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Nochmals: Wenn Strafkammern es besser können wollen, oder: Auf dem Weg zum Klassiker

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Ja: Nochmals. Denn ich hatte neulich schon über einen häufigeren Fehler in den tatrichterlichen Urteilen berichtet, der sich m.E. zum Klassiker entwickelt (vgl. dazu schon den BGH, Beschl. v. 29.09.2016 – 2 StR 63/16 – und  Das aussagepsychologische Glaubwürdigkeitsgutachten, oder: Wenn die Richter meinen, es besser zu können). Es geht um das Abweichen von einem vom Gericht eingeholten Sachverständigen. Der Umstand spielte auch in dem vom BGH mit dem BGH, Urt. v. 11.01.2017 – 2 StR 323/16 – entschiedenen Fall eine Rolle. Es ging um den Vorwurf eines bewaffneten Raubüberfalls auf ein Juweliergeschäft. Beteiligt waren drei Täter, zwei davon waren identifiziert. Ein dritter weiterer Täter, der mit einer Baseball-Kappe bekleidet war, hatte die Schaufensterscheibe des Geschäfts mit einer Axt von innen eingeschlagen und aus der Auslage zahlreiche Uhren sowie Modeschmuck, die er in eine Umhängetasche packte, entnommen. Der dritte Räuber wies – so das Landgericht – Ähnlichkeiten mit dem Angeklagten und dessen Bruder, Mi. B. , auf. Dass es sich tatsächlich um den Angeklagten handelte, war aber – trotz zahlreicher belastender Indizien – nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen, so das LG.

Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft, die Erfolg hatte. Der BGH stellt – wiederum – einen Fehler in der Beweiswürdigung fest:

„Sie weist Lücken auf, weil nicht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise dargelegt ist, warum es dem Gutachten des  Sachverständigen Dr. Sch. , der es als „wahrscheinlich“ angesehen hat, dass der Angeklagte der (dritte) Täter mit der Adidas-Baseball-Kappe gewesen sei, nicht gefolgt ist.

Zwar ist das Tatgericht nicht gehalten, einem Sachverständigen zu folgen. Kommt es aber zu einem anderen Ergebnis, so muss es sich konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinander setzen, um zu belegen, dass es über das bessere Fachwissen verfügt (vgl. BGH NStZ 2013, 55, 56). Es muss insbesondere auch dessen Stellungnahme zu den Gerichtspunkten wiedergeben, auf die es seine abweichende Auffassung stützt (vgl. BGH NStZ 2000, 550) und unter Auseinandersetzung mit diesen seine Gegenansicht begründen, damit dem Revisionsgericht eine Nachprüfung möglich ist (vgl. BGH NStZ 1994, 503).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Landgericht teilt zwar die Einschätzung des Sachverständigen mit, der bei einem Vergleich von Bildern des Angeklagten mit Aufnahmen einer Überwa-chungskamera von der Tatbegehung keine erheblichen Abweichungen festgestellt, zudem diverse Merkmalsähnlichkeiten erkannt und es insoweit als „wahrscheinlich“ angesehen hat, dass der Angeklagte mit dem Täter auf dem Über-wachungsvideo identisch sei. Die Strafkammer legt auch noch dar, dass sie „dem nicht in vollem Umfang aus eigener Überzeugung zu folgen vermochte“, da die von dem Sachverständigen aus dem Videomaterial gewonnenen und für einen Vergleich herangezogenen Lichtbilder teilweise so unscharf gewesen seien, dass die Kammer die Konturen nicht mit der gleichen Sicherheit wie der Sachverständige als diejenigen des Angeklagten identifizieren konnte. Sie versäumt es aber, der eigenen Einschätzung von der mangelnden Qualität der Tatortbilder die Stellungnahme des Gutachters gegenüber zu stellen und zu erläutern, warum dieser in den Bildern (noch) eine hinreichende Grundlage für die Fertigung eines anthropologischen Gutachtens sieht und aus welchem Grund sie sich dem gleichwohl nicht anzuschließen vermag. Ohne nähere Kenntnis dieser Umstände ist es dem Senat – trotz einiger in Bezug genommener Lichtbilder, die die Strafkammer durchaus nachvollziehbar als „so verschwommen“ bezeichnet hat, dass sie hierauf verlässlich einen Vergleich nicht stützen konnte – nicht möglich nachzuprüfen, ob der Einschätzung der Strafkammer die hierfür erforderliche Sachkunde zugrunde liegt.“

Übrigens: Ggf. ein schneller und einfacher Erfolg für die Revision, da in diesen Fällen die Sachrüge reicht.

Das aussagepsychologische Glaubwürdigkeitsgutachten, oder: Wenn die Richter meinen, es besser zu können

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Jeder Verteidiger kennt das Zaubermitel „Glaubwürdigkeitsgutachten“. Es spielt in fast jedem Verfahren mit Sexualbezug eine Rolle. So auch in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs, in dem das LG Marburg den Angeklagten verurteilt hat. In dem Verfahren ist das LG der Einlassung des Angeklagten nicht gefolgt – es hat sie als „verquastes Gerede von der Erziehungsaufgabe eines Vaters, die Tochter in die erwachsene Sexualität einzuführen“, angesehen und hat seine Überzeugung auf die Angaben des (angeblichen) Tatopfers gestützt. Das LG hatte dazu ein aussage-psychologisches Sachverständigengutachten eingeholt. Die Zeugin hatte in der Hauptverhandlung erstmals bekundet, sie habe Bilder im Kopf und sehe kleine filmartige Szenen des Missbrauchsgeschehens. Anlass für das Gutachten war die Frage, ob sich dahinter dissoziative Zustände verbergen könnten, deren Aufdeckung und Beurteilung dem Sachverstand der Strafkammer nicht mehr hinreichend zugänglich seien.

Die Sachverständige hat dann ihr Gutachten erstattet. Ergebnis: Das Vorliegen eines dissoziativen Zustands wird verneint. Sie geht weiterhin davon aus, dass die sog. Nullhypothese nicht zuverlässig zurückgewiesen werden könne, da die Ausbildung von Pseudoerinnerungen sehr wahrscheinlich sei. Dies hat sie auf verschiedene Erwägungen gestützt, etwa auf den Umstand, dass die Tat lange zurückliege und die Zeugin zeitweise keinen bewussten Erinnerungszugang gehabt habe, auf das Vorliegen einer kognitiven Mangelsituation zur Zeit der Entstehung der Aussage, indem sie Erinnerungen aus Träumen entwickelt habe, auf das Gegebensein einer affektiven Mangelsituation und auch darauf, dass sich übergenaue Erinnerung an Einzelheiten fänden, die gedächtnispsychologisch nicht zu erwarten seien.

Die Strafkammer kann es besser und folgt dem Gutachten nicht, „weil es keine gesicherten aussagepsychologischen Erkenntnisse gebe, auf deren Grundlage sich der Wahrheitsgehalt einer Aussage in Fällen wie dem vorliegenden zweifelsfrei bestimmen lasse, und das noch viel weniger möglich sei, wenn suggestive Ein-flüsse in Rede stünden. Damit werde der Beweiswert des Gutachtens und die Bindungswirkung für das Gericht an das Ergebnis des Gutachtens schwerwie-gend beeinträchtigt….“

Dem BGH reicht das so nicht. Er hat im BGH, Beschl. v. 29.09.2016 – 2 StR 63/16 – aufgehoben und beanstandet einen Beweiswürdigungsfehler:

„Diese Beweiswürdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Es ist einem Tatgericht nicht verwehrt, vom Gutachten eines Sachverständigen abzuweichen. Wenn das Tatgericht aber eine Frage, für die es geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss es die maßgeblichen Überlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen, damit ersichtlich wird, dass es mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt (vgl. Senat, NStZ 2009, 571; ferner BGH, NStZ-RR 2015, 82; st. Rspr.). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

a) Die Strafkammer legt ihrer Entscheidung im Ausgangspunkt eine gutachtenkritische Sichtweise zugrunde, die zu einer schwerwiegenden Einschränkung des Beweiswerts des Gutachtens führen soll. Dies wird zum einen etwa damit belegt, dass es einen über Wissenschaftsgenerationen hinweg erworbenen und gesicherten Stand der Erkenntnisse nicht gebe (UA S. 49); zum anderen gäbe es ein grundsätzliches Problem der Aussagepsychologie; zwar dürften die statistischen Methoden als wissenschaftlich gesichert angesehen werden; die für eine qualitative Bewertung eines solcherart gefundenen Ergebnisses entscheidende Frage sei aber, welche Aussagekraft dem Ergebnis zukomme. Dies sei letztlich nur aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung möglich, die sich jedoch gerade nicht wissenschaftlich zwingend ableiten lasse und auch sonst in einer justiziablen Weise kaum erkennbar sei (UA S. 51). Dies gelte etwa auch so für den von der Sachverständigen als Beleg für die angenommene irrtümliche Erinnerung angeführten Umstand erwarteter Gedächtnisleistungen, dabei handele es sich nicht um zwingende, in einem wissenschaftlichen Sinn auf jeden Einzelfall übertragbare Erkenntnisse (UA S. 53).

Diese Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass die Strafkammer den möglichen Erkenntnisgewinn aussagepsychologischer Gutachten für das Strafverfahren grundsätzlich in Frage stellt, jedenfalls dann, wenn – wie hier – der Grund für die Einholung des Gutachtens – das mögliche Vorliegen dissoziativer Zustände – in Wegfall geraten ist. Dies wird der Bedeutung aussagepsychologischer Begutachtung im Strafverfahren nicht gerecht. Ob es (au-to)suggestive Einflüsse auf eine Aussage gegeben hat oder nicht, ist grundsätzlich sachverständiger Prüfung zugänglich (vgl. Greuel, in: Egg (Hrsg.), Psychologisch-psychiatrische Begutachtung in der Strafjustiz, 2012, S. 33, 49). Dass mögliche Erkenntnisse aus einer sachverständigen Erörterung nicht zwingend sind, machen weder das daraus folgende Ergebnis unbrauchbar noch führt dies dazu, dass damit eigene richterliche Würdigungen ohne Weiteres zu einer gegenüber der sachverständigen Einschätzung besseren Erkenntnisquelle werden. Dies gilt auch für eine Strafkammer, die aus sehr langer Tätigkeit weiß, dass „Ergebnisse der Forschung nicht ohne Weiteres für die gerichtliche Entscheidung nutzbar“ seien, sondern „stets genauer Betrachtung im Einzelfall bedürften“. Die genaue richterliche Betrachtung im Einzelfall belegt nicht besseres Fachwissen gegenüber (vom Landgericht als nicht aussagekräftig empfundene) sachverständigen Würdigungen. Schon dieser skeptische Zugriff auf das aussagepsychologische Gutachten macht die Beweiswürdigung mangelhaft; es ist nicht auszuschließen, dass sich bei der gebotenen offenen Würdigung des Gutachtens deren Ergebnisse als tragfähig erwiesen hätten.“

Das reicht dann schon zur Aufhebung. Auf die anderen vom BGH angesprochenen Umstände/Fehler kommt es dann nicht mehr an.