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Urteil II: Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist, oder: Welche „Nachfrist“ in einer Haftsache?

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Und die zweite „Urteilsentscheidung“ behandelt auch einen Dauerbrenner, nämlich die Urteilsabsetzungsfrist (§ 275 Abs. 1 S. 4 StPO). Allerdings geht es im dem OLG Celle, Beschl. v.  20.02.204 – 2 ORs 1/24 – um eine Abwandlung, nämlich um die Frage: Wie lange darf es nach Wegfall des eine Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist rechtfertigenden Umstandes dauern, bis das Urteil zur Akte gebracht ist.

Dazu führt das OLG aus:

“ ….. Die erhobene Verfahrensrüge gemäß § 338 Nr. 7 StPO führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hannover.

1.Wird die Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist gerügt, muss in tatsächlicher Hinsicht vorgetragen werden, dass das unterschriebene Urteil nicht innerhalb der Frist zur Akte gelangt ist. Dabei sind alle Tatsachen darzulegen, die eine sichere Berechnung der sich aus § 275 Abs. 1 StPO ergebenden Frist ermöglichen. Das Datum des Urteilseingangs ist anzugeben (vgl. Senat, Beschluss vom 01.03.2023 – 2 ORs 10/23 -). Diesen Anforderungen wird die erhobene Verfahrensrüge gerecht.

…..

Die Verfahrensrüge stellt darauf ab, dass das Urteil bereits am 02.11.2023 hätte abgesetzt werden müssen und die dienstliche Erklärung keine Angaben dazu enthalte, was dem entgegengestanden habe. Zudem verweist sie auf den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen.

Der Senat hat im Freibeweisverfahren eine ergänzende dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden eingeholt. Diese Stellungnahme lag dem Senat am 14.02.2024 vor.

2. Die in zulässiger Weise erhobene Rüge der Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist (§ 338 Nr. 7, § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 StPO) greift durch.

Das Urteil wurde am 01.09.2023, dem 5. Hauptverhandlungstag, verkündet, so dass es gemäß § 275 Abs. 1 S. 2, 2. Halbsatz StPO spätestens am 20.10.2023 zu den Akten zu bringen gewesen wäre. Am 01.10.2023 verunfallte der Vorsitzende. Er war deshalb bis einschließlich 30.10.2023 dienstunfähig erkrankt. Nach dem Feiertag am 31.10.2023 (Reformationstag) nahm er am 01.11.2023 seinen Dienst wieder auf. Am 07.11.2023 legte er das Urteil in Diktatform nieder. Am 16.11.2023 ging das vollständig geschriebene und vom Vorsitzenden unterzeichnete Urteil bei der Geschäftsstelle ein.

Nach § 275 Abs. 1 S. 4 StPO darf die Frist nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist. Der Unfall des Vorsitzenden am 01.10.2023 und seine daraus folgende Dienstunfähigkeit bis zum 30.10.2023 einschließlich stellen zwar einen solchen nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand dar, der mithin eine Fristüberschreitung gemäß § 275 Abs. 1 S. 4 StPO rechtfertigte. Jedoch hätte das Urteil nicht erst am 16.11.2023 zu den Akten gelangen dürfen.

Das Urteil ist nicht bereits am 07.11.2023 im Sinne von § 275 Abs. 1 S. 2 StPO zu den Akten gebracht worden. An diesem Tag hat der Vorsitzende das Urteil vielmehr nur „in Diktatform niedergelegt“. Das auf einen Tonträger diktierte Diktat genügt aber nicht. Vielmehr muss das zu den Akten gebrachte Urteil in Schriftform vorliegen und von allen Berufsrichtern unterzeichnet sein (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage, § 275 Rn. 3 m. w. N.). Das war nach der vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden vom 14.02.2024 erst am 16.11.2023 der Fall. Am Morgen dieses Tages hat er gegen 9:30 Uhr das von ihm unterschriebene Urteil persönlich auf die Geschäftsstelle gebracht.

Nach Wegfall des Hindernisses muss das Urteil mit größtmöglicher Beschleunigung zu den Akten gebracht werden (vgl. BGH NStZ, 1982, 519; StV 1995, 514). Nach dieser Rechtsprechung des BGH sind insoweit Verzögerungen von vier Arbeitstagen nicht  mehr zu rechtfertigen. Im vorliegenden Fall waren es von der Wiederaufnahme der Dienstgeschäfte des Vorsitzenden am 01.11.2023 bis zum Eingang des unterschriebenen Urteils auf der Geschäftsstelle am 16.11.2023 zwölf Arbeitstage (16 Kalendertage). Im Hinblick darauf, dass auf der einen Seite die Hauptverhandlung fünf Tage in Anspruch nahm, der Angeklagte jede Tatbeteiligung bestritt, eine umfassende Beweiswürdigung unter Auswertung auch eines Sachverständigengutachtens vorzunehmen war und das fertige Urteil 19 Seiten füllt, auf der anderen Seite der Vorsitzende seiner dienstlichen Stellungnahme vom 14.02.2024 zufolge nur mit einem Arbeitskraftanteil von 0,5 eingesetzt ist, nach Wiederaufnahme seiner Tätigkeit am 01.11.2023 und Durchsicht sämtlicher aufgelaufener von insgesamt 37 in der Kammer anhängigen Sachen die vorrangig zu bearbeitenden Verfahren gesichtet und sodann unverzüglich mit der Bearbeitung der vorliegenden Sache begonnen, eine auf den 06.11.2023 terminierte Hauptverhandlung aufgehoben und zudem trotz seiner halben Stelle das Urteil am 07.11.2023 ganztägig zu Ende diktiert sowie unter „Eilt sehr! Haft!“ persönlich zur Geschäftsstelle gebracht hat, wo es um 16:53 Uhr zur weiteren Bearbeitung durch die Phonokanzlei ins Netz gestellt wurde, erscheinen die vom Vorsitzenden für das vollständige Diktieren des Urteils insgesamt benötigten fünf Arbeitstage (sieben Kalendertage) nicht als unangemessen lang.

Unangemessen lang war hingegen die Zeit von sieben weiteren Arbeitstagen (neun Kalendertagen) vom Eingang des Diktats auf der Geschäftsstelle am 07.11.2023 bis zum Eingang des unterschriebenen Urteils dort am 16.11.2023. Die dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden vom 14.02.2024 führt dazu aus, dass die zuständige Justizangestellte der Phonokanzlei, die auf 5-Stunden-Basis täglich beschäftigt sei, sowohl für den Straf- als auch für den Zivilbereich zu schreiben habe und zusätzlich eine seit Oktober 2023 erkrankte Kollegin vertreten müsse, das Schreiben des Diktats nach ihrer Erinnerung entweder am 08.11.2023, eher aber am 09.11.2023 begonnen und ihm das geschriebene Diktat am 13.11.2023 zugeleitet habe. Er habe den Urteilsentwurf am Morgen des 14.11.2023 auf seinem Schreibtisch vorgefunden und neben der Sitzungsvorbereitung für die auf den 16.11.2023 angesetzte Hauptverhandlung mit Fortsetzungstermin am 20.11.2023 unverzüglich weiterbearbeitet.

Angesichts des Urteilsumfangs von 19 Seiten war sowohl die Verweildauer des Diktats von vier Arbeitstagen (sechs Kalendertagen) bei der Phonokanzlei, als auch die Verweildauer beim Vorsitzenden von drei weiteren Arbeitstagen zu lang. Da Strafsachen stets Zivilsachen vorgehen und nicht ersichtlich ist, dass die zuständige Kanzleikraft am 08.11.2023 Diktate in vorrangigen Strafsachen zu schreiben hatte, hätte sie die vorliegende, als solche gekennzeichnete Haftsache gleich am 08.11.2023 bearbeiten müssen und hätte das Schreiben des 19-seitigen Urteils auch gut im Rahmen ihrer fünfstündigen Arbeitszeit an diesem Tag bewältigen können, so dass der Entwurf dem Vorsitzenden bereits am nächsten Tag (09.11.2023) hätte wieder vorliegen können. Auch dieser hätte den Entwurf noch am Tag des Vorfindens auf seinem Schreibtisch (14.11.2023) sowie – im Hinblick auf seine halbe Stelle auch noch – am Folgetag (15.11.2023) korrekturlesen, fertigstellen, unterschreiben und zu den Akten bringen müssen, anstatt dies wegen der parallelen Vorbereitung auf eine nicht vorrangige neue Hauptverhandlung am 16.11.2023, die er vielmehr – wie zuvor schon die Sitzung vom 06.11.2023 – hätte aufheben müssen, um einen weiteren Tag (bis zum Morgen des 16.11.2023) zu verschieben. Dann wären es von der Wiederaufnahme der Dienstgeschäfte des Vorsitzenden bis zum Eingang des unterschriebenen Urteils auf der Geschäftsstelle insgesamt nur acht statt zwölf Arbeitstage (zehn statt 16 Kalendertage) gewesen. Die Vorbereitung einer Nichthaftsache hat gegenüber der raschen Absetzung eines überfälligen Urteils zurückzutreten (KG StV 2016, 798).

Der Umstand, dass drei der insgesamt vier und damit der Großteil der zu viel benötigten Arbeitstage nicht vom Vorsitzenden selbst, sondern von der gleichzeitig mit Straf- und Zivilsachen sowie einer Krankheitsvertretung belasteten Teilzeitkraft der Phonokanzlei verursacht wurden, vermag nicht zu einer anderen Würdigung führen, weil es sich um Umstände handelt, die die Organisation des Gerichts betreffen, und solche Umstände in der Regel schon eine Fristüberschreitung nicht zu rechtfertigen vermögen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 275 Rn. 14 m. w. N.), was dann erst recht für die Zeit nach Wegfall des Hindernisses gelten muss. Auch aus Sinn und Zweck der Vorschrift lässt sich nichts Anderes ableiten. Die Urteilsabsetzungsfrist, die das Beschleunigungsgebot konkretisiert, soll verhüten, dass ein längeres Hinausschieben der Urteilsabfassung die Zuverlässigkeit der Erinnerung der erkennenden Richter beeinträchtigt und zu einer Darstellung der Sach- und Rechtslage in den Urteilsgründen führt, bei der nicht mehr gesichert ist, dass sie der das Urteil tragenden Ansicht der Richter bei der Beratung entspricht (vgl. Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 275 Rn. 2 m. w. N.). Dieser Gesetzeszweck ist auch dann verletzt, wenn zwischen dem vollständigen Diktieren des Urteils und der abschließenden Unterschrift unangemessen viel Zeit verstreicht. Das gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als zusätzlich das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu beachten war.

Die unangemessen lange Zeit zwischen dem Fertigstellen des Diktats und dem Eingang des Urteils auf der Geschäftsstelle von sieben Arbeitstagen kann im vorliegenden Fall schließlich auch nicht dadurch als kompensiert angesehen werden, dass der Vorsitzende etwa das Urteil mit überobligatorischer Beschleunigung vollständig diktiert hätte. Letzteres gilt zwar für den 07.11.2023 selbst, als der Vorsitzende das Urteil trotz seines Arbeitskraftanteils von nur 0,5 ganztägig zu Ende diktiert hat, genügt aber nicht, um die insgesamt vier zu viel benötigten Arbeitstage zu kompensieren.“

Urteil I: Erneut: „es fehlt die Unterschrift der Richter“, oder: Der BGH erklärt es noch einmal…

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Und dann auf in die 12 KW./2024, und zwar mit zwei Entscheidungen, die sich mit Entscheidungen – Beschlüssen und Urteilen – befassen.

Die erste Entscheidung kommt vom BGH; es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 20.02.2024 – 3 StR 428/23. Der behandelt die Anhörungsrüge des Verurteilten gegen einen Beschluss des Senats und den Rechtsbehelf gegen die darin getroffene Kostenentscheidung werden verworfen. Da die Ausführungen des BGH – zumindest teilweise – auch auf Urteile passen, läuft der Beitrag unter dem Stichwort: „Urteil“.

Der 3. Strafsenat hatte die Revision des Verurteilten gegen ein Urteil des LG Koblenz mit Beschluss vom 09.01.2024 gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen und ihm die Kosten des Rechtsmittels auferlegt. Mit Schreiben vom 23.01.2024 hat der Verurteilte beantragt, „alle Beschlüsse, die meine grundsätzliche geschützte Freiheit einschränken(,) aufzuheben“. Der Senat habe ihm weder in angemessenem Umfang rechtliches Gehör gewährt noch den Beschluss korrekt unterschrieben. Mit weiterem Schreiben vom 31.01.2024 hat der Verurteilte sein Begehr dahin präzisiert, seine „Beschwerde vom 23.01.2024“ umfasse auch die Entscheidung über die Kosten für das Revisionsverfahren.

Der BGH hat das als Anhörungsrüge gewertet und das Vorbringen zurückgewiesen:

„2. Das erste Schreiben des Verurteilten ist als Anhörungsrüge (§§ 300, 356a StPO) auszulegen. Diese ist zulässig, jedoch unbegründet, weil der Anspruch des Verurteilten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht verletzt ist. Der Senat hat zu berücksichtigendes entscheidungserhebliches Vorbringen des Verurteilten im Revisionsverfahren nicht übergangen. Ebenso wenig hat er Verfahrensstoff verwertet, zu dem der Verurteilte nicht gehört worden ist, oder in sonstiger Weise dessen Anspruch auf rechtliches Gehör missachtet. Sollte der Verurteilte eine Auseinandersetzung mit bestimmtem Revisionsvorbringen vermissen, kann daraus nicht auf einen Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs geschlossen werden, weil § 349 Abs. 2 StPO eine Begründung des die Revision verwerfenden Beschlusses nicht vorsieht. Auch verfassungsrechtlich ist eine solche bei letztinstanzlichen Entscheidungen grundsätzlich nicht erforderlich (s. BVerfG, Beschluss vom 30. September 2022 – 2 BvR 2222/21, NJW 2022, 3413 Rn. 27 mwN; BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2021 – 3 StR 170/21, juris Rn. 3).

Soweit der Verurteilte bemängelt, dass der ihm übersandte Beschluss lediglich von einer Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet ist, gilt:

Die von den Richtern unterschriebenen Originale von Urteilen und Beschlüssen verbleiben bei den Akten. An die Verfahrensbeteiligten werden sogenannte Ausfertigungen herausgegeben. Das sind Abschriften oder Ablichtungen des Originals mit dem Ausfertigungsvermerk der Geschäftsstelle, der von einem Urkundsbeamten unterschrieben und mit einem Dienstsiegel versehen wird (§ 169 Abs. 2 ZPO). Nach diesen Vorgaben ist auch im vorliegenden Fall verfahren worden.

3. Die vom Verurteilten jedenfalls mit dem zweiten Schreiben zum Ausdruck gebrachte Beanstandung der Kostenentscheidung im Revisionsverfahren bleibt ebenfalls erfolglos.

a) Als (sofortige) „Beschwerde“ gegen den Kostenausspruch (vgl. § 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StPO) verstanden, wäre sie unzulässig. Denn Entscheidungen eines Senats des Bundesgerichtshofs sind nach § 304 Abs. 4 Satz 1 StPO generell nicht beschwerdefähig.

b) Sofern die Schreiben des Verurteilten gemäß § 300 StPO als Gegenvorstellung auszulegen sein sollten, wäre eine solche jedenfalls unbegründet, weil die Kostenentscheidung im Beschluss des Senats vom 9. Januar 2024 der Sach- und Rechtslage entspricht. Deshalb kann dahinstehen, unter welchen Umständen eine Gegenvorstellung zulässig ist, mit der ein Revisionsführer beanstandet, das Revisionsgericht habe ihm zu Unrecht Kosten oder Auslagen auferlegt (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2022 – 3 StR 452/20, juris Rn. 6 mwN).“

Ich bitte an alle „Unterzeichnungskritiker“, also alle diejenigen, die immer wieder beanstanden, dass die ihnen zugestellte/übersandte Ausfertigung einer Entscheidung – hier war ein Beschluss, häufig sind es Urteile – nicht unterschrieben ist, die oben – entgegen der sonstigen Übung auch fett formatierte – Passage zu lesen und endlich mit den immer wieder kehrenden Angriffen: „Das Urteil ist nicht unterschrieben, also ist es nicht in der Welt“, aufzuhören. Die Ausfertigungen, die die Partei erhält, ist/wird nicht unterschrieben. Unterschrieben wird das Original, das in der Akte bleibt. Und um einem Einwand vorzubeugen: Ja, das Rechtsmittelgericht, prüft das Urteil/den Beschluss, ob er im Original unterschrieben ist, und zwar von Amts wegen. Davon kann man ausgehen.

Zur Info: Für Kommentare zu diesem Beitrag gilt: Ich habe die Kommentarfunktion offen gelassen. Sollten es allerdings zu viele und zu heftige Kommentare werden, wird sie geschlossen. Und ja, auch wenn das dem ein oder anderen nicht gefällt: was „zu viel“ und „zu heftig“ ist, bestimme ich, da es mein Blog ist. Das kann man nicht gut finden, ist aber so.

beA II: beA/elektronisches Dokument im Strafrecht, oder: Wiedereinsetzung, Ersatzeinreichung, Email

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Und nach der kleinen RÜ zum beA im Zivilverfahren (vgl. hier: beA I: beA/elektronisches Dokument im Zivilrecht, oder: aktuelle Software, Zustellung, Ersatzeinreichung) nun etwas zum Straf-/OWi-Verfahren, und zwar:

  • BGH, Beschl. v. 06.02.2024 – 6 StR 609/23 – zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision, in dem sich ein Dissens bei den Strafsenaten des BGH andeutet/ankündigt:

„(1) Der Senat vermag der Rechtsansicht des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nicht zu folgen, wonach die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrags in Fällen, in denen die vorübergehende technische Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument geltend gemacht wird, einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände bedarf (vgl. BGH, Beschluss vom 5. September 2023 – 3 StR 256/23, NStZ-RR 2023, 347). Gestützt wird dieses Erfordernis auf die für eine zulässige Ersatzeinreichung von Schriftsätzen gemäß § 130d Satz 3 ZPO entwickelten Anforderungen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. September 2022 – XII ZB 264/22, NJW 2022, 3647; vom 1. März 2023 – XII ZB 228/22, NJW-RR 2023, 760, 762). Mit den an die Darlegung des technischen Defekts gestellten Anforderungen soll eine missbräuchliche Übersendung von Schriftsätzen im Zivilprozess nach den allgemeinen Vorschriften verhindert werden (vgl. BT-Drucks. 17/12634 S. 27 zu § 130d ZPO). Während das Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO demjenigen der Partei gleichsteht und daher die Wiedereinsetzung gemäß § 233 Satz 1 ZPO versagt werden kann, wenn die elektronische Übermittlung etwa wegen eines technischen Fehlers fehlschlägt und der Anwalt nicht die Möglichkeit ergreift, das Dokument nach den allgemeinen Vorschriften fristwahrend zu übermitteln (vgl. BGH, Beschluss vom 1. März 2023 – XII ZB 228/22, NJW-RR 2023, 760, 762), erscheint die Übertragung der insoweit entwickelten Grundsätze auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß §§ 44, 45 StPO nicht sachgerecht, weil das Verschulden des Verteidigers bei der formwidrigen Übermittlung von Schriftsätzen dem Angeklagten nicht als eigenes zuzurechnen ist (vgl. BVerfG, NJW 1994, 1856; BGH, Beschluss vom 4. Juli 2023 – 5 StR 145/23, NJW 2023, 3304).

(2) Es kann letztlich dahinstehen, ob das vom 3. Strafsenat postulierte Darlegungserfordernis anzunehmen ist. Denn hier würde das Vorbringen des Antragstellers diesen Anforderungen gerecht, weil es mit Blick auf den glaubhaft gemachten Hardware-Defekt am Kanzleirechner, über den das besondere elektronische Anwaltspostfach geführt wurde (§ 31a BRAO), und die Dauer der Störung eine verständliche und geschlossene Schilderung enthielte.“

Im Falle einer im Verantwortungsbereich der Justiz zu verortenden Störung, die den beA-Empfang bei allen Gerichten im Lande (über einen längeren Zeitraum und) über den Ablauf der Einlegungsfrist hinaus unmöglich machen, bedarf es einer sonst erforderlichen anwaltlichen Versicherung – insbesondere von Umständen, die sich der genaueren Kenntnis des Versichernden zu Ursachen und Ausmaß der Störung entziehen – ausnahmsweise nicht, um den Anforderungen des § 32 d Satz 3 und Satz 4 StPO zu genügen.

1. Die Rechtsmitteleinlegung durch genügt nicht der gesetzlichen Schriftform gemäß § 32a Abs. 3 StPO, wenn die Email weder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der das Dokument verantwortenden Person versehen noch vom Verfasser signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht worden ist.

2. Dem Schriftformerfordernis wird aber ausnahmsweise dadurch genügt, wenn die Email ausgedruckt und zur Akte genommen wurde. Aus dem Schriftstück muss dann jedoch der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, schon im Zeitpunkt des Eingangs der Erklärung bei Gericht hinreichend zuverlässig entnommen werden können.

Haft I: (Wieder)Invollzugsetzung eines Haftbefehls, oder: Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe

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Ich stelle heute drei Entscheidungen zur StPO vor, und zwar zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 30.01.2024 – 2 Ws 12/24 – zu den Anforderungen an die „neu hervorgetretenen Umstände“ als Grundlage für eine Wiederinvollzugsetzung eines Hafbefehls bei erfolgter Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe.

Folgender Sachverhalt: Das AG hat am 06.01.2023 gegen den Angeklagten Haftbefehl wegen des Verdachts des versuchten besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung erlassen. Der Angeklagte wurde am 15.02.2023 festgenommen, der Haftbefehl wurde ihm am 16.02.2023 eröffnet. Auf den am 16.2.2023 durch den Angeklagten gestellten Haftprüfungsantrag und die Anträge auf Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung hat das AG dann am 02.03.2023, nachdem der Verteidiger des Angeklagten Unterlagen übergeben hatte, die einen festen Wohnsitz der Angeklagten mit seiner schwangeren Verlobten und ein seit Sommer 2021 bestehenden Arbeitsverhältnis belegten, den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt und dem Angeklagten aufgegeben, sich dreimal wöchentlich bei der zuständigen Polizeiwache zu melden, allen Ladungen Folge zu leisten und sich straffrei zu führen.

Die Staatsanwaltschaft hat am 15.4.2023 Anklage erhoben, welche das LG zur Hauptverhandlung zugelassen hat. Zugleich hat das LG den Haftbefehl aufrechterhalten und weiterhin außer Vollzug gelassen. Die Hauptverhandlung beim LG hat an elf Verhandlungstagen zwischen dem 30.08.2023 und dem 13.12.2023, zu denen der Angeklagte sämtlich erschien ist, stattgefunden. Im Termin am 13.12.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft, den Angeklagten wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren zu verurteilen. Der Verteidiger des Angeklagten beantragte Freispruch. Nach Unterbrechung der Hauptverhandlung zwischen 12:15 und 14:31 Uhr verkündete das LG ein Urteil, mit dem der Angeklagten wegen versuchten besonders schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Im Anschluss an die Urteilsverkündung hat das LG den Außervollzugsetzungsbeschluss aufgehoben und den Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt hat. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, es lägen neu hervorgetretene Umstände vor, die die Verhaftung des Angeklagten erforderlich machten. der Angeklagte sei von einem Freispruch ausgegangen, dann aber verurteilt worden.

Gegen das Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt und gegen die Invollzugsetzung Beschwerde. Diese hatte beim OLG Hamm Erfolg. Das OLG führt u.a. aus:

„Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht (vgl. OLG Hamm Beschl. v. 30.06.2016, Az. III-3 Ws 242/16). Wenn demgegenüber zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der späteren Strafe zu rechnen gewesen ist und der Angeklagte die ihm erteilten Auflagen korrekt erfüllt und sich dem Verfahren gestellt hat, darf die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Selbst der Umstand, dass der um ein günstiges Ergebnis bemühte Angeklagte durch das Urteil die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen hatte und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachgekommen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.07.2012, 2 BvR 1092/12, BeckRS 2012, 55231; Senatsbeschluss vom 07.08.2012, Az. 2 Ws 252/12, BeckRS 2012, 18209).

b) Die letztgenannte Fallgestaltung ist nach Einschätzung des Senas vorliegend gegeben.

Die Strafkammer ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass eine erhebliche Abweichung zwischen der durch den Haftrichter prognostizierten Straferwartung und der durch den Tatrichter verhängten Freiheitsstrafe nicht feststellbar ist, eine Invollzugsetzung vorliegend daher nicht zu begründen vermag. Denn der Haftrichter ist bei Erlass des Haftbefehls von einer für die Tat einschlägigen Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren ausgegangen, da sich eine Milderung wegen Versuchs nicht aufdränge. Dass die durch die Strafkammer tatsächlich verhängte Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten erheblich nach oben von der Prognose des Haftrichters abweicht, ist – unter Würdigung der bereits im Haftbefehl genannten konkreten Tatumstände und Tatfolgen sowie der Person des (erheblich einschlägig vorbestraften) Angeklagten – nicht anzunehmen.

Soweit die Strafkammer sodann aber ausführt, der die Invollzugsetzung rechtfertigende Umstand liege in der enttäuschten Erwartung des Angeklagten, freigesprochen zu werden, vermag dies nach Einschätzung des Senats eine Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht zu begründen.

Denn der Senat geht davon aus, dass der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung im o. g. Sinne sowohl mit Blick darauf, dass er wegen der verfahrensgegenständlichen Tat verurteilt werden könnte, als auch mit Blick auf die im Falle einer Verurteilung zu erwartende Strafhöhe vor Augen gehabt haben muss, wenngleich er die Hoffnung gehabt haben mag, mittels entlastender Beweismittel durchgreifende Zweifel an seiner Täterschaft zu wecken. Die Möglichkeit einer Verurteilung kann dem durch einen Verteidiger verteidigten Angeklagten bereits deshalb als naheliegende Möglichkeit des erstinstanzlichen Verfahrensabschlusses nicht verborgen geblieben sein, weil gegen ihn wegen der ihm zur Last gelegten Tat ein Haftbefehl ergangen war, welcher nach seinem Erlass auch nicht wieder aufgehoben wurde. Die Außervollzugsetzung des Haftbefehls lässt die Frage des dringenden Tatverdachts unberührt und hat ihren Grund einzig darin, dass weniger einschneidende Mittel zur Ausräumung der angenommenen Fluchtgefahr für ausreichend erachtet wurden. Der letztlich bis zum 13.12.2023 fortbestehende Haftbefehl vom 06.01.2023 führt hinsichtlich des angenommenen dringenden Tatverdachts aus, dass von der Innenseite der durch den Täter bei der Tat getragenen Sturmhaube im Mundbereich eine serologische Spur gesichert worden sei, deren Auswertung eine Zuordnung zum Angeklagten ergeben habe. Zunächst sei eine Zuordnung dieser Spur zu dem bereits in der DNA-Datenbank NRW vorhandenen DNA-Profil des Angeklagten erfolgt; ein später durchgeführter Abgleich mit einer erneut beim Angeklagten entnommenen serologischen Probe habe dieses Ergebnis bestätigt. Die Aufrechterhaltung dieses auf einem DNA-Abgleich basierenden Haftbefehls bis zur Urteilsverkündung durch die 9. Strafkammer dokumentiert, dass diese von fortbestehendem dringenden Tatverdacht ausgegangen ist; bereits deshalb verbietet sich nach Einschätzung des Senats die durch das Landgericht vorgenommene Argumentation, aus dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten, namentlich der Beteuerung seiner Unschuld und der Präsentation entlastender Beweismittel, folge, dass er bis zuletzt mit einem Freispruch gerechnet habe, mit der Folge einer so wesentlichen Erhöhung der Fluchtgefahr durch die gleichwohl erfolgte (erstinstanzliche) Verurteilung, dass sie eine Invollzugsetzung rechtfertige. Auch wenn er auf einen Freispruch gehofft haben mag, muss dem durch seinen Verteidiger anwaltlich beratenen Angeklagten bereits aufgrund des fortbestehenden Haftbefehls die Möglichkeit einer Verurteilung bewusst gewesen sein und ihn gleichwohl nicht davon abgehalten haben, sich dem Verfahren zu stellen. Dies wird auch dadurch belegt, dass der Angeklagte auch nach dem Stellen des Schlussantrages der Staatsanwaltschaft, der auf Verurteilung des Angeklagten wegen Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren lautete und welcher ihm die Möglichkeit einer Verurteilung erneut eindringlich vor Augen geführt haben dürfte, nach mehr als zwei Stunden Unterbrechung der Hauptverhandlung zur Urteilsverkündung erschienen ist und sich weiterhin dem Verfahren gestellt hat.

Auch die durch die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 24.01.2024 angestellte Hilfserwägung, dass auch eine Vergleichbarkeit mit der Konstellation einer unlauteren Einwirkung auf Verfahrensbeteiligte, welche ebenfalls als neu hervorgetretener Umstand i. S. d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO anerkannt sei, vorliegend eine Invollzugsetzung rechtfertige, verfängt nach Ansicht des Senats nicht. Zwar vermag das Hinzutreten eines weiteren Haftgrundes im Einzelfall die Wiederinvollzugsetzung zu begründen (Schmitt in: Meyer-Goßner, a. a.O. § 116 Rn. 28). Die durch das Landgericht im angefochtenen Beschluss gemachten Ausführungen lassen indes nicht erkennen, dass der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr bestünde; das Landgericht selbst hat die Invollzugsetzung auch nicht auf diesen Haftgrund gestützt. Für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sind nach Ergehen eines erstinstanzlichen, mit der Revision angegriffenen Urteils, Erwägungen anzustellen, welche das bisherige Verhalten des Angeklagten und etwaiger Mitbeschuldigter ebenso wie die Frage der Rekonstruierbarkeit der den Feststellungen zugrunde liegenden Beweisergebnisse in den Blick nehmen (vgl. für die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen gem. § 119 StPO aus Gründen der Verdunkelungsgefahr OLG Köln, Beschluss v. 15.03.2021, Az. 2 Ws 133/21, zitiert nach beckonline). Ein nur auf Verdunkelungsgefahr gestützter Haftbefehl muss in der Regel nach Abschluss des Verfahrens im letzten Tatsachenrechtszug aufgehoben werden (vgl. Schmitt in: Meyer/Goßner, a. a. O., § 112 Rn. 35).

In Anwendung dieser Grundsätze genügen die Ausführungen im angefochtenen Beschluss nicht für die Annahme nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils fortgeltender Verdunkelungsgefahr und damit eines neu hervortretenden Umstandes. …… „

Und dann gibt es noch – für zukünftige Fälle – einen Verfahrenshinweis für das LG:

„Abschließend weist der Senat darauf hin, dass der Angeklagte nach seiner (erneuten) Inhaftierung am 13.12.2023 nach Erlass des (Wieder-)Invollzugsetzungsbeschlusses vom gleichen Tage der 9. großen Strafkammer gem. § 115 Abs. 1 StPO spätestens am 14.12.2023 vorzuführen gewesen wäre. Wird ein Beschuldigter – wie hier – aufgrund der wieder in Vollzug gesetzten Haftanordnung festgenommen, ist er grundsätzlich nach §§ 115, 115 a StPO dem zuständigen Richter vorzuführen, zu vernehmen und ist ihm Gelegenheit zu geben, alle Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen. Vorliegend war der Angeklagte zwar bereits im Rahmen der Hauptverhandlung von der Kammer vernommen worden und es waren ihm alle Umstände bekannt, die der neuerlichen Haftanordnung zugrunde lagen, einschließlich der erfolgten Verurteilung durch die Kammer vom selben Tage. Der Angeklagte hatte allerdings dennoch einen erneuten Anspruch auf die Gewährung umfassenden rechtlichen Gehörs, zumal ihm solches insbesondere in Bezug auf die Umstände, aufgrund derer die Kammer das Vorliegen neuer Umstände und die Erforderlichkeit der Verhaftung des Angeklagten nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO als begründet ansah, auch im Rahmen der Hauptverhandlung nicht gewährt worden sein dürfte. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gilt in jeder Verfahrenslage, selbst dann, wenn bereits ein Urteil gegen den Beschuldigten bzw. Angeklagten ergangen ist (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 30.06.201, Az. III-3 Ws 242/16; Posthoff/Faßbender in: Gercke/Tamming/Zöller, StPO 7. Aufl. 2013, § 115 Rdn. 13 m. w. N.).“

StPO III: Keine Unterschriften unter dem Urteil, oder: Unterzeichnung der Urteils

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Und im dritten Posting dann noch eine Entscheidung zur Frage, der fehlenden Unterschriften unter dem Urteil. Eine Frage, die ich ja ggf. im Revisionsverfahren von Bedeutung ist. Hier kommt dann der BGH, Beschl. v. 14.02.2024 – 4 StR 232/23:

„1. Gemäß § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO ist das Urteil von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterschreiben. Satz 2 sieht vor, dass für den Fall, in dem ein Richter verhindert ist, seine Unterschrift beizufügen, dies unter der Angabe des Verhinderungsgrundes von dem Vorsitzenden und bei dessen Verhinderung von dem ältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil vermerkt wird. Bei diesen Normen des Verfahrensrechts müssen Rechtsfehler mit der Verfahrensbeschwerde geltend gemacht werden; auf Sachrüge darf ein solcher Mangel nur beachtet werden, wenn das Urteil überhaupt keine Unterschriften trägt (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2000 – 4 StR 354/00 Rn. 5). Anders als beim Fehlen einzelner Unterschriften, bei denen dem Urteilstext nicht aus sich heraus jegliche Legitimation abgesprochen werden kann und sich ohne Kenntnis der zugrunde liegenden Verfahrenstatsachen nicht beurteilen lässt, ob es sich tatsächlich nur um einen Entwurf handelt, liegt bei einem vollständigen Fehlen der Unterschriften nur ein Begründungsentwurf vor, dessen Unvollständigkeit sich wie beim völligen Fehlen von Urteilsgründen allein aus der Urteilsurkunde ergibt (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 18. Dezember 2015 – 1 Ss 318/14 Rn. 5 ff.; OLG Bamberg, Beschluss vom 30. April 2018 – 3 Ss OWi 602/18; OLG Hamm, Beschluss vom 10. Januar 2013 – III-3 RBs 296/12, 3 RBs 296/12 Rn. 3; OLG München, Beschluss vom 26. Juni 2018 – 5 OLG 15 Ss 89/18 Rn. 7 ff.; Greger in KK-StPO, 9. Aufl., § 275 Rn. 68; Gericke in KK-StPO, 9. Aufl., § 338 Rn. 97 aE; Valerius in MüKo-StPO, 2. Aufl., § 275 Rn. 51; Peglau in BeckOK-StPO, 50. Ed., § 275 Rn. 25; Stuckenberg in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 275 Rn. 70).

2. So liegt der Fall hier. Ohne die Unterschriften der beiden Berufsrichter fehlt das Zeugnis, dass es sich bei den schriftlich niedergelegten Gründen um die Gründe des Gerichts handelt, die als Ergebnis der Hauptverhandlung in der Beratung gewonnen wurden. Dem Senat ist damit eine Entscheidung, ob das Landgericht das sachliche Recht zutreffend angewandt hat, nicht möglich.

3. Der Mangel wird weder durch den maschinenschriftlich abgedruckten Namen der beiden Berufsrichter noch durch die Bestätigung der Geschäftsstelle „Unterschriebenes Urteil zu den Akten gelangt am 27.04.23“ ausgeglichen, denn diese Zusätze vermögen die vom Gesetz geforderte Unterzeichnung nach § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht zu ersetzen. Dasselbe gilt für die Unterschrift des Vorsitzenden Richters unter der Zustellungsverfügung, da er dadurch nicht zweifelsfrei die Verantwortung für den Inhalt des in der Akte befindlichen, an der vorgesehenen Stelle aber nicht von ihm unterschriebenen Urteils übernimmt (vgl. BGH, Beschluss vom 1. April 2010 – 3 StR 30/10 Rn. 2).“

Ich vermute, dass es jetzt wieder los gehen wird mit den Anfragen und Hinweisen, dass ein Urteil gegen einen ergangen ist, das nicht unterschrieben wurde. Bitte nicht. Und: Ich beantworte solche „Anfragen“ nicht mehr. Dazu ist alles gesagt.