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42. StV-Tag in Münster: “Räume der Unfreiheit“, die Ergebnisse, oder: Augsburg, wir kommen

So, und hier dann die Ergebnisse des 42. Strafverteidigertages in Münster am vergangenen Wochenende. Gibt es – soweit ich es sehe – sonst noch nicht online. Ich habe sie mir vom Kollegen Uwer vom Orga-Büro besorgt und von der Strafverteidigervereinigung NRW e.V.

Vorab: Es war ein schönen Strafverteidigertag. Natürlich vor allem, weil es für mich in Münster ein Heimspiel war. Münster hat sich auch von seiner besten Seite gezeigt. zwar recht kalt, aber trocken und sonnig. Und die Veranstaltung war mit rund 800 Strafverteidigern auch gut besucht.

Und wie immer: Man trifft eine Menge Kollegen wieder, die man sonst nicht so häufig sieht. Wir hatten dann von der Facebokk-Gruppe „Strafverteidiger“ am Donnerstag ein „Warm-Up“. Auch das war eine runde Sache.

So genug des Lobes. Hier dann die Ergebnisse:

Ergebnisse der AG 1

Die Haftanstalt als gefährlicher Ort

1. Auch wenn das Vollzugsziel ‚Resozialisierung‘ als Verfassungsprinzip verankert ist, gibt es erheblichen Handlungsbedarf, um den Anspruch des Einzelnen auf Wiedereingliederung durchzusetzen. Die Einführung von Resozialisierungsgesetzen, die dem Einzelnen einen Rechtsanspruch auf Wiedereingliederung geben und die »Lücke« zwischen Justizvollzug und Bewährungshilfe schließen, müssen in allen Bundesländern eingeführt werden.

2. Auch wenn eine völlige Abschaffung der Freiheitsstrafe insgesamt nicht möglich erscheint, solange keine Abschaffung des geltenden Schuldstrafrechts erfolgt, müssen die Strafverteidiger weiterhin kritisch diskutieren, ob (Freiheits-)Strafe dauerhaft als Reaktionsmöglichkeit auf strafrechtliche Verfehlungen in unserer Strafrechtsordnung bestehen bleiben muss oder alternative Reaktionen zur Verfügung stehen.

3. Bestrebungen einzelner Bundesländer, den Schutz der Allgemeinheit als Ziel des Strafvollzugs unter Zurückdrängung des Resozialisierungsgedankens zu etablieren, lehnen wir ab. Die Strafverteidiger lehnen ein solches »Marketing« mit nur angeblicher Resozialisierung im Vollzug ab.

4. Politische Bestrebungen jedweder Art, den Anwendungsbereich des offenen Strafvollzugs zurückzudrängen, lehnen wir ab. Angesichts der bundesweit extrem geringen Missbrauchsquoten bei Vollzugslockerungen besteht dazu kein Anlass. Im Gegenteil muss eine Erweiterung des offenen Vollzugs erfolgen.

5. Der Vollzug von Freiheitsstrafen muss auf ein Mindestmaß reduziert werden. In Sinne eines solchen reduktionistischen Ansatzes müssen folgende Maßnahmen durch den Gesetzgeber umgesetzt werden:

– Stärkung der Verwarnung mit Strafvorbehalt;

– Vermeidung der Vollstreckung kurzer Freiheitsstrafen, Ersetzung von Freiheitsstrafe bis 1 J. durch gemeinnützige Arbeit;

– Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, hilfsweise deren Vermeidung durch gemeinnützige Arbeit;

– generelle Halbstrafentlassung bei Ersttätern, § 57 Abs. 2 StGB, und Regelaussetzung bei neutraler oder unsicherer Prognose, § 57 Abs. 1, 2 StGB);

– Einschränkungen des Widerrufs bei Strafaussetzung zur Bewährung bei bloßen Weisungs- und Auflagenverstößen.

6. Um die Suizidrate in den Justizvollzugsanstalten zu senken, muss die Kontaktmöglichkeit zwischen JVA und Anwalt verbessert werden. Die Bereitschaft dazu wird nur wachsen, wenn in jeder JVA geeignete Suizidpräventionsräume vorhanden sind, die »besonders gesicherte Hafträume« ersetzen, in denen ein menschenwürdiger Strafvollzug unmöglich ist. Auch der Kontakt zum Haftrichter aus der JVA heraus muss zwecks Suizidprävention in der Untersuchungshaft verbessert werden (kurzfristige Aufhebung von Beschränkungen, sofern erforderlich)

Ergebnisse der AG 2

Führungsaufsicht

Führungsaufsicht hat positive Potentiale, wenn sie ihre Funktion zu helfen und zu begleiten mit angemessener Ausstattung erfüllen kann.

Besorgnis bereitet, dass die repressiven Ziele der Führungsaufsicht überhand nehmen und somit das eigentliche Ziel zu helfen und zu begleiten in den Hintergrund tritt.

Es ist eine Entwicklung zu beobachten, dass im Einzelfall ein Weisungscocktail gemixt wird, der rechtlich nicht mehr mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbaren ist. Kriminologisch setzt dieser die Mitwirkungsbereitschaft der Probanden herab und führt zu Überforderungssituationen.

Die Rolle der Polizei ist im Zusammenspiel zwischen Führungsaufsicht und Überwachungskonzepten der Länder (zB HEADS oder KURS) vollkommen ungeregelt. Die Führungsaufsicht muss als gesetzlich geregelte Maßregel den als bloße Verwaltungsvorschrift ausgestalteten Überwachungskonzepten vorgehen. Die Führungsaufsicht darf nicht durch polizeiliche Entscheidungen konterkariert werden.

Die Führungsaufsicht darf nicht durch Ausgestaltungen als Hausarrest zur kleinen Schwester der Sicherungsverwahrung verkommen.

Vergleichbar zur Regelung des § 67e StGB ist auch bei der Führungsaufsicht eine regelmäßige Überprüfung des Fortbestands im Rahmen einer gerichtlichen Anhörung erforderlich. Das ist ein Fall der notwendigen Verteidigung.

Die Wirkungsweise und Berechtigung der Strafvorschrift des § 145a StGB ist nicht belegt und bedarf einer wissenschaftlichen Überprüfung. Hinsichtlich der Legitimierung bestehen erhebliche Zweifel.

Ergebnisse der AG 3

Die Wirklichkeit lebenslanger Freiheitsstrafen

Die lebenslange Freiheitsstrafe kommt einer Vernichtungsstrafe gleich, die in ihrer Absolutheit einen Fremdkörper im System des Strafzumessungsrechts darstellt. Die notwendige Reform erscheint dabei mit einer ebenfalls zwingend notwendigen Reform des Mordtatbestandes untrennbar verknüpft.

Die »Lebenslänglichen« bilden trotz relativ geringer Verurteilungszahlen eine vergleichsweise große Gruppe im Strafvollzug. Mehr als zehn Prozent der »Lebenslänglichen« versterben im Vollzug, viele werden zum Sterben entlassen.

Der Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe führt in der Regel zu einer irreparablen Schädigung der Persönlichkeit oder der Gesundheit der Gefangenen. Bei sogenannten Langzeitgefangenen ist ein körperlicher und seelischer Verfall festzustellen; insbesondere die unbestimmte Dauer der absoluten Strafe hat schwerwiegende psychische Auswirkungen auf die von einer solchen Strafe Betroffenen.

Die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe findet keine rechtspolitische oder kriminologische Rechtfertigung. Sie zerstört die Verurteilten eher, als sie auf ein Leben ohne Straftaten nach Verbüßung des Freiheitsentzugs vorzubereiten.

Die lebenslange Freiheitsstrafe gehört daher abgeschafft.

Ergebnisse der AG 4

Pre-Crime, Crime und Überwachung

In den letzten Jahren ist eine deutliche Zunahme digitaler Ermittlungs- und Überwachungsmethoden in- und außerhalb des Strafverfahrens festzustellen. Die Bestrebungen der Sicherheitsbehörden gehen dahin, Straftaten mit Hilfe von technischen Mitteln nicht nur im Nachhinein zu verfolgen, sondern bereits im Vorfeld zu verhindern. In diesem Zusammenhang werden immer neue Rechtsgrundlagen für erweiterte Grundrechtseingriffe geschaffen, die technische Ausstattung der Sicherheitsbehörden aufgerüstet und immer mehr Daten gesammelt und verarbeitet.

Diese Entwicklung erfordert eine kritische Begleitung und eine breite gesellschaftliche Diskussion. Es gilt zu verhindern, dass die Freiheitsrechte zugunsten eines vermeintlichen Mehr an Sicherheit immer weiter eingeschränkt werden. Der Weg zu anlasslos erfolgenden oder flächendeckend durchgeführten Maßnahmen der automatisierten Erfassung und Auswertung von Daten muss weiterhin versperrt bleiben.

Für den Anwendungsbereich der Online-Durchsuchung ist zu fordern:

  • Ziel muss eine verfassungsrechtliche Überprüfung der Norm sein;
  • Beschränkung des Katalogs der Straftaten, die eine Online-Durchsuchung ermöglichen sollen auf die Vorgaben des BVerfG;
  • strikte Beachtung der gesetzlichen Vorgaben wie Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips;
  • keine umfassende Untersuchung des informationstechnischen Systems,
  • Beschränkung der gewonnenen Daten auf diejenigen, die für das jeweilige Strafverfahren relevant sind;
  • Sicherstellung durch eine vorgelagerte Prüfung, dass die Erfassung von »kernbereichsrelevanten Informationen« ausgeschlossen ist;
  • deutliche Ausweitung der Protokollierungspflicht bezüglich der Durchführung der Maßnahme

Für die Anwendung der Quellen-TKÜ ist zu fordern:

Für die Vorratsdatenspeicherung ist zu fordern:

  • Die durch das Gesetz zur verdachtslosen Vorratsdatenspeicherung ermöglichte Massenerfassung sämtlicher Kontakte und Bewegungen der gesamten Bevölkerung ist nicht mit den Grundrechten vereinbar und verstößt eklatant gegen europäisches Recht. Das Gesetz ist deshalb aufzuheben.

Für den Anwendungsbereich des Predective Policing ist festzustellen:

  • Die Wirksamkeit der aktuell bereits in mehreren Bundesländern angewendeten Systeme ist fraglich. Die Gefahr einer immer weiteren Ausweitung der Methoden des Predictive Policing unter Einbeziehung auch von personenbezogenen Daten in diesen Systemen drängt sich im Sicherheitsstaat auf.
  • Ein Blick in die USA zeigt, dass diese Systeme geeignet sind, massive Eingriffe in Freiheitsrechte einer Vielzahl von Personen zu bewirken und sich einer normativen Kontrolle entziehen.
  • Abweichendes Verhalten kann nicht mit Algorithmen beantwortet werden, sondern bedarf eines verantwortungsbewussten Umgangs der Gesellschaft mit den sozialen Ursachen der Kriminalität.

Ergebnisse der AG 5

Die Aufweichung des Erziehungsprinzips im Jugendstrafrecht durch schuld- und feindstrafrechtliche Tendenzen

  1. Der Zurückdrängung des Erziehungsgedankens bei der Verhängung von Jugendstrafen wegen Schuldschwere ist entschieden entgegenzutreten. Die insoweit uneinheitliche und widersprüchliche höchstrichterliche Rechtsprechung sollte auf ein einheitliches und nachvollziehbares Konzept des Erziehungsgedankens rekurrieren. Die Regelung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG, durch den das Höchstmaß verhängbarer Jugendstrafe auf 15 Jahre angehoben wurde, ist abzuschaffen, da die Regelung verfassungsrechtlich bedenklich ist und die Gefahr einer Sogwirkung im Hinblick auf die weitere Eskalation der Höhe verhängter Jugendstrafen birgt.
  2. Für straffällig gewordene jugendliche und heranwachsende Flüchtlinge sind ihrer Situation angemessene ambulante Maßnahmen zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen, um auch für diese Gruppe den Erziehungsgedanken effektiv zur Geltung zu bringen.
  3. Für die Umsetzung der Richtlinie EU 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ist in erster Linie zu fordern, dass die einzuführenden Verfahrensrechte unterschiedslos auf Jugendliche und Heranwachsende Anwendung finden. Im Hinblick auf die umzusetzende Ausweitung der Voraussetzungen der Pflichtverteidigung und die Vorverlegung des Bestellungszeitpunkts auf das Ermittlungsverfahren ist sicherzustellen, dass jugendstrafrechtlich spezifisch qualifizierte Verteidiger bestellt werden. Die Anwaltschaft muss diesbezüglich Verantwortung übernehmen und ein Konzept zur Bereitstellung entsprechend qualifizierter Verteidiger entwickeln, welches auch die Transparenz der Auswahlentscheidung sicherstellt.
  4. Unbedingte Jugendstrafen dürfen erst dann verhängt werden, wenn alle anderen Reaktionsmöglichkeiten auf strafrechtliches Verhalten vollständig ausgeschöpft sind. Jugendstrafvollzug kann dabei nur dann zielführend sein, wenn die Qualität der erzieherischen Angebote im Strafvollzug kontinuierlich erhöht wird und den individuellen Bedürfnissen der straffällig gewordenen Jugendlichen und Heranwachsenden Rechnung trägt.
  5. Die in den letzten Jahrzehnten in das Jugendstrafverfahren implementierten Opferschutzrechte bedürfen der einschränkenden Interpretation und sind in ihrer Geltung dem Maßstab des § 2 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG zu unterwerfen. Sie müssen endlich kritisch empirisch evaluiert und gegebenenfalls revidiert werden. Die Einziehung von Wertersatz ist mit dem Erziehungsgedanken unter keinem Gesichtspunkt in Einklang zu bringen, weshalb diese aus dem Jugendstrafrecht zu entfernen ist.

Ergebnisse der AG 7

StPO – nach der Reform ist vor der Reform

  1. Ein „gesetzgeberischer Handlungsbedarf einer Rechtsgrundlage für die Tatprovokation“ (vgl. Koalitionsvertrag) besteht nicht – für ein gesetzliches Verbot der Tatprovokation dagegen aber sehr wohl. Ein gedanklicher Einstieg könnte hier die Regelung des § 5 Abs. 3 öStPO sein.

  2. Die durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens erfolgte Einführung des (ab 1.1.2020) geltenden § 136 Abs. 4 StPO kann nicht mehr sein als ein „Einstieg“ in ein umfassendes gesetzliches Programm zur Dokumentation des Ermittlungsverfahrens [und der Hauptverhandlung].

  3. Die Regelung greift mit der Beschränkung auf „vorsätzlich begangene Tötungsdelikte“ deutlich zu kurz; offensichtlich soll hier nur ein „Experimentierfeld“ etabliert werden, dieses muss ausgeweitet werden (mindestens auf alle Verbrechenstatbestände).

  4. Art und Umfang der audiovisuellen Aufzeichnung sind gesetzlich näher auszuformulieren.

  5. Die Tatbestände zur Einschränkung („und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen“) sind eng zu interpretieren. Dem Einwand einer fehlenden Aufzeichnungsmöglichkeit als „äußerer Umstand“ ist bspw. der (geplante) flächendeckende Einsatz von sog. „bodycams“ bei der Polizei entgegenzuhalten.

  6. § 136 Abs. 4 StPO ist als harte Beweiserhebungsregelung zu interpretieren und stellt keine bloße „Ordnungsvorschrift“ dar. Jede andere Kategorisierung wäre dem Wesen des § 136 StPO (inzwischen) wesensfremd.

  7. § 136 Abs. 4 StPO ist zu erweitern um konkrete Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote. Insbesondere ist ein Umgehungsverbot („Vernehmung“) vorzusehen.

  8. Mit dem fortgeschrittenen Verlust einer Trennung von Ermittlungs- und Hauptverfahren und verstärkten Transfers ist die Qualitätssicherung und Dokumentation der im Ermittlungsverfahren erfolgenden Beweiserhebungen geboten. Diese zwingt zur audiovisuellen Dokumentation der Beschuldigten- als auch Zeugenvernehmungen verbunden mit einem umfassenden Akteneinsichtsrecht des Verteidigers.

  9. Zu der durch § 148 StPO geschützten Kommunikation zwischen Verteidiger und Beschuldigtem gehören auch die Anbahnungsgespräche. Hierzu bedarf es einer klarstellenden gesetzlichen Regelung in § 148 StPO [und § 160a StPO].

  10. Das Recht auf umfassende Einsicht in den elektronischen Datenbestand und damit in den gesamten Metadatenstamm, um die Vollständigkeit zu prüfen. Hierfür muss die Stellung eines Beweisantrags ohne konkreten Verdacht („ins Blaue hinein“) zulässig sein, um eine etwaige Manipulation oder sonstige Veränderung des Datenstamms nachweisen zu können.

  11. Insbesondere die diskutierten ersten drei Forderungen des zweiten Strafkammertages 2017 werden zurückgewiesen. Die Dichotomie für mehr Effizienz kann nicht mit der Beschneidung prozessualer Beschuldigtenrechte einhergehen. Die Grenzen des Rechtsstaats werden andernfalls überschritten.

Ich war übrigens in der Gruppe 7. Eine recht lebhafte Diskussion über das, was ggf. kommt oder kommen soll. Man muss ja immer auf dme laufenden sein.

Nach dem StV-Tag ist dann ja immer auch vor dem StV-Tag. Und der findet im Jahr 2019 dann in Bayern statt. Und zwar in Augsburg, also für mich wieder ein „Quasi-Heimspiel“. Und nein, ich habe da nicht meine Finder drin – wie gestern schon auf Twitter vermutet wurde. Aber ich finde die Wahl natürlich gut 🙂 .