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Berufung II: Wiedereinsetzung nach Verwerfungsurteil, oder: Ausreichend entschuldigt reicht

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Und als zweite Entscheidung dann das LG Freiburg, Urt. v. 18.04.2023 – 2/23 10 NBs 520 Js 15836/22 – zur Berufung und Wiedereinsetzung nach einem Verwerfungsurteil.

Das AG hatte den Einspruch des Angeklagten gegen einen Strafbefehl verworfen, nachdem der Angeklagte dem Hauptverhandlungstermin ohne vorherige Entschuldigung ferngeblieben ist. In In einem handschriftlichen Brief, der am 06.09.2022 beim AG eingegangen ist, trug der Angeklagte vor, seine Mutter habe den Brief mit der Ladung verlegt, und bat um einen neuen Termin. Das AG legte dieses Schreiben zu Gunsten des Angeklagten gem. § 300 StPO als Wiedereinsetzungsantrag und zugleich als Berufung aus. Den Wiedereinsetzungsantrag verwarf es als „unzulässig und unbegründet“ und legte die Akten nach Rechtskraft des Beschlusses zur Entscheidung über die Berufung dem LG vor.

Die Berufung hatte Erfolg:

„Die Einlassung des Angeklagten und die insbesondere durch die Vernehmung der Mutter des Angeklagten als Zeugin durchgeführte Beweisaufnahme hat folgende Umstände ergeben, die dazu führten, dass der Angeklagte den erstinstanzlichen Verhandlungstermin versäumte:

Der jetzt 55 Jahre alte Angeklagte ist seit fast 10 Jahren bei seiner jetzt knapp 80-jährigen Mutter gemeldet. Seine Mutter lebt seit vielen Jahrzehnten in Deutschland, spricht aber nur sehr rudimentär deutsch. Sie holte aber immer schon die Post der Familie aus dem Briefkasten und legte sie den jeweiligen Familienmitgliedern hin, an die die Post adressiert war. Seit dem Tod ihres Ehemanns vor ca. sechs Jahren ist sie für ihre eigenen Verwaltungsangelegenheiten auf die Hilfe ihres Sohnes angewiesen und wird immer unsicherer.

Der Angeklagte hat seit März oder April 2022 eine neue Freundin, bei der er sich seitdem auch öfters über Nacht aufhält. Er ging aber auch regelmäßig nach Hause zu seiner Mutter, kümmerte sich dort um ihre liegengebliebenen Dinge und nahm die Post in Empfang, die in den zurückliegenden Tagen für ihn angekommen war. Wenn Post für den Angeklagten dabei war, händigte sie ihm diese Briefe aus, wenn er nach Hause kam, bzw. hatte sie auf eine bestimmte Ablage gelegt, wo der Angeklagte sie dann an sich nehmen konnte. Die Ladung zum Termin hatte sie ihm aber nicht hingelegt oder gegeben. Bis dahin hatte der Angeklagte sich darauf verlassen können, dass sie seine und ihre Post nicht durcheinanderbrachte und ihm seine Post zuverlässig aushändigte bzw. hinlegte. Dies tat sie aber nicht mit der Ladung zum Termin zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung, die dem Angeklagten am 06.07.2022 durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden war. Erst als sie ihm das Urteil des Amtsgerichts vom 23.08.2022 gab, wurde ihm klar, dass sie seine Ladung verlegt hatte und dass er nicht mehr auf ihre Zuverlässigkeit vertrauen kann. Er machte sich Vorwürfe, dass er dies nicht vorher bemerkt hatte. Auch die Mutter des Angeklagten macht sich große Vorwürfe.

Soweit der Angeklagte in seinem Schreiben vom 06.09.2022 ausführt, er habe seine Mutter „par mal“ gefragt, ob Post vom Gericht gekommen sei, worauf sie geantwortet habe, sie könne sich nicht erinnern, blieb in der Hauptverhandlung unklar, ob diese Nachfragen vor oder nach dem Hauptverhandlungstermin vom 23.08.2022 stattgefunden hatten. Sowohl der Angeklagte als auch seine Mutter verstanden den Unterschied zwischen den beiden Konstellationen nicht und bejahten beide Varianten.

IV.

Bei dieser Sachlage hält die Strafkammer das Ausbleiben das Angeklagten in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung für ausreichend entschuldigt.

An den Begriff der genügenden Entschuldigung dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Die Möglichkeit, den Einspruch gegen den Strafbefehl bei Ausbleiben des Angeklagten zu verwerfen, birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich. Daraus folgt, dass bei der Prüfung vorgebrachter oder vorliegender Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten angebracht ist, handelt es sich doch um den ersten Zugang des Angeklagten zum Gericht. Zu berücksichtigen sind stets die Umstände des Einzelfalls – insbesondere die konkreten Umstände in der Zeit vor der Hauptverhandlung, in der der Einspruch verworfen wurde – und die Verhältnisse des Angeklagten. Eine genügende Entschuldigung ist u.a. dann anzunehmen, wenn der Angeklagte die zu erwartenden Verhaltensweisen ergriffen hat, um für seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung Sorge zu tragen, oder wenn das Verschulden gering ist. Hat der Angeklagte die notwendigen Maßnahmen nicht ergriffen und dies auch zu vertreten, so sind die Gründe für das Ausbleiben mit der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung abzuwägen (KG Beschl. v. 12.5.2020 – (5) 161 Ss 101/19 (19/19), BeckRS 2020, 33654 Rn. 8, beck-online, m. w. N.).

Die Strafkammer hält das Verschulden des Angeklagten vorliegend auch dann für gering, wenn er seine Mutter vor dem Hauptverhandlungstermin am 23.8.2022 gefragt hatte, ob Post vom Gericht gekommen sei, und sie geantwortet hatte, sie wisse es nicht. Die Strafkammer schloss nämlich aus den überzeugenden Schilderungen des Angeklagten, dass er damals davon ausging, dass dann auch keine Post gekommen sei. Nie vorher habe sie ihm etwas nicht hingelegt. Daher habe er sich einfach nicht vorstellen können, dass sie einen amtlichen Brief vergisst bzw. irgendwo hinlegt, wo sie ihn nicht mehr findet. Dass dies inzwischen zu befürchten sei, sei ihm erst klar geworden, als das Verwerfungsurteil kam. Andernfalls hätte er sich natürlich z. B. durch einen Anruf beim Gericht erkundigt, da er unbedingt vor Gericht zu dem aus seiner Sicht falschen Tatvorwurf angehört werden möchte.

Dem bei dieser Sachlage nach Auffassung der Strafkammer geringen Verschulden des Angeklagten steht gegenüber, dass gegen den Angeklagten in dem genannten Strafbefehl nicht nur eine Geldstrafe, sondern insbesondere auch ein Fahrverbot verhängt wurde. In Hauptverhandlung über den überschaubaren Sachverhalt sollte nur ein Zeuge aussagen, so dass eine Neuladung keinen erheblichen Aufwand bedeutet.

In der Abwägung ist die Strafkammer der Auffassung, dass vorliegend das berechtigte Interesse des Angeklagten am ersten Zugang zum Gericht sein mögliches geringes Verschulden überwiegt.

Das Verwerfungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Müllheim zurückzuverweisen.“

Im Ergebnis richtig. Ich meine allerdings, dass es auf eine „Abwägung“ nicht ankommt. Wenn „ausreichend entschuldigt“, ist „ausreichend entschuldigt“. Aber das mit der Abwägung meint das LG auch wohl nicht so (ernst) 🙂 .

Berufungsverwerfung: Privatärztliches Attest reicht zur Entschuldigung

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Ich habe vor einigen Tagen über den KG, Beschl. v. 04.06.2015 – 3 Ws (B) 264/15 – 122 Ss 73/15 berichtet (vgl. Arztpraxis nicht erreichbar – ok, dann verwerfe ich eben…) sowie über den KG, Beschl. v. 29.06.2015 – 3 Ws (B) 222/15 —162 Ss 36/15, vgl. dazu Niemand anwesend?, ok, dann verwerfe ich eben nach 2 Minuten….) berichtet. In den Kontext passt ganz gut der OLG Köln, Beschl. v. 03.02.2015 – 1 RVs 3/15. Der hat auch eine Verwerfungsproblematik zum Inhalt, allerdings nicht im Bußgeldverfahren, sondern im Berufungsverfahren (§ 329 Abs. 1 StPO). Es geht um die Anforderungen an die Darlegung und Glaubhaftmachung des krankheitsbedingten entschuldigten Fernbleibens von der Hauptverhandlung.

Der Angeklagte war in der Hauptverhandlung ausgeblieben. Seine Berufung ist dann nach § 329 Abs. 1 StPO a.F. verworfen worden. Dagegen hat der Angeklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und dazu vorgetragen, dass er  – so die Ausführungen im OLG, Beschluss -, „am 08.09.2014 verhandlungsunfähig gewesen sei. Dieser leide „seit geraumer Zeit an einer nicht näher bezeichneten somatoforme(n) Störung, einer Gastritis, einer Achalasie, sowie an einer anankastischen Persönlichkeitsstörung.“ Hierbei handele es sich um eine chronische Erkrankung, die mit täglichem Erbrechen einhergehe und zu einem starken Gewichtsverlust des Mandanten geführt habe, der aktuell nur noch 46 kg wiege. Am Verhandlungstag sei der Mandant fiebrig, bettlägerig und aufgrund von akuten Brechzuständen nicht in der Lage gewesen, an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Zur Glaubhaftmachung hat er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Hausarztes Dr. med. C vom 10.09.2014 für die Zeit vom 08.09.2010 bis zum 10.09.2010 vorgelegt, die eine „Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet, G. {F45.9G}“ ausweist (Bl. 127 d. A.), sowie eine ausführliche ärztliche Bescheinigung vom 17.06.2014, welche sämtliche bislang erhobenen Diagnosen, die Anamnese und Medikationen beschreibt (Bl. 124 ff. d. A.). ….„.

Das LG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen, das OLG hat dann Wiedereinsetzung gewährt. Es verweist nochmals darauf, dass der Begriff der genügenden Entschuldigung nicht eng ausgelegt werden dürfe. Eine Entschuldigung sei dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seiner öffentlich-rechtlichen Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d. h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolge dessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden könne.  Eine krankheitsbedingte Verhinderung liegt nicht etwa erst dann vor, wenn Verhandlungsunfähigkeit begründet ist. Zur Glaubhaftmachung der Krankheit genügt in der Regel die Vorlage eines privatärztlichen Attestes. Und dann:

Gemessen an diesen Maßstäben hat der Angeklagte sein Fernbleiben am 8. September 2014 mit den vorgelegten Unterlagen hinreichend entschuldigt.

Dem Gesamtzusammenhang der vorgelegten Atteste und Bescheinigungen vom 17. Juni 2014, 10. September 2014 und 17. September 2014 ist zu entnehmen, dass die gravierende chronische Erkrankung des Angeklagten – somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet, G. {F45.9G}, die sich beim Angeklagten u.a. auch in einer Gastritis, einer Achalasie der Speiseröhre, Gewichtsabnahme und Brechzuständen äußert – seit 2013 und auch am 8. September 2014 vorgelegen hat. Ausweislich der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 10. September 2014 war der Angeklagte vom 8. bis zum 10. September 2014 arbeitsunfähig aufgrund ebendieser Diagnose. Alle vorgelegten Bescheinigungen sind vom Hausarzt des Angeklagten ausgestellt worden, bei dem er sich seit 2005 in Behandlung befindet. Der Verteidiger hat zudem mitgeteilt, der Angeklagte sei am Verhandlungstag fiebrig und bettlägerig und aufgrund von akuten Brechzuständen nicht in der Lage gewesen, an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Gerade diese Brechzustände sind Folgen der beim Angeklagten bestehenden chronischen Erkrankung. Die ärztliche Bescheinigung vom 17. Juni 2014 bescheinigt dem Angeklagten seit 2012 Schluckbeschwerden und Erbrechen. Da die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 10. September 2014 dieselbe Diagnose der chronischen Erkrankung enthält, kann hieraus geschlossen werden, dass der Angeklagte am Terminstag tatsächlich an den vom Verteidiger mitgeteilten körperlichen Beschwerden litt. Dabei führt insbesondere das Erbrechen zur Unzumutbarkeit der Terminswahrnehmung. Anhaltspunkte für die Annahme, es handele sich um durch Täuschung erschlichene oder erbetene „Gefälligkeitsatteste“ (vgl. SenE v. 25.04.2002 – Ss 38/02 -), sind nicht ersichtlich.

Nach allem hat der Angeklagte die Unzumutbarkeit einer Teilnahme an der Hauptverhandlung ausreichend glaubhaft gemacht.

Und: Das OLG hat nicht nur Wiedereinsetzung gewährt, sondern das Verfahren auch gleich eingestellt, weil kein wirksamer Eröffnungsbeschluss vorgelegen hat. Das ist doch mal ein Erfolg, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob das OLG einstellen konnte/durfte oder nicht hätte zurückverweisen müssen. Denn duch die Wiedereinsetzung ist die Revision des Angeklagten gegen das Urteil gegenstandslos, insoweit konnte/durfte das OLG also gar nicht prüfen. Habe ich jetzt aber nicht zu Ende gedacht. Und den Angeklagten wird es eh nicht interessieren.