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Rechtsmittel III: Verschuldete Versäumung der HV?, oder: Verlängerte Wartepflicht nach Angeklagtenanruf

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Und als dritte Entscheidung dann noch der OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.11.2021 – 1 Ws 425/21 – zur schuldhaft versäumten Berufungshauptverhandlung und zur Berufungsverwerfung (§ 329 Abs. 2 StPO).

Folgender Ablauf:

„…. Auf dessen Berufung beraumte die 2. kleine Strafkammer des Landgerichts Aurich den Hauptverhandlungstermin auf den 7. September 2021 um 11:30 Uhr an. Der zu diesem Termin ordnungsgemäß geladene Angeklagte erschien – im Gegensatz zu seiner Pflichtverteidigerin – bei Aufruf der Sache jedoch nicht. Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung wurde nach einem Telefonat der Pflichtverteidigerin mit dem Angeklagten um 11:35 Uhr festgestellt, dass der Angeklagte fälschlich von einem Sitzungsbeginn um 13:30 Uhr ausgegangen sei. Daraufhin wurde die Hauptverhandlung um 11:36 Uhr für zwei Minuten unterbrochen und bei erneutem Aufruf um 11:45 Uhr festgestellt, dass der Angeklagte noch immer nicht erschienen sei. Im Anschluss daran verwarf das Landgericht um 11:47 Uhr die Berufung des Angeklagten nach § 329 StPO.

In den Urteilsgründen wird ausgeführt, dass der Angeklagte am Terminstage ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben und nicht in zulässiger Weise vertreten worden sei. Der Umstand, dass er von einem Beginn um 13:30 Uhr ausgegangen sei, entschuldige ihn nicht….

…. beantragte der Angeklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte zugleich – für den Fall der Verwerfung – Revision ein. Zur Begründung führte dieser aus, dass er sich in der Uhrzeit versehen habe. Er habe zudem durch seine Verteidigerin noch in der Hauptverhandlung erklären lassen, dass er sich unverzüglich auf den Weg machen und spätestens in 45 Minuten, also um 12:15 Uhr, bei Gericht eintreffen werde. Selbst unter Annahme einer insgesamt einstündigen Verspätung hätte die Berufungshauptverhandlung spätestens ab 12:30 Uhr durchgeführt werden können, zumal die nächste Sache am Terminstage erst auf 14:00 Uhr angesetzt worden sei.

Mit weiterem Schreiben vom 21. September 2021 reichte die Verteidigerin eine „eidesstattliche Versicherung“ des Angeklagten zum Zwecke der Glaubhaftmachung zur Akte, in welcher der Angeklagte weitergehend ausführt, sich nach dem um 11:30 Uhr erfolgten Telefonat sofort ins Auto gestiegen und losgefahren zu sein. Unterwegs sei ihm gegen 11:50 Uhr in einem weiteren Telefonat seitens der Verteidigerin mitgeteilt worden, dass die Berufung inzwischen verworfen worden sei, woraufhin er wieder umgekehrt und nach Hause gefahren sei.“

Das LG hat keine Wiedereinsetzung gewährt, das OLG sieht das anders:

„Der Wiedereinsetzungsantrag hat auch in der Sache Erfolg.

Die Möglichkeit der Verwerfung einer Berufung ohne Verhandlung zu Sache nach § 329 StPO beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiterverfolgt wissen will und auf eine sachliche Überprüfung des Urteils verzichtet, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Berufungsführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Demgegenüber ist es nicht Sinn der Vorschrift, bloße Nachlässigkeiten zu bestrafen, die einem zur Mitwirkung bereiten Angeklagten bei seiner Pflicht zum pünktlichen Erscheinen unterlaufen sind. Dementsprechend ist eine enge Auslegung der Vorschrift des § 329 Abs. 1 StPO bzw. eine weite Auslegung des Rechtsbegriffs der genügenden Entschuldigung angezeigt, um zu verhindern, dass der grundgesetzlich gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verkürzt wird. (vgl. BayObLG, Beschluss vom 15.07.1988 – RReg 1 St 90/88, juris Rn. 5; OLG Hamm, Beschluss vom 16.05.1997 – 2 Ws 165/97, NStZ-RR 1997, 368 f.; OLG Köln, Beschluss vom 07.03.2008 – 2 Ws 106/08, juris Rn. 6; Beschluss vom 05.02.2013 – 1 RVs 12/13, juris Rn. 48; Beschluss vom 08.07.2013 – 2 Ws 354/13, juris Rn. 12; OLG Brandenburg, Beschluss vom 15.05.2012 – 53 Ss 60/12, juris Rn. 13; KG, Beschluss vom 30.04.2013 – 161 Ss 89/13, juris Rn. 4; Beschluss vom 14.02.2019 – 4 Ws 12/19, juris Rn. 30; OLG Jena, Beschluss vom 18.09.2012 – 1 Ss 71/12, juris Rn. 9 f. jew. m.w.N.).

Danach ist ein Ausbleiben des Angeklagten im Sinne des § 329 StPO nicht immer schon dann anzunehmen, wenn er bei Anruf der Sache nicht im Sitzungssaal erscheint. Es besteht vielmehr für das Gericht innerhalb verständiger Grenzen die Pflicht, eine angemessene Zeit zuzuwarten. So ist schon bei nicht angekündigtem Ausbleiben des Angeklagten ein Zeitraum von etwa 15 Minuten zuzuwarten, bevor mit der Hauptverhandlung begonnen werden kann. In Fällen, in denen sich der Angeklagte zwar verspätet, innerhalb der regelmäßigen Wartezeit sein Kommen jedoch mit der Angabe zusichert, sich unverzüglich auf den Weg zu machen, ist ausnahmsweise eine deutlich über 15 Minuten hinausgehende Wartezeit geboten, deren Länge sich unter gebotener Abwägung nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere der Schwere des zu verhandelnden Delikts und dem damit einhergehenden Interesse des Angeklagten an einer Sachentscheidung sowie den weiteren terminlichen Belangen des Gerichts am selben Verhandlungstag bestimmt. Denn mit einem solchen Verhalten bringt der Angeklagte zum Ausdruck, die anstehende Sachentscheidung über seine Berufung gerade nicht verzögern zu wollen (vgl. KG, Beschluss vom 05.05.1997 – 1 Ss 94/97, juris Rn. 9 f.; Beschluss vom 30.04.2013 – 161 Ss 89/13, juris Rn. 4; OLG Hamm, Beschluss vom 16.05.1997 – 2 Ws 165/97, NStZ-RR 1997, 368 <369>; Beschluss vom 07.05.2007 – 3 Ws 225/07, juris Rn. 16; OLG Brandenburg, Beschluss vom 15.05.2012 – 53 Ss 60/12, juris Rn. 11 und Rn. 13; OLG Köln, Beschluss vom 07.03.2008 – 2 Ws 106/08, juris Rn. 6; Beschluss vom 05.02.2013 – 1 RVs 12/13, juris Rn. 46 f.; Beschluss vom 08.07.2013 – 2 Ws 354/13, juris Rn. 13; OLG Jena, Beschluss vom 18.09.2012 – 1 Ss 71/12, juris Rn. 11 jew. m.w.N.; siehe auch OLG Oldenburg, Urteil vom 26. Januar 2009 – Ss 472/08, NJW 2009, 1762 <1763>).

Nach diesem Maßstab ergab sich hier für das Landgericht eine Wartepflicht, die bei Verkündung des Verwerfungsurteils 17 Minuten nach Verhandlungsbeginn noch nicht abgelaufen war. Denn aufgrund der über seine Verteidigerin erfolgten Zusicherung, sich sofort zum Terminsort begeben zu wollen, war dem Gericht mehr als deutlich gemacht worden, dass sich der Angeklagte dem Verfahren gerade nicht hat entziehen wollen. Daran vermag auch der Umstand, dass dem Angeklagten – wie hier bei einem Versehen hinsichtlich des Terminzeitpunktes – ein Verschulden trifft, nichts zu ändern, da sein Irrtum über den exakten Beginn der Hauptverhandlung auf einem bloßen Versehen beruht; jedenfalls sind keine Anhaltspunkte für grobe Fahrlässigkeit oder gar Mutwilligkeit erkennbar (vgl. KG, Beschluss vom 05.05.1997 – 1 Ss 94/97, juris Rn. 9 zum Fall des „Verschlafens“; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 18.01.2007 – 1 Ss 188/06, juris Rn. 4 zum Irrtum über den Hauptverhandlungsbeginn; OLG Brandenburg, Beschluss vom 15.05.2012 – 53 Ss 60/12, juris Rn. 11 f. zum Irrtum über den Terminstag; BayObLG, Beschluss vom 15.07.1988 – RReg 1 St 90/88, juris Rn. 8 und OLG München, Beschluss vom 05.07.2007 – 4 St RR 122/07, juris Rn. 10 ff. jew. zum Fall der Verwechslung des Gerichtsortes).

Schließlich vermag auch der in der den Wiedereinsetzungsantrag verwerfenden Entscheidung ausgeführte Einwand nicht durchzugreifen, wonach – mit Blick auf eine sich aus einer Internetrecherche ergebenden Fahrzeit von mindestens 51 Minuten – ein weiteres Zuwarten dem Landgericht nicht zumutbar gewesen sein soll. Der Umstand, dass die Verhandlung hier wohl erst mit einstündiger Verspätung hätte begonnen werden können, lässt zumindest in der vorliegenden Fallkonstellation die Wartepflicht nämlich nicht entfallen (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 07.03.2008 – 2 Ws 106/08, juris Rn. 6 m.w.N.). Denn angesichts der unwidersprochen gebliebenen Tatsache, dass der nächste Hauptverhandlungstermin erst um 14:00 Uhr angesetzt war, hätte der Hauptverhandlungstermin, zu dem nur zwei Zeugen im viertelstündigen Abstand geladen worden waren, auch bei einem Beginn um 12:30 Uhr noch ordnungsgemäß durchgeführt werden können; ein Zeitmangel war demnach nicht zu besorgen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16.05.1997 – 2 Ws 165/97, NStZ-RR 1997, 368 <369>; Beschluss vom 07.05.2007 – 3 Ws 225/07, juris Rn. 16; KG, Beschluss vom 05.05.1997 – 1 Ss 94/97, juris Rn. 9). Überdies steht die Verurteilung zu einer (unbedingten) neunmonatige Freiheitsstrafe im Raum (vgl. OLG München, Beschluss vom 05.07.2007 – 4 St RR 122/07, juris Rn. 11; ferner KG, Beschluss vom 05.05.1997 – 1 Ss 94/97, juris Rn. 10 unter Hinweis auf die Höhe einer erstinstanzlich festgesetzten Geldstrafe); mit anderen Worten, selbst eine verschuldete Versäumnis um mehr als 45 Minuten steht zu der schwerwiegenden Folge der Berufungsverwerfung in einem Missverhältnis, welches die Vermutung eines Verzichts auf Durchführung des Verfahrens sowie die Annahme einer Verwirkung durch Säumnis nicht zulässt (so OLG Oldenburg, Beschluss vom 21.12.1984 – Ss 579/84, MDR 1985, 430).“

Man fragt sich, welches Problem die Strafkammer hatte. Man hätte doch bequem bis 1.30 Uhr Mittag essen und dann verhandeln können.

In der Sicherungsverwahrung: Kein jederzeitiger Anruf, aber zeitnaher Rückruf….

1896_telephoneIn Bayern haben sich ein „Sicherungsverwahrter“ und die JVA um die Frage des Telefonkontakts (mit seinen Verteidigern) gestritten; dabei ging es vornehmlich um die Frage, ob dem Sicherungsverwahrten zu ermöglichen ist, von  eingetragenen Rechtsanwälten und Verteidigern angerufen zu werden. Die JVA und auch die StVK haben das abgelehnt. Die Sache ist dann beim OLG Nürnberg gelandet, das sich im OLG Nürnberg, Beschl. v. 17.09.2015 – 2 Ws 419/15 – der Auffassung der StVK angeschlossen hat, und das wie folgt begründet:

„2. Art. 25 Abs. 1 Satz 1 BaySvVollzG gibt lediglich einen Anspruch auf Telefongespräche unter Vermittlung der Anstalt während der Freizeit. Dass eingehende Telefonate unmittelbar an den Sicherungsverwahrten durchzustellen wären, ergibt sich weder aus dem Wortlaut der Regelung noch aus der Begründung des Gesetzentwurfs der bayerischen Staatsregierung zu Art. 25 BaySvVollzG. Dort ist ausgeführt, dass mit der Schaffung der Vorschrift im Vordergrund steht, dem Sicherungsverwahrten im Gegensatz zur Regelung im Strafvollzug, die nur einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung begründet, zur Wahrung des Abstandsgebots einen Anspruch auf Bewilligung von Telefongesprächen unter Vermittlung der Anstalt zu gewähren, um damit den hohen Stellenwert von Telefongesprächen für die Kommunikation der Sicherungsverwahrten mit der Außenwelt zu berücksichtigen.

3. Dieser Anspruch auf das Führen von Telefonaten durch Vermittlung der Anstalt wird für eingehende Gesprächswünsche mit der bestehenden Praxis in der Justizvollzugsanstalt Straubing – Einrichtung für Sicherungsverwahrte gewahrt. Wie das Oberlandesgericht Hamm (Beschluss vom 01. April 2014 – III-1 Vollz (Ws) 93/14, 1 Vollz (Ws) 93/14 –, juris) zutreffend ausführt, muss die Praxis der Vermittlung der Telefonate darauf ausgerichtet sein, dem hohen Stellenwert von Telefongesprächen für die Kommunikation des Untergebrachten mit der Außenwelt gerecht zu werden. Es besteht aber kein Anspruch darauf, jederzeit und sofort Telefonate zu führen. Der Senat teilt die Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm, dass angesichts der Bedeutung von Telefonaten für die Erfüllung des Angleichungsgrundsatzes Verbindungswünsche des Sicherungsverwahrten für Telefonate während dessen Freizeit zeitnah zu erfüllen sind, wobei die nach Art. 25 Abs. 1 Satz 3, 24 BaySvVollzG vorgesehene Prüfung möglich sein muss, ob das Telefonat zu überwachen ist. Dies gilt für ein- und ausgehende Telefonverbindungen. Der von der Justizvollzugsanstalt Straubing – Einrichtung für Sicherungsverwahrte vorgesehene Ablauf bei eingehenden Telefonaten genügt diesen Anforderungen: Telefonisch oder mit Telefax teilt der Gesprächspartner der Telefonvermittlungszentrale der Anstalt den Gesprächswunsch und die mögliche Anrufzeit mit und diese gibt dem Sicherungsverwahrten zeitnah oder zu einem späteren vom Gesprächspartner gewünschten Zeitpunkt Gelegenheit für einen Rückruf.

Ein weitergehender Anspruch ergibt sich auch nicht aus dem bestehenden Verteidigungsverhältnis. Das Recht des Sicherungsverwahrten, sich einer Verteidigerin zu bedienen und Kontakt zu dieser aufzunehmen, erfordert es nicht, dass die Verteidigerin den Sicherungsverwahrten jederzeit telefonisch sprechen kann. Dass die Verteidigerin im Kanzleibetrieb organisatorische Vorkehrungen dafür treffen muss, ihrerseits telefonisch erreichbar zu sein führt nicht zu einem anderen Ergebnis, zumal die Verteidigerin diese Einschränkungen durch die Angabe eines möglichst konkreten Rückrufzeitpunkts minimieren kann.“