Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

Encro/Anom: Chatverlauf von Messengerdiensten, oder: Verfahrensrüge und Verwertbarkeit

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Und dann habe ich noch zwei Entscheidungen zu den verdeckten Ermittlungsmethoden mit EncroChat und Anom. Bei einigen Kollegen sind das ja immer noch beliebte „Verteidigunsgversuche“, obwowohl m.E. damit – zumindest mit EncroChat – derzeit wenig erreichen kann.

Zunächst das BGH, Urt. v. 07.12.2023 – 5 StR 168/23 -, in dem sich der BGH noch einmal zur Verfahrensrüge äußert:

„1. Die Verfahrensrügen versagen.

a) Die Rügen eines Verstoßes gegen § 261 StPO (auch iVm § 249 Abs. 2 StPO) in Bezug auf Chatinhalte erweisen sich nach den insoweit wirksam vorgenommenen Protokollberichtigungen (vgl. zu den Voraussetzungen BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298) jedenfalls als unbegründet.

b) Gegen die Rüge, die EncroChat-Daten seien im Urteil zu Unrecht verwertet worden, bestehen schon durchgreifende Zulässigkeitsbedenken, weil der Vortrag nicht § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspricht. Zum einen nimmt die Rüge auf zahlreiche andere Verfahren Bezug, ohne deren Inhalt dem Senat zur Kenntnis zu geben. Zum anderen fehlen maßgebliche, für die Frage der Verwertbarkeit relevante Unterlagen, da im Wesentlichen lediglich die im Strafverfahren vorgetragenen Schriftsätze vorgelegt werden, nicht aber die Schriftstücke, auf deren Grundlage etwa die Daten erhoben oder übermittelt worden sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. April 2023 – 3 StR 489/22; vom 16. Februar 2023 – 4 StR 93/22, NStZ 2023, 443). Die Rüge gibt dem Senat zudem auch in der Sache keinen Anlass, von seiner Grundsatzentscheidung zur Verwertung von EncroChat-Daten (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21, BGHSt 67, 29) abzugehen. Durchgreifende europarechtliche Bedenken gegen diese Entscheidung bestehen nicht (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin vom 26. Oktober 2023 in dem Vorabentscheidungsersuchen des LG Berlin C-670/22 beim EuGH). Die von der Revision zitierte Entscheidung des französischen Kassationshofs vom 11. Oktober 2022 (M 21-85.148 F-D) betrifft lediglich eine Frage des rechtlichen Gehörs, ist aber für das inhaltliche Problem der Verwertbarkeit der EncroChat-Daten unergiebig.“

Und als zweites der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 13.2.2024 – 1 Ws 33/24 – zur Verwertungbarkeit von Chatverläufen des Krypto-Messengerdienstes „Anom“.

„Das Vorbringen im vorliegenden Verfahren über die weitere Beschwerde rechtfertigt keine andere Bewertung. Der Senat hält an seiner Auffassung fest, wonach Erkenntnisse aus der Auswertung von Chatverläufen des Krypto-Messengerdienstes „Anom“ mit hoher Wahrscheinlichkeit in deutschen Strafverfahren verwertbar sind (siehe Senat, Beschluss vom 22. November 2021 — 1 HEs 427/21, NJW 2022, 710; Senat, Beschluss vom 14. Februar 2022 — 1 HEs 509/21, BeckRS 2022, 5572) Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 19. Oktober 2023 (Az: 1 Ws 525/23) und das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 21. August 2023 (Az: 1 KLs 401 Js 10121/22) geben dem Senat keine Veranlassung, von seiner Rechtsauffassung abzuweichen. Dass im ausländischen Verfahren gegen grundlegende rechtsstaatliche Gewährleistungen verstoßen wurde und die Beweiserhebung unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien erfolgte, was ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen könnte (siehe Senat, Beschluss vom 14. Februar 2022, 1 HEs 509/21. BeckRS 2022, 5572), ist nach Aktenlage nicht feststellbar.“

Dass das OLG Frankfurt am Main an seiner Meinung „festhält“ wundert mich bei dem OLG nicht.

Kosten- und Auslagen im Adhäsionsverfahren, oder: Wenn der Angeklagte seinen Einspruch zurücknimmt

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Und dann als zweite Entscheidung dann der LG München II, Beschl. v. 01.12.2023 – 6 Qs 7/23. Zwar nicht von einer Kollegin übersandt, sondern von einem Kollegen. Aber auch richtig.

Entschieden worden ist über die Kosten- und Auslagen im Adhäsionsverfahren (§ 472a StPO). Die Staatsanwaltschaft hatte am 15.02.2023 beantragt, gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung zu erlassen. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, als Fahrer eines Pkws an einem Fußgängerweg den Geschädigten verletzt zu haben, indem er das Vorderrad des vom Geschädigten geschobenen Fahrrads erfasste, wodurch der Geschädigte zu Boden fiel. Das AG hat den Strafbefehl am 01.03.2023 erlassen. Der Angeklagte legte am 07.03.2023 form- und fristgerecht Einspruch ein. Am 21.03.2023 bestimmte das AG Hauptverhandlungstermin auf den 22.06.2023, 11:00 Uhr.

Am 22.06.2023 ging um 08:26 Uhr beim AG ein Adhäsionsantrag des Geschädigten ein, mit dem dieser ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens 700,00 EUR forderte. Mit einem am selben Tag um 08:46 Uhr eingegangenen Schreiben geschränkte der Angeklagte seinen Einspruch auf die Tagessatzhöhe und erklärte sein Einverständnis mit der Entscheidung im Beschlusswege. Daraufhin wurde der Termin am 22.06.2023 abgesetzt.

Der Angeklagte nahm über seinen Verteidiger zum Adhäsionsantrag Stellung und machte geltend, dieser sei bereits unzulässig. Das AG hat dann am 05.08.2023 die im Strafbefehl festgesetzte Tagessatzhöhe abgeändert. Von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag hat es abgesehen und dem Angeklagten die Kosten des Adhäsionsverfahrens und die notwendigen Auslagen des Adhäsionsklägers auferlegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Adhäsionsantrag nach vorläufiger Würdigung zulässig und begründet gewesen sei, weshalb die Kosten nach pflichtgemäßem Ermessen gem. § 472a Abs. 2 StPO dem Angeklagten aufzuerlegen seien.

Dagegen die sofortige Beschwerde des Angeklagten, die beim LG Erfolg hatte, das LG hat die Kosten- und Auslagenentscheidung aufgehoben:

„2. Die statthafte Beschwerde des Angeklagten (vgl. BeckOK, 49. Ed., Stand 01.10.2023, Rz. 6 zu § 472a StPO) ist zulässig und in der Sache erfolgreich.

Eine Entscheidung über die Kosten und notwendigen Auslagen im Adhäsionsverfahren war nicht veranlasst, da aufgrund der Einspruchsbeschränkung keine Entscheidung mehr über den Adhäsionsantrag ergehen konnte.

Endet das Strafverfahren, so ist dem Adhäsionsverfahren die Grundlage entzogen, einer danach getroffene Anordnung dahingehend, dass von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag abgesehen wird, kommt lediglich deklaratorische Bedeutung zu (OLG Stuttgart vom 30.09.2022, 1 Ws 201/22, Rz. 10 bei Juris). Dasselbe gilt im vorliegenden Fall für die Beschränkung des Einspruchs auf die Tagessatzhöhe. Denn eine zusprechende Adhäsionsentscheidung kann gem. § 406 Abs. 1 StPO nur erfolgen, wenn der Angeklagte wegen einer Straftat schuldig gesprochen wird. Ein solcher Schuldspruch erfolgt nach Einspruchsbeschränkung nicht mehr, weshalb mit der Einspruchsbeschränkung der Adhäsionsantrag unzulässig wird (AG Kehl vom 09.10.2018, 2 Cs 503 Js 14484/17, bei Juris). Schon deshalb hatte im vorliegenden Fall eine Zustellung des Adhäsionsantrags durch das Gericht nicht mehr zu erfolgen. Aber auch auf die Zustellung des Adhäsionsantrags von Anwalt zu Anwalt kommt es daher nicht an. Zudem ist diese Zustellung – nach Angaben des Adhäsionsklägervertreters laut Empfangsbekenntnis um 08:55 Uhr – nach der Beschränkung des Einspruchs um 08:46 Uhr erfolgt.

Den Fall der späteren Einspruchsrücknahme bzw. -beschränkung, in dem die Adhäsions-klage ursprünglich zulässig war, nun aber unzulässig geworden ist, hat der Gesetzgeber nicht geregelt. Die nach § 472a StPO vorgesehene Billigkeitsentscheidung ist nicht möglich. Die dafür notwendige Bewertung der Erfolgsaussichten der Adhäsionsklage kann das Gericht nicht mehr vornehmen: Durch die Einspruchsrücknahme bzw. -beschränkung ist der Schuldspruch in Rechtskraft erwachsen und dem Gerichte eine Entscheidung darüber entzogen, so dass die Grundlage für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Adhäsionsklage entfallen ist (LG Dortmund, 16.04.2018, 32 Qs – 269 Js 1213/16 V A – 45/18, bei Juris). Zwar erscheint es unbillig, einen Adhäsionskläger mit den Kosten des Adhäsionsverfahrens zu belasten, wenn die Adhäsionsklage erst nachträglich durch die Rücknahme bzw. Beschränkung des Einspruchs unzulässig wird, zumal ein Adhäsionskläger darauf keinen Einfluss hat. § 472a Abs. 1 StPO setzt jedoch die Zuerkennung eines aus der Straftat erwachsenen Anspruchs voraus. Darüber enthält der Strafbefehl jedoch keine Entscheidung. Nach alldem bleibt dem Gericht wegen der festgestellten Regelungslücke nur, von einer Entscheidung über die Verteilung der Kosten des Adhäsionsverfahrens abzusehen. Im Ergebnis muss dies für den Adhäsionskläger nicht unbillig sein, da in Betracht kommt, seine notwendigen Auslagen für die Adhäsionsklage als Rechtsverfolgungskosten im ohnehin anzustrengenden zivilgerichtlichen Verfahren geltend zu machen. (Vgl. zu allem AG Kehl, a.a.O., OLG Stuttgart vom 30.09.2022, 1 Ws 201/22).

Dementsprechend ist vorliegend keine Entscheidung gemäß § 472a Abs. 2 StPO veranlasst.“

Die Entscheidung ist m.E. richtig; manchmal klappt es ja auch in Bayern 🙂 . Ich halte es auch nicht für „unbillig“, den Adhäsionskläger in diesen Fällen mit den Kosten und Auslagen des Adhäsionsverfahrens zu belasten. Denn er ist derjenige, der sich eines Anspruchs gegen den Angeklagten berühmt hat, wobei ihm bewusst gewesen sein muss, dass das Gericht ggf. nach § 406 Abs. 1 Satz 3 u. 4 StPO von der Entscheidung absehen kann bzw. muss, wenn die Voraussetzungen für das Adhäsionsverfahren entfallen sind.  Das ist letztlich das Prinzip: Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen.

Als Rechtsanwalt muss man dieses Risiko natürlich im Auge behalten und den geschädigten Mandanten darüber belehren. Je nach der Sachlage empfiehlt es sich- zumindest in den Strafbefehlsfällen mit der dort gegebenen Möglichkeit der Verfahrensbeendigung durch Einspruchsrücknahme -, direkt das Zivilverfahren zu betreiben.

Pflichtverteidiger „nur“ bei Haftbefehlsverkündung, oder: Manche OLG können es :-)

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Und dann heute am Weltfrauentag nichts zu Frauen uns so, sondern, da Freitag ist, natürlich RVG. Und ich nehme auch zwei „richtige“ Entscheidungen, es soll sich ja heute niemand ärgern. Und aus Anlass des Weltfrauentages beginne ich mit einer Entscheidung, die mir eine Kollegin aus Bonn geschickt hat, nämlich mit dem OLG Köln, Beschl. v. 24.01.2024 – 3 Ws 50/23.

Es geht mal wieder um die Gebühren des Terminsvertreter des Pflichtverteidigers „nur“ bei einer Haftbefehlsverkündung. Folgender Sachverhalt: Gegen den Angeklagten erging durch das AG Ingolstadt am 08.03.2023 u.a. wegen des Vorwurfs des versuchten Totschlags Haftbefehl. Hierauf wurde er am 28.03.2023 vorläufig festgenommen und am Folgetag dem AG Bonn vorgeführt. Nach Anhörung des bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht verteidigten Angeklagten beschloss das AG in dem Vorführungstermin die Beiordnung der Kollegin gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO „für den heutigen Termin als Pflichtverteidigerin“ und für das weitere Verfahren gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO diejenige eines anderen Kollegen. Im Termin erklärte die Kollegin für den Angeklagten, es würden zu den Tatvorwürfen keine Angaben gemacht, und machte Ausführungen zum ihrer Auffassung nach Nichtvorliegen des Haftgrundes.

Die Kollegin hat dann an Gebühren aus der Staatskasse verlangt eine Grundgebühr Nr. 4101 VV RVG, eine Terminsgebühr Nr. 4103 VV RVG und eine Verfahrensgebühr Nr.  4105 VV RVG nebst Auslagenpauschale und Umsatzsteuer. Die Urkundsbeamtin des AG Bonn hat demgegenüber lediglich festgesetzt eine Gebühr für eine Einzeltätigkeit gemäß Nr. 4301 Nr. 4 VV RVG nebst Auslagenpauschale und Umsatzsteuer. Dagegen hat die Kollegin Erinnerung eingelegt, die das AG zurückgewiesen hat. Auf die hiergegen erhobene Beschwerde hat das LG dem Festsetzungsantrag entsprochen und zudem die weitere Beschwerde zugelassen. Dagegen dann die – natürlich, denn es kann ja nicht sein, dass es bei der (richtigen) Entscheidung verbleibt – die weitere Beschwerde der Bezirksrevisorin beim LG. Die Vertreterin der Landeskasse – beim OLG – hat sich aber der Auffassung des LG angeschlossen, dass die Gebühren nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG abzurechnen seien. Und das das OLG hat die weitere Beschwerde der Landeskasse verworfen:

„1. Zu Recht hat das Landgericht angenommen, dass Rechtsanwältin E. ihre Tätigkeit nach den in Teil 4 Abschnitt 1 der Anlage 1 zum RVG aufgeführten Gebührentatbeständen abrechnen kann, und eine weitere Vergütung in Höhe von 423,64 EUR festgesetzt.

a) Die von der Rechtsanwältin im Rahmen der Wahrnehmung des Haftverkündungstermins vom 29.03.2023 entfalteten Handlungen sind nicht lediglich als Einzeltätigkeit im Sinne von Anl. 1 Teil 4 Abschnitt 3 RVG, namentlich nicht als Beistandsleistung bei einer richterlichen Vernehmung nach dessen Ziff. 4301 anzusehen, sondern als Tätigkeit eines Verteidigers nach Teil 4 Abschnitt 1 des vorbezeichneten Vergütungsverzeichnisses.

aa) In rechtlicher Hinsicht gilt dabei:

(1) Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG regelt die Vergütung des Verteidigers. Diese ist dabei unabhängig davon zu bemessen, ob die Verteidigung als Wahl- und Pflichtverteidigung durchgeführt wird. Liegt ein Verteidigungsverhältnis vor, macht es grundsätzlich auch keinen Unterschied, ob sich die Tätigkeit – insbesondere in den Fällen des sog. „Terminsvertreters“ – auf die Wahrnehmung eines einzelnen Termins beschränkt. Dies gilt für die Fälle der Pflichtverteidigung auch dann, wenn sich die vorangegangene Bestellung durch das Gericht nur auf einen bestimmten Termin bezogen hat. Dies hat das Oberlandesgericht Köln bereits für die auf einen einzelnen Hauptverhandlungstag beschränkte Beiordnung eines Pflichtverteidigers entschieden (Beschluss vom 26.03.2010 – 2 Ws 129/10, juris). Dieser Rechtsprechung des 2. Strafsenats schließt sich der Senat an. Auch wenn sich die Wahrnehmung der Pflichtverteidigung auf einen oder mehrere einzelne Termine beschränkt, begründet die Beiordnung ein eigenständiges Beiordnungsverhältnis, in dessen Rahmen der Pflichtverteidiger die Verteidigung umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Eine gebührenrechtlich unterschiedliche Behandlung dieses Verteidigers gegenüber dem Hauptverteidiger würde dem nicht gerecht und ließe eine Entwertung des Instituts der Pflichtverteidigung und damit einhergehend des Rechtes des Angeklagten auf eine effektive, rechtsstaatlichen Grundsätzen genügende Verteidigung besorgen (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 26.03.2010 – 2 Ws 129/10, juris Rn. 6; OLG München, Beschluss vom 23.10.2008 – 4 Ws 140/08, NStZ-RR 2009, 32; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.07.2008 – 3 Ws 281/08, NJW 2008, 2935).

(2) Diese Grundsätze gelten nicht nur für die Verteidigung im Rahmen der Hauptverhandlung, sondern auch für andere Tätigkeiten wie vorliegend die Verteidigung im Rahmen einer Haftbefehlseröffnung nach § 115 StPO (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 07.06.2023 – 1 Ws 105/23, StraFo 2023, 335). Soweit aus der von der Bezirksrevisorin angeführten Entscheidung des 2. Strafsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 15.05.2007 (2 Ws 189/07, juris) anderes folgen sollte, schließt sich der Senat dem nicht an. Es besteht kein sachlich gerechtfertigter Anlass, die Verteidigung im Verfahren nach § 115 StPO gebührenrechtlich anders zu beurteilen als eine solche im Rahmen der Hauptverhandlung. Das Verfahren nach § 115 StPO ist kein formalistischer Selbstzweck. Es trägt dem hohen Rang des von der Haftanordnung betroffenen, grundrechtlich gewährleisteten Freiheitsrechtes Rechnung und stellt sicher, dass der Beschuldigte möglichst schnell von dem Richter über die Grundlagen des Haftbefehls unterrichtet wird und Gelegenheit erhält, sich sowohl gegen den Tatvorwurf als auch die Annahme von Haftgründen zu verteidigen (KK-StPO/Graf, 9. Aufl., § 115 Rn. 1a). Dieser Bedeutung entsprechend ist das Verfahren nach § 115 StPO seiner Natur nach zwingend und der Verzicht des Beschuldigten auf dessen Einhaltung nur in besonderen Fällen möglich (vgl. BeckOK StPO/Krauß, 49. Ed., § 115 Rn. 4 mwN; KK-StPO/Graf, 9. Aufl., § 115 Rn. 6; LR/Lind, StPO, 27. Aufl., § 115 Rn. 11). Der gebührenrechtlichen Gleichbehandlung der Verteidigungstätigkeit im Verfahren nach § 115 StPO mit derjenigen in der Hauptverhandlung steht auch nicht entgegen, dass sich Vorführungen nach § 115 StPO oftmals in der Verkündung des Haftbefehls nebst entsprechender Belehrung erschöpfen und nur von kurzer Dauer sind. Dem hat der Gesetzgeber gebührenrechtlich durch die Ausgestaltung der Voraussetzungen Rechnung getragen, unter denen nur die Terminsgebühr nach Ziff. 4102 Nr. 3 VV RVG anfällt (vgl. BT-Drucks. 15/1971, S. 223). Ist absehbar, dass sich die Vorführung des Beschuldigten nach § 115 StPO auf die Verkündung des Haftbefehls und die erforderlichen Belehrungen durch das Gericht beschränken wird, kann der gebotenen Bestellung eines Pflichtverteidigers in geeigneten Fällen bei Verhinderung des Hauptverteidigers auch dadurch Rechnung getragen werden, dass dem Beschuldigten zunächst Gelegenheit zur telefonischen Rücksprache mit dem von ihm gewünschten Hauptverteidiger gegeben wird und beide auf die Teilnahme eines Verteidigers zu dem Termin nach § 115 StPO verzichten. Jedenfalls für diese Fälle ist die Bestellung eines Terminsvertreters bzw. die Bestellung eines weiteren Verteidigers neben dem Hauptverteidiger nicht geboten (vgl. zu der Frage der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers im Fall des § 115 StPO auch MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 115 Rn. 34 ff. mwN, § 128 Rn. 27; vgl. zu dieser Frage auch BGH, Beschluss vom 14.08.2019 – 5 StR 228/19, BeckRS 2019, 21921 [zu § 141 Abs. 3 StPO aF]). Denn im Rahmen des § 115 StPO besteht zwar gemäß § 168c Abs. 1 Satz 1 StPO das Recht auf Anwesenheit eines Verteidigers, aber keine Pflicht zu dessen Teilnahme. Ob der Senat im Übrigen der Auffassung folgen könnte, dass die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers neben dem von dem Beschuldigten gewünschten und seitens des Gerichts bestellten Hauptverteidigers stets ohne Weiteres schon dann erforderlich ist, wenn dieser Verteidiger verhindert ist und der Beschuldigte gleichwohl auf die Anwesenheit im Rahmen des Vorführtermins besteht, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.

bb) Vorliegend entfaltete Rechtsanwältin E. nach alledem entgegen der Auffassung der Bezirksrevisorin nicht lediglich eine Beistandsleistung im Sinne von Ziff. 4301 Nr. 4 VV RVG. Vielmehr war sie durch das Amtsgericht Bonn ausdrücklich zur Pflichtverteidigerin bestellt und in dieser Funktion tätig geworden….“

Tja, manche OLG können es 🙂 . Denn die Entscheidung ist richtig. Den Ausführungen des Senats ist nichts hinzuzufügen außer dem Hinweis darauf, dass außer dem OLG Zweibrücken, dessen Entscheidung das OLG anführt, noch weitere Gerichte in dem zutreffenden Sinn entschieden haben (vgl. u.a. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.2.2023 – 2 Ws 13/23, AGS 2023, 164 = NStZ-RR 2023, 159 = JurBüro 2023. 195; LG Aachen, Beschl. v. 20.10.2020 – 60 Qs 47/20 ; LG Frankenthal (Pfalz), Beschl. v. 27.4.2023 – 1 Qs 76/23, AGS 2023, 219; LG Tübingen, Beschl. v. 6.2.2023 – 9 Qs 25/23, AGS 2023, 238; AG Halle (Saale), Beschl. v. 20.5.2022 – 398 Gs 540 Js 594/22 (259/22), AGS 2022, 311; AG Ludwigshafen, Beschl. v. 3.3.2023 – 4a Ls 5227 Js 9474/22,AGS 2023, 217. Die Entscheidungen waren auch alle hier im Blog.

Auf zwei Punkte will ich dann aber doch hinweisen:

Offen bleiben kann hier m.E. die Frage, ob die Ausführungen des OLG zur Anwesenheit des Pflichtverteidigers bei einer Haftvorführung und zum Recht und der Möglichkeit des Beschuldigten auf die Anwesenheit so zutreffend sind. Das kann man auch anders sehen.

Erfreut nimmt man aber im Übrigen zur Kenntnis, dass auch die Vertreterin der Landeskasse beim OLG die zutreffende Sicht der Dinge hatte und den Ausführungen des LG im Rahmen der Anhörung durch den Senat des OLG beigetreten ist. Sollte insoweit tatsächlich ein Umdenken bei den Vertretern der Justiz einsetzen? Das wäre zu begrüßen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die richtige Rechtanwendung, sondern vor allem auch darauf, dass dann manche Rechtsmittelentscheidung überflüssig würde. Das setzt allerdings voraus, dass sich die Instanzgerichte und vor allem auch die Vertreter der Landeskassen in der Instanz dem anschließen. Die Hoffnung stirbt insoweit zuletzt.

Und zur Feier des Tages gibt esd ann auch ein neues Bild 🙂 .

Pflichti III: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Eine fürs Töpfchen, eine fürs Kröpfchen

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Und dann – wie fast immer an einem „Pflichti-Tag“ – noch etwas zur rückwirkenden Bestellung. Ohne diesen Dauerbrenner geht es offenabr nicht. Heute habe ich zu der Problematik zwei Entscheidungen, eine „gute“ und eine „schlechte“, also „eine fürs Töpfchen und eine fürs Kröpfchen“.

Hier zunächst die „Töpfchen-Entscheidung“, nämlich der LG Erfurt, Beschl. v. 31.01.2024 – 7 Qs 313/23 -, von dem es aber nur die Leitsätze gibt, da die Problematik hier ja nun schon sehr häufig Thema war:

1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zu diesem Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über die Beiordnung aufgrund gerichtsinterner bzw. behördeninterner Vorgänge unterblieben ist.
2. Ein Fall der notwendigen Verteidigung ist u.a. dann gegeben, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erwarten ist. Dabei sind auch Verurteilungen aus anderen Verfahren, wenn diese zur Bildung einer Gesamtstrafe führen, zu berücksichtigen.

Und dann die „fürs Köpfchen“, und zwar der LG Limburg, Beschl. v. 26.01.2024 – 2 Qs 4/24 – auch nur mit dem Leitsatz:

Auch nach der Neuregelung der §§ 140 ff. StPO durch die Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26.10.2016 (sog. „PKH-Richtlinie“) und deren Umsetzung durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 verbleibt es dabei, dass eine sog. rückwirkende Beiordnung als Pflichtverteidiger ausgeschlossen ist.

Mich überzeugt diese Entscheidung nicht. Ich halte die Rechsprechung, auf die verwiesen wird, für falsch. Und erst recht ist m.E. die Beschwerde in den Fällen nicht „unzulässig“. Die Beschwer ist nicht entfallen, sondern besteht, da man ja um die Bestellung streitet, fort.

Pflichti II: AG kickt den Verteidiger „vorschnell“ raus, oder: Und was ist mit dem Vertrauensschutz?

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Und als zweite Entscheidung dann eine Entscheidung des LG Halle. Gestritten worden ist um die Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung durch das AG Merseburg. Das hatte im dem von der Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten ursprünglich wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Halle eingeleiteten Ermittlungsverfahren am 25.02.2022 den Kollegen Siebers aus Braunschweig, der mir die Entscheidung geschickt hat, gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO bei geordnet, weil dem Angeklagten ein Verbrechen zur Last gelegt wurde.

Mit Verfügung vom 27.03.2023 stellte die Halle das Verfahren dann gem. § 170 Abs. 2 StPO ein, soweit ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Betracht kam. Gleichzeitig beantragte sie beim AG Merseburg den Erlass eines Strafbefehls bezüglich des Besitzes von 1,07 Gramm Marihuana gem. §§ 1, 3 Abs. 1, 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 33 BtMG.

Das AG Merseburg erließ den Strafbefehl am 05.04.2023. Hiergegen legte der Angeklagte rechtzeitig Einspruch ein. Nach erfolgter Akteneinsicht meldete der Kollege sich beim AG, wobei er u. a. auf eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153 StPO hinzuwirken versuchte sowie Kritik an der Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft, wegen der o. g. Tat einen Strafbefehl zu beantragen („steuergeldverschwendendes Verfahren“), übte.

Mit Beschluss vom 15.12.2023 hat das AG – ohne vorherige Anhörung der Verfahrensbeteiligten – die Beiordnung auf gehoben, weil kein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 StPO mehr gegeben sei. Gleichzeitig bestimmte das AG Hauütverhandlungstermin auf den 26.03.2024.

Der Kollege hat gegen den die Pflichtverteidigerbestellung aufhebendeb Beschluss sofortige Beschwerde eingelegt, die Erfolg hatte. Das LG Halle mit dem LG Halle, Beschl. v. 15.02.2024 – 3 Qs 11/24 – die AG-Entscheidung aufgehoben:

„Gemäß § 143 Abs. 2 S. 1 StPO kann die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. Dies ist anzunehmen, wenn sich im Lauf des Verfahrens ergibt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen, die zur Annahme eines Falles der notwendigen Verteidigung im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 10, Abs. 2 StPO geführt haben, nicht mehr gegeben sind (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, 66. Auflage, § 143 Rn 3).

Dies ist zwar vorliegend, nachdem die Staatsanwaltschaft der Verfahren hinsichtlich des Vorwurfs des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eingestellt hat, mittlerweile der Fall. Seit dem 27. März 2023 wird dem Angeklagten kein Verbrechen mehr vorgeworfen, sodass kein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO mehr vorliegt.

Allerdings steht die Aufhebung der Bestellung im Ermessen des Gerichts („Kann-Bestimmung“). Dem liegt nach der Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass Aspekte des Vertrauensschutzes trotz Wegfalls der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die Fortdauer der Beiordnung rechtfertigen können (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 45; KG Berlin, Beschl. vom 15.5.2020 – 5 Ws 65/20, BeckRS 2020, 36749).

Den Gründen des angegriffenen Beschlusses ist indes nicht zu entnehmen, dass sich das Amtsgericht seines Ermessensspielraums bewusst gewesen ist. Dies folgt unter anderem aus der vom Gericht in den Gründen des Beschlusses verwendeten Formulierung, dass die Bestellung aufzuheben „ist“. Die Verwendung des Verbes „ist“ impliziert ohne nähere Begründung, dass die Aufhebung der Beiordnung als Automatismus in dem Fall, dass die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nicht mehr vorliegen, verstanden worden ist. Ein solcher Automatismus besteht hier aber gerade nicht.

Die fehlende Ermessensausübung des Amtsgerichts zwingt im vorliegenden Fall jedoch nicht zu einer Zurückverweisung der Sache, vielmehr kann die Kammer selbst in der Sache entscheiden. Eine Zurückverweisung durch das Beschwerdegericht kommt nur in eng begrenzen Ausnahmefällen in Betracht (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, a.a.O., § 309 Rn 7), welche die Kammer hier nicht annimmt. Grundsätzlich hat das Beschwerdegericht gemäß § 309 Abs. 2 StPO eine eigene Sachentscheidung zu treffen, wobei an die Stelle des Ermessens des Erstgerichts das Ermessen des Beschwerdegerichts tritt (vgl. Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage, § 309 Rn 28).

Dies führt zur Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Merseburg vom 15. Dezember 2023, da der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 143 Abs. 2 S. 1 StPO ein berechtigtes Vertrauen des Angeklagten entgegen steht.

Seit der Teileinstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft – durch die die Voraussetzung des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO weggefallen ist – bis zur Entscheidung des Amtsgerichts, die Pflichtverteidigerbestellung aufzuheben, sind knapp acht Monate vergangen, in denen weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft den Wegfall der Voraussetzung der notwendigen Verteidigung jemals problematisiert haben. Vielmehr hat der Verteidiger des Angeklagten in dieser Zeit weiterhin Tätigkeiten für ihn im dem Verfahren entfaltet, insbesondere versucht, auf eine Einstellung gem. § 153 StPO hinzuwirken. Staatsanwaltschaft und Gericht haben auf diese Tätigkeiten jeweils – beispielsweise mit der Veranlassung der Einholung eines Substanzgutachtens – reagiert, ohne zu erkennen zu geben, dass eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung in Betracht kommen könnte. Erst im unmittelbaren Zusammenhang mit der Terminierung der Hauptverhandlung für den 26. März 2024 hat das Amtsgericht – ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor anzuhören – die Bestellung aufgehoben. Durch das der Aufhebung vorhergehende Verhalten hat das Amtsgericht jedoch ein schutzwürdiges Vertrauen des Angeklagten dahingehend geschaffen, dass die einmal getroffene Entscheidung der Beiordnung auch unter den nach der Teileinstellung geänderten Umständen aufrechterhalten bleiben soll. Aufgrund dessen war der Aufhebungsbeschluss des Amtsgerichts aufzuheben, sodass die Pflichtverteidigerbeiordnung fortdauert.“

Na ja: Erst das Verfahren einstellen und dann nach acht (!) Monaten sagen, dass die Beiordnungsgründen weggefallen sind und dann ohne Anhörung entpflichten, geht natürlich nicht. M.E. spricht viel dafür, dass das AG den möglicherweise „unbequemen“ Verteidiger „los werden wollte, da der ja schon mit „steuergeldverschwendendes Verfahren“ gegen den Strafbefehl gewettert hatte. Das versprach „Stimmung“ in der Hauptverhandlung, auf die das AG dann wohl keinen Bock hatte. Und schwupps, war der Verteidiger entpflichtet. Aber ebenso schwupps hat das LG Halle die Entscheidung aufgehoben, was m.E. richtig ist/war. Das AG draf sich dann jetzt auf die Hauptverhandlung freuen.