernsthaften sozialen Beeinträchtigung leidet und zudem nur eine unterdurchschnittliche Intelligenz hat.

Durchsuchung II: Gibt es ein Beweisverwertungsverbot, oder: Gefahr im Verzug, wenn die Tat aufgedeckt ist

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Und als zweite Entscheidung dann etwas vom BGH, nämlich der BGH, Beschl. v. 22.11.2022 – 5 StR 377/22 -, der noch einmal in einem Zusatz zu einem Beweisverwertungsverbot Stellung nimmt, und zwar im Hinblick auf „Gefahr im Verzug“:

„Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
Entgegen der Ansicht der Revision unterliegen die anlässlich der beim Angeklagten durchgeführten Wohnungsdurchsuchung aufgefundenen Speichermedien keinem Beweisverwertungsverbot. Zwar war diese Maßnahme nicht nach § 105 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 StPO von einem Richter angeordnet worden. Es lagen hier aber die Voraussetzungen für eine Eilanordnung der Staatsanwaltschaft wegen Gefahr in Verzug vor (§ 105 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StPO). Denn aus dem mit der Revision vorgelegten Durchsuchungsbericht folgt – worauf der Vertreter der Nebenklägerin in seiner Stellungnahme zutreffend hingewiesen hat –, dass infolge eines Telefonats zwischen der Mutter der Geschädigten und dem Angeklagten die Tat aufgedeckt war. Daher drohte durch die zeitliche Verzögerung, die mit der Befassung des Ermittlungsrichters verbunden gewesen wäre, unmittelbar der Verlust von Beweismitteln. Vor diesem Hintergrund bestehen gegen die Annahme des Vorliegens der Eilkompetenz keine rechtlichen Bedenken (vgl. zum Maßstab BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 2015 – 2 BvR 2718/10, BVerfGE 139, 245).“