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Erkennungsdienstliche Behandlung II, oder: Beschuldigter muss man sein

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In der zweiten Entscheidung, dem VG Köln, Beschl. v. 08.07.2020 – 20 L 659/20, den mir der Kollege Dr. Bleicher aus Dortmund geschickt hat, dann noch einmal die Thematik: Erkennungsdienstliche Behandlung. Ergangen ist der Beschluss im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, nachdem dem Verwaltungshebörde auch die sofortige Vollziehung der angeordneten ED-Behandlung angeordnet hatte. Der Antrag hatte Erfolg:

„Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt darüber hinaus auch deswegen, weil der angegriffene Bescheid voraussichtlich rechtswidrig ist.

In formeller Hinsicht begegnet der Bescheid bereits Bedenken, da eine Anhörung gemäß § -28 Abs. 1 VwVfG NRW nicht erfolgt ist und auch nicht nach § 28 Abs. 2 VwVfG NRW entbehrlich ist. Daraus allein folgt jedoch nicht das Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers, da die Anhörung bis zum Abschluss des Gerichtsverfahrens durch den Beklagten nachgeholt werden kann.

Die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung ist allerdings auch materiell rechtswidrig.

Nach § 81b 2. Alt. StPO dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden, soweit es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist.

Es fehlt bereits an der Beschuldigteneigenschaft des Antragstellers.

Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 81b 2. Alt. StPO sind die Maßnahmen nur gegen den Beschuldigten zulässig. Beschuldigter ist, gegen den das Verfahren auf der Grundlage zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte für eine Straftat im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO betrieben wird. Dabei bedarf es nicht der förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Es genügt vielmehr, dass gegen den Betroffenen mit dem Willen der Strafverfolgung eine Maßnahme ergriffen wird, die nur gegen einen Beschuldigten gerichtet werden kann oder wenn die Staatsanwaltschaft nach §§ 161, 162 StPO um die Vernehmung einer Person als Beschuldigter ersucht. Zwar besteht bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung nach § 81b 2. Alt. StPO kein unmittelbarer Zweckzusammenhang zwischen der Beschuldigteneigenschaft des Betroffenen und den gesetzlichen Zielen der Aufnahme und Aufbewahrung der erkennungsdienstlichen Behandlung. Die Voraussetzung, dass der Adressat der Maßnahme Beschuldigter ist, gewährleistet jedoch, dass die Anordnung nicht an beliebige Tatsachen anknüpft und nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt ergeht, sondern dass sie aus einem konkret gegen den Betroffenen als Beschuldigten geführten Strafverfahren hervorgeht und sich die Notwendigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung jedenfalls auch aus den Ergebnissen dieses Verfahrens ergibt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 27.06.2018 – 6 C 39/16 – juris Rn 16; Brauer, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2019, § 81b, Rn 5 f. mwN.

Diese Voraussetzungen liegen beim Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der Anordnung nicht vor. Die letzte gegen ihn geführte Maßnahme vor der erkennungs-dienstlichen Behandlung ist die Vorladung zur Vernehmung als Zeuge am 29.01.2020. Soweit der Antragsgegner vorträgt, der Statuswechsel zum Beschuldig-ten erkläre sich durch die im Laufe der Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse durch die Auswertung der elektronischen Speichermedien, mag dies inhaltlich zutreffen. Ein nach außen erkennbarer Akt, aus dem sich der Wechsel zum Beschuldigten ergeben könnte, ist jedoch nicht ersichtlich.

Darüber hinaus fehlt auch die für eine erkennungsdienstliche Behandlung erforderliche Wiederholungsgefahr, die diese Behandlung notwendig macht.

Eine erkennungsdienstliche Behandlung gemäß § 81 b 2. Alt. StPO kann angeordnet werden, wenn der anlässlich des gegen den Betroffenen gerichteten Ermittlungs- oder Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls – insbesondere angesichts der Art, Schwere und Begehungsweise der dem Betroffenen zur Last gelegten Straftaten, seiner Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, während dessen er strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist – Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Betroffene künftig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen fördern könnten, indem sie den Betroffenen überführen oder entlasten.

Vgl. ständige Rechtsprechung des BVerwG, Beschluss vom 06.07.1988 – 1 B 61.88 – sowie Urteil vom 23.11.2005 – 6 C 2.05 -; beide: juris.

Maßgeblich ist demnach, ob der Antragsteller vorliegend mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an noch aufzuklärenden Handlungen dieser oder ähnlicher Art einzubeziehen ist.

Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG, der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der präventive Charakter der erkennungsdienstlichen Maßnahmen verlangen eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse und dem Interesse des Betroffenen, entsprechend dem Menschenbild des Grundgesetztes nicht bereits deshalb als potentieller Rechtsbrecher behandelt zu werden, weil er sich irgendwie verdächtig gemacht hat oder anzeigt worden ist.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 25.06.1991 – 5 A 1257/90 – und vom 29.11.1994 5 A 2234/93 -.

Dabei kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Beurteilung der Notwendigkeit der angeordneten und bereits vollzogenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen auf die Sachlage im Zeitpunkt der tatsächlichen Vornahme dieser Maßnahmen an.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.07.2014 – 6 B 2/14 – juris.

Die genannten Voraussetzungen liegen nicht vor. Ausweislich der vorgelegten Vorgänge spricht für eine Tatbegehung, dass der Antragsteller türkischstämmiger Taxifahrer ist und zudem auf das vom Zeugen A. wahrgenommene Taxi seines Bruders Ibrahim Gülen Zugriff hat. Außerdem ist er dem Beschuldigten K. bekannt. Wenn der Antragsgegner aus diesen Umständen den Verdacht herleitet, dass auch der Antragsteller Täter des in Rede stehenden Betrugs sein könnte, rechtfertigt dies weitere Ermittlungen zur Aufklärung der Täterschaft der konkret in Rede stehenden Tat. Im Rahmen der Ermittlungen zur Aufklärung der konkreten Tat kann unter Umständen auch eine erkennungsdienstliche Behandlung vorgenommen werden. Von dieser Notwendigkeit scheint auch der Antragsgegner auszugehen, wenn er erklärt, die Strafverfolgungsvorsorge benötige Lichtbilder des Antragstellers, um den abkaufen-den Unternehmern in den jeweiligen Beschuldigtenvernehmungen Lichtbilder des Antragsstellers zeigen zu können, um diesen gegebenenfalls als Täter identifizieren zu können. Damit begründet der Antragsgegner die erkennungsdienstliche Behandlung jedoch mit dem Zweck der Aufklärung einer Straftat, die sich allein an § 81b 1. Alt. StPO misst. Hingegen liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81b 2. Alt. StPO aus präventiven Gesichts-punkten heraus gerechtfertigt wäre. Denn der Antragsgegner hat bisher keine Anhaltspunkte dafür vorgebracht, wieso bei dem Antragssteller von einer Wiederholung der möglicherweise begangenen Tat auszugehen sei. Es handelt sich nicht um ein Neigungsdelikt. Auch einschlägige, vorhergegangene Straftaten oder Ermittlungsverfahren, die auf ein bestimmtes Verhaltensmuster oder eine bestimmte Persönlichkeit des Antragstellers schließen ließen, liegen, soweit ersichtlich, nicht vor. Die Begründung der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung erschöpft sich darin, dass aufgrund der Art und Weise der Tatausführung eine Wiederholungsgefahr ergebe. Allein der Verdacht der erstmaligen, konspirativen Weiterveräußerung von falsch ausgestellten Bahngutscheinen und die Eigenschaft als Taxifahrer begründet eine Wiederholungsgefahr indessen nicht.

Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob die Anordnung sich mangels  Beschuldigteneigenschaft auf § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW stützen ließe, da auch § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW eine Wiederholungsgefahr fordert.

Vgl. zu der streitigen Frage, ob § 14 Abs. 1 Nr, 2 PolG NRW die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zum Zwecke der Strafverfolgungsvorsorge nach der Änderung des Polizeigesetzes zum 09.02.2010 noch ermöglicht: OVG NRW, Beschluss vom 11.04.2016 – 5 E 772/15 – juris Rn 9; im Anschluss daran VG Düsseldorf, Urteil vom 30.08.2018 – 18 K 15809/17 – juris Rn 23; ebenso: Ogorek/Molitor, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, 12. Ed., Stand 10.07.2019, § 14 PolG NRW, Rn 8.“

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Der Streitwert folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG. Das Gericht hat dabei für die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz die Hälfte des für ein Klageverfahren maßgeblichen Streitwertes festgelegt.

Der „erzwungene“ Stimmenvergleich, oder: Wer kennt den „Nemo-tenetur-Satz“?

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In der vergangenen Woche habe ich von dem Kollegen, der ihn erstritten hat, den LG Lüneburg, Beschl. v. 06.11.2014 – 26 Qs 274/14 – übersandt bekommen. Der ist schon etwas älter, daher will ich mit der Veröffentlichung nicht zu lange warten.

Im Verfahren geht es um die Anordnung einer Gegenüberstellung und eines Stimmvergleichs durch das AG Lüneburg mit dem AG Lüneburg, Beschl. v. 05.09.2014 – 15 Gs 554/14. Gestützt wird das auf § 58 Abs. 1 und 2 StPO. Das AG und die beantragende Staatsanwaltschaft erhoffen sich durch diese Maßnahme – wenn sie durchgeführt wird – die weitere Aufklärung eines Raubüberfalls. Bei dem hatte der Täter eine Angestellte zur Herausgabe von Geld aufgefordert. Das AG meint: „Eine Wahlgegenüberstellung mit Stimmvergleich erscheint auch erfolgversprechend, da die Geschädigte mehrfach angegeben hat, sich die Stimme des Täters eingeprägt zu haben.“ Das ist es, viel mehr steht in dem AG-Beschluss nicht drin.

Das LG Lüneburg sieht das – Gott sei Dank – anders und hebt auf:

„…..Die vom Amtsgericht mit dem angefochtenen Beschluss angeordnete Wahlgegenüberstellung mit Stimmenvergleich kann nicht auf § 58 Abs. 2 StPO i. V. m. § 81 a StPO gestützt werden.

1. Nach § 58 Abs. 2 StPO kann der Beschuldigte zum Zwecke der Identifizierung Zeugen gegenübergestellt werden. Sind die Voraussetzungen des § 58 Abs. 2 StPO erfüllt, so hat der Beschuldigte die Gegenüberstellung zu dulden. Er ist jedoch nicht verpflichtet, an ihr aktiv mitzuwirken. Gegen seinen Willen kann ihm deshalb nicht abverlangt werden, vor dem Zeugen auf eine bestimmte Weise zu gehen, oder bestimmte Worte zu sprechen. Dies folgt aus dem allgemeinen Grundsatz der Aussage- und Selbstbelastungsfreiheit, der als Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK folgt. Deshalb kann nur das freiwillig gesprochene Wort des Beschuldigten Gegenstand eines Stimmenvergleichs sein; verpflichtet zur Mitwirkung an einem solchen ist der Beschuldigte nicht. Da der Beschuldigte ausdrücklich erklärt hat, er sei nicht bereit, an einer Wahlgegenüberstellung mit Stimmenvergleich freiwillig mitzuwirken, ist die Anordnung eines Stimmenvergleichs unzulässig.“

Aufgehoben wird auch die angeordnete Gegenüberstellung. Der Täter war maskiert, was ein Wiedererkennen nach Auffassung des LG unmöglich macht.

Bei solchen Beschlüssen frage ich mich immer: Warum braucht es eigentlich erst eine große Strafkammer eines LG, um den GS-Richter/Ermittlungsrichter daran zu erinnern/ihm vor Augen zu führen, dass unserem Strafverfahren der „nemo tenetur-Grundsatz immanent ist und der Beschuldigte nicht verpflichtet ist, aktiv an der eigenen Überführung mitzuwirken. Das sollte, wenn man im Strafverfahren tätig ist, auch ein GS-Richter beim AG wissen.. Die meisten wissen es ja auch – Gott sei Dank. Man fragt sich, was sich der GS-Richter beim AG Lüneburg eigentlich vorgestellt hat, wie es weitergeht, wenn der Beschuldigte nicht mitwirkt beim Stimmenvergleich. Zwangsmittel gegen den Beschuldigten? Und wenn ja, welche? Aber – dem LG Lüneburg sei Dank – muss er/sie sich darüber ja keine Gedanken mehr machen. Sonst wäre vielleicht noch Beugehaft angeordnet worden.

Ein Schritt zurück beim BGH, oder: Die StA wird es schon richten

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M.E. einen Schritt zurück macht die Ermittlungsrichterin des 3. Strafsenats des BGH im BGH, Beschl. v. 09.09.2015 – 3 BGs 134/15, und zwar einen Schritt zurück hinter den BGH, Beschl. v. 05.02.2002 – 5 StR 588/01. Es geht um die Frage, ob dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren ein (eigenes) Antragsrecht auf Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 3 Satz 1 bis 3 StPo zusteht. Das wird von der Ermittlungsrichterin kategorisch verneint, was sich schon aus dem Leitsatz ihrer Entscheidung ergibt:

„Dem Beschuldigten steht kein Antragsrecht auf Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 3 Satz 1 bis 3 StPO zu. Eine solche setzt einen Antrag der Staatsanwaltschaft zwingend voraus.“

Der BGH, nun, sagen wir lieber: die Ermittlungsrichterin bezieht also klare Position in der in Rechtsprechung und Literatur heftig umstrittenen Frage. Begründet wird das mit dem Wortlaut des § 141 Abs. 3 StPO und den Zuständigkeitsregelungen. Und mit dem Argument: Die StA ist im Ermittlungsverfahren „Herrin des  Verfahrens“, sie ist zur Objektivität verpflichtet und wird es daher schon richten, da sie ja ggf. nach § 141 Abs. 3 Satz 2 StPO tätig werden muss Ob das Argument heute noch zieht, kann man m.E. bezweifeln, wenn man manche Verfahren sieht und auch hört, wie in manchen Verfahren von der Staatsanwaltschaft agiert wird.

M.E. stellt man durch die Verneinung eines eigenen Antragsrechts den Beschuldigten in der Phase auch schutzlos. Denn er hat, wenn sein Antrag unzulässig ist, kein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft bzw. kann nicht (gerichtlich) überprüfen lassen, wenn diese nicht nach § 142 Abs. 3 Satz 2 StPO tätig wird.

Wie geht man als Verteidiger mit der Entscheidung um? Nun, sie ist m.E. nicht der Weisheit letzter Schluss, da sie „nur“ vom Ermittlungsrichter kommt. Jedenfalls ist aber die Diskussion wieder eröffnet und man darf gespannt sein, wie sich ggf. demnächst die Senate positionieren. Als Verteidiger würde ich für den Mandanten ein Antragsrechts reklamieren und den Antrag stellen. Die Rechtsprechungs-Nachweise in der Entscheidung zeigen, dass die Instanzgerichte das teilweise ja auch anders gesehen haben als der BGH. Man darf dann auch gespannt sein, wie die sich nun positionieren.

Richterliche Vernehmung einer Zeugin – Ausschluss des Beschuldigten?

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Gegen den Beschuldigten ist ein Ermittlungsverfahren anhängig wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung in zwei Fällen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft soll die Zeugin S. richterlich vernommen werden. Das AG Waldshut-Tiengen hat den Beschuldigten von der richterlichen Vernehmung der Zeugin gemäß § 168c Abs. 3 StPO ausgeschlossen, da zu befürchten sei, dass die Zeugin in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen und von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Der LG Waldhut-Tiengen. Beschl. v. 09.10.2013 – 1 Qs 68/13 – sieht das anders:

„Wegen der Bedeutung des Anspruchs auf Anwesenheit ist die Ausschließungsmöglichkeit eng auszulegen (Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 168c Rn. 16). Es soll verhindert werden, dass im vorbereitenden Verfahren unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) und unter Außerachtlassung des Grundsatzes der Waffengleichzeit zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem ein für den weiteren Verlauf des Strafverfahrens möglicherweise entscheidendes Beweisergebnis herbeigeführt werden kann, ohne dass dem Beschuldigten und/oder seinem Verteidiger zuvor Gelegenheit gegeben war, hierauf Einfluss zu nehmen (Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl., § 168c Rn. 1; BGHSt 26, 332, 335).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist ein Ausschluss des Beschuldigten nur dann möglich, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Zeuge in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen werde oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass der Beschuldigte seine Anwesenheit oder sein durch die Anwesenheit erlangtes Wissen dazu missbrauchen würde, durch Verdunkelungshandlungen — etwa durch Beseitigung oder Verfälschung von Beweismitteln oder durch unzulässige Beeinflussung von Zeugen oder Sachverständigen — die Ermittlung des Sachverhalts zu erschweren (Löwe-Rosenberg, aaO., § 168c Rn. 15; Karlsruher Kommentar, aaO., § 168c Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 168c Rn. 3). Dies gilt auch dann, wenn konkreter Anlass für die Befürchtung besteht, der Zeuge werde bei Anwesenheit des Beschuldigten voraussichtlich von seinem Aussage- bzw. Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen (Karlsruher Kommentar, aaO., § 168c Rn. 6; Löwe-Rosenberg, aaO, § 168c Rn. 16a).

Nach Aktenlage ist nicht erkennbar, dass ein solcher Ausschlussgrund vorliegt. Die Aussagebereitschaft der 20-jährigen Zeugin hat im Laufe des Ermittlungsverfahrens bereits mehrfach geschwankt, ohne dass dies gerade auf eine Anwesenheit des Beschuldigten hätte zurückgeführt werden können, zumal er bei den bisherigen polizeilichen Vernehmungen ohnehin nicht anwesend war. Bereits nach der Anzeigeerstattung am 26.04.2013 hatte die Zeugin angekündigt, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen (AS 59a), war dann aber doch zu einer weiteren kriminalpolizeilichen Vernehmung am 30.04.2013 bereit gewesen, bevor sie — noch vor der Durchführung der bereits Anfang Mai 2013 erstmals beantragten richterlichen Vernehmung — am 03.05.2013 erklärte, ihre Anzeige zurückzuziehen (AS 105 f.). Der Umstand, dass die Zeugin in ihrer E-Mail an die Kriminalpolizei vom 03.05.2013 erklärte, dass sie „gerade mit den Nerven am Ende“ sei und „mit der Sache nix zu tun haben“ wolle, lässt eher darauf schließen, dass sie wegen der allgemeinen Belastungen, denen sie als Zeugin in einem Ermittlungsverfahren wegen möglicherweise zu ihrem Nachteil begangener Sexualdelikte ausgesetzt ist, keine Aussage machen wollte, und zwar unabhängig von der Anwesenheit des Beschuldigten bei einer Vernehmung. Als sie sich schließlich am 31.05.2013 wieder telefonisch bei KOK’in von G. meldete und erklärte, dass sie jetzt doch bereit sei auszusagen, begründete sie dies auch damit, dass ihre Cousine sie inzwischen unterstütze (AS 215). Konkrete Ankündigungen der Zeugin , wonach sie in Anwesenheit des Beschuldigten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werde, sind bislang nicht bekannt.

Ebenso wenig ist ersichtlich, dass der Beschuldigte die Zeugin im Laufe des Ermittlungsverfahrens bedroht oder anderweitig beeinflusst haben könnte. Soweit er bereits im Rahmen des von der Zeugin geschilderten Tatgeschehens geäußert haben soll, dass er — wenn sie ihn anzeige — die Familie auseinander bringen werde, indem er den Großvater und die Eltern der Zeugin gegeneinander aufhetze, ist das damit verbundene Drohpotential dadurch erledigt, dass die Zeugin ungeachtet dieser Drohung Anzeige erstattet hat.“

Auf der Flucht? – Dann gibt es keine Wiedereinsetzung…

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Nach § 145a Abs. 3 Satz 1 StPO wird Beschuldigten, wenn seinem Wahlverteidiger nach § 145a Abs. 1 StPO eine Entscheidung zugestellt worden ist, weil sich dessen Vollmacht bei den Akten befindet, der Beschuldigte von der Zustellung unterrichtet; zugleich erhält er formlos eine Abschrift der Entscheidung. Das gebietet die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts. Das Unterlassen dieser Pflicht und eine darauf beruhende Fristversäumung kann die Wiedereinsetzung (§§ 44, 45 StPO) begründen.

Frage: Was ist, wenn der Angeklagte/Beschuldigte flüchtig ist und damit dem Gericht die Erfüllung dieser Pflicht unmöglich macht? Kann er sich dann, wenn er eine Frist versäumt, zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags auf einen Verstoß gegen § 145a Abs. 3 Satz 1 StPO berufen? Als Antwort schießt einem da sofort ein Nein und eine Parallele zum „venire contra factum proprium“ durch den Kopf. Und so ähnlich hat auch der KG, Beschl. v. 22.02.2013 – (4) 161 Ss 38/13 (41/13) – die Problematik gelöst, wenn es dort heißt:

„Die erst am 29. August 2012 eingelegte Revision war gemäß § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen, weil sie verspätet ist. Das angefochtene Urteil ist dem Verteidiger am 27. Juli 2012 wirksam (§ 145a Abs. 1 StPO) zugestellt worden. Das Fehlen einer Unterrichtung des Angeklagten und einer formlosen Übersendung einer Urteilsabschrift an ihn gemäß § 145a Abs. 3 Satz 1 StPO böte angesichts dessen, dass er aus der Jugendstrafanstalt flüchtig und unbekannten Aufenthalts war, im Übrigen keinen Anlass für eine Wiedereinsetzung (vgl. BGH NStZ 2010, 584, 585). Denn die in § 145a Abs. 3 StPO vorgesehene Benachrichtigung des Betroffenen von der Zustellung an seinen Verteidiger ist Ausdruck der prozessualen Fürsorgepflicht, die dem Gericht gegenüber dem Angeklagten obliegt (vgl. Meyer-Goßner, StPO 55. Aufl., § 145a Rn. 13). Wenn ein Angeklagter dem Gericht die Erfüllung dieser Pflicht unmöglich macht, kann er ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht auf die fehlende Benachrichtigung stützen (vgl. KG, Beschluss vom  26. September 2001 – 5 Ws (B) 609/01 – [juris]).“

Im Übrigen: Selbst wenn das KG anderer Auffassung gewesen wäre, wäre dem Angeklagten keine Wiedereinsetzung gewährt worden. Sein Antrag war nämlich (mal wieder) nciht ausreichend begründet/glaubhaft gemacht.