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Beweis II: Bedeutungslosigkeit einer Indiztatsache, oder: Darlegung der antizipierenden Würdigung ok?

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den BGH, Beschl. v. 13.12.2023 – 1 StR 340/23 – zur Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit einer Indiztatsache.

Folgender Sachverhalt: Das LG hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilt. Diese Verurteilung hatte der BGH auf die Revision des Angeklagten aufgrund von Beweiswürdigungsfehlern mit den Feststellungen aufgehoben. Im zweiten Rechtsgang hat das LG bezüglich des Verurteilungsteils im Wesentlichen die gleichen Sachverhalte festgestellt und den Angeklagten erneut u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilt. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, hatte mit einer Verfahrensrüge wiederum Erfolg.

Der Rüge, mit welcher der Angeklagte die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags beanstandet (§ 244 Abs. 6 Satz 1, Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO), liegt folgendes prozessuales Geschehen zugrunde: Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung beantragt, das Gutachten eines Sachverständigen zum Beweis der Tatsache einzuholen, auch Scheinerinnerungen könnten – generell – zu ‚Trauma im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung‘ bzw. zu Nacherinnerungen („Flashbacks“) führen. Das LG hat diesen Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Beweistatsache sei aus tatsächlichen Gründen für die Entscheidung ohne Bedeutung: Wenn die Nebenklägerin die Missbrauchsvorwürfe nur aus Einbildungen heraus „erinnere“, also nicht von tatsächlich Erlebtem berichtet habe, folge bereits daraus, dass der Angeklagte die Taten nicht begangen habe und freizusprechen sei; dann komme es auf den Zusammenhang zwischen Scheinerinnerung und posttraumatischer Belastungsstörung bzw. Nacherinnerung nicht mehr an.

Dem BGH hat diese Begründung nicht gefallen:

„b) Diese Erwägung enthält tatsächlich keine Begründung.

aa) Das Tatgericht darf Indiz- oder Hilfstatsachen als für die Entscheidung tatsächlich bedeutungslos erachten (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO), wenn es aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Das Tatgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen und im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung – gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes – in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.

Diese antizipierende Würdigung ist in dem den Antrag ablehnenden Beschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) näher darzulegen. Denn dieser hat insbesondere den Antragsteller, aber auch die anderen Verfahrensbeteiligten, über die Auffassung des Tatgerichts zu unterrichten, sodass er sich auf die neue Verfahrenslage einstellen und das Gericht doch noch von der Erheblichkeit der Beweistatsache überzeugen oder aber neue Anträge mit demselben Beweisziel stellen kann („formalisierter Dialog“). Zudem muss der Ablehnungsbeschluss dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglichen, ob der Beweisantrag rechtsfehlerfrei zurückgewiesen worden ist sowie ob seine Feststellungen und Schlussfolgerungen mit denjenigen des Urteils übereinstimmen. Faktisch hat das Tatgericht damit den betreffenden Ausschnitt aus der Beweiswürdigung, die es an sich erst im Urteil darzulegen hat, bereits in der Hauptverhandlung offenzulegen; freilich kann und muss die Beschlussbegründung in laufender Hauptverhandlung angesichts der Vorläufigkeit der Einschätzung in der Regel weder die Ausführlichkeit noch die Tiefe der Beweiswürdigung der späteren Urteilsgründe aufweisen; die wesentlichen Hilfstatsachen sind jedenfalls in Grundzügen mitzuteilen (zum Ganzen BGH, Beschlüsse vom 7. November 2023 – 2 StR 284/23 Rn. 19; vom 7. August 2023 – 5 StR 550/22 Rn. 11 und vom 19. Dezember 2018 – 3 StR 516/18 Rn. 7; Urteil vom 25. August 2022 – 3 StR 359/21 Rn. 75; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 220 f.; jeweils mwN).

bb) Der Angeklagte wollte erkennbar den Beweiswert des Umstandes, dass die Nebenklägerin unter einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. Nacherinnerungen leide, was für die Missbrauchstaten spreche, abschwächen; er wollte bewiesen haben, dass aus diesem aktuellen psychischen Zustand der Nebenklägerin nicht zwingend auf den Wahrheitsgehalt ihrer belastenden Zeugenaussage zu schließen sei. Damit wollte der Angeklagte zugleich für den Fall, dass das Landgericht kein Sachverständigengutachten einholt, wissen, aufgrund welcher anderen Hilfstatsachen es die Aussage der Nebenklägerin dennoch für glaubhaft und die Zeugin insgesamt für glaubwürdig hielt, mit anderen Worten, warum es von Erinnerungen von tatsächlich Erlebtem und nicht von „Scheinerinnerungen“ ausging. Diese Antwort hat das Tatgericht nicht gegeben. Es hat vielmehr den vom Angeklagten begehrten – wissenschaftlich zu begründenden – Erfahrungssatz, posttraumatische Belastungsstörungen und Nacherinnerungen können auch auf Einbildungen zurückzuführen sein, nicht in seine Beweiswürdigung eingestellt, sondern den Beweisantrag sinnwidrig verkürzt.

cc) Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte auf eine den Anforderungen des § 244 Abs. 6 Satz 1, Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO genügende Begründung des Ablehnungsbeschlusses in einer für den Schuldspruch erheblichen Weise hätte reagieren können, naheliegend mit weiteren Beweisanträgen, um die anderen Begründungsansätze des Landgerichts „angreifen“ zu können. In seiner – für sich genommen rechtsfehlerfreien – Beweiswürdigung hat das Landgericht die „Langzeittherapie“, der sich die Nebenklägerin zur Behandlung ihrer Traumata unterzieht, miteinbezogen und dabei Scheinerinnerungen als Ursache ausgeschlossen (insbesondere UA S. 84 f.); damit hat es seine Überzeugungsbildung u.a. genau auf die Hilfstatsache (traumatische Belastungsstörung, die durch Erinnerungen an tatsächlich Erlebtes ausgelöst sei) gestützt, die der Angeklagte durch seinen Beweisantrag entkräftet wissen wollte.“

Absprache I: Die Amtsaufklärungspflicht gilt immer, oder: „Nachhilfe“ für AG Halle und OLG Naumburg

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Vorab: Heute ist „Weiberfastnacht“, also ab heute Ausnahmezustand im Rheinland und drum herum. Aus dem Anlass, allen die (mit)feiern, viel Spaß. Hier oben läuft alles normal – Gott sei Dank.

Und ich stellen heute hier StPO-Entscheidungen vor, und zwar alle drei Entscheidungen zur Verständigung (§ 257c StPO) und was damit zu tun hat. Alle drei Entscheidungen sind obergerichtliche Entscheidungen, alle drei „rügen“ die beteiligten Instanzgerichte.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 20.12.2023 – 2 BvR 2103/20 – zur Verurteilung eines Angeklagten (allein) auf der Grundlage eines verständigungsbasierten Geständnisses. Der Beschluss hat in etwa folgenden Sachverhalt.

Das AG Halle (Saale) hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Vorausgegangen war eine Verständigung zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten gem. § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO. Der Vorsitzende hatte für den Fall einer geständigen Einlassung dem Angeklagten eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen einem Jahr und einem Jahr und drei Monaten zugesichert, die zur Bewährung ausgesetzt werden solle. Der Angeklagte und der Vertreter der Staatsanwaltschaft stimmten der Verständigung zu. Der Pflichtverteidiger gab für den Angeklagten dann folgende Erklärung ab:

Herr D. bestätigt die Tatvorwürfe aus der Anklage (…). Herr D. war Geschäftsführer der Firma und beschäftigte viele Arbeitnehmer aus Osteuropa. Ob dieser Personenkreis unternehmerisch tätig war oder nicht, war ihm nicht wichtig. (…) Ihn hat nicht interessiert, ob die Arbeitnehmer anzumelden sind oder dies bereits geschah. Er hat sich um die Dinge nicht gekümmert, er nahm die Konsequenzen in Kauf. (…) Der Tatvorwurf wird als bestätigt eingeräumt (…).“

Der Angeklagte erklärte: „Das ist richtig so“.

Eine Beweisaufnahme zur Überprüfung der Einlassung fand dann nicht mehr statt. Die Angeklagten gegen das Urteil des AG eingelegte Sprungrevision hat das OLG Naumburg als unbegründet verworfen. Die Verfassungsbeschwerde des Angeklagten hatte Erfolg.

Ich stelle hier mal nicht Auszüge aus dem recht langen Beschluss des BVerfG ein, sondern empfehle den – dringend! – dem Selbststudium. Die Ausführungen lassen sich etwa wie folgt zusammenfassen:

  • Es liegt Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor.
  • § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO schließe jede Disposition über Gegenstand und Umfang der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Pflicht zur Aufklärung des mit der Anklage vorgeworfenen Geschehens aus. Eine Verständigung kann niemals als solche die Grundlage eines Urteils bilden.
  • AG und OLG haben die Mindestanforderungen an die Wahrheitserforschung verkannt.
  • Die Qualität des Geständnisses ist/war insgesamt gering.
  • Das amtsgerichtliche Urteil lässt besorgen, dass sich der Tatrichter keine ausreichend fundierte Überzeugung von der Schadenshöhe verschafft hat.
  • Nach allem hätte sich dem AG die Erforderlichkeit einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts aufdrängen müssen.

Das sind deutliche Worte in/zu einem Fall, der dann doch überrascht. Nicht wegen der Entscheidung an sich, sondern wegen des zugrundeliegenden Sachverhalts. Das ist nämlich m.E. einer der klassischen Fälle, die die Rechtsprechung des BVerfG und auch die des BGH vermeiden wollte: Der „Deal“ geringe Strafe gegen schnellen Abschluss des Verfahrens bzw. Einräumen des zur Last gelegten Sachverhalts, ohne dass dieser und die geständige Einlassung des Angeklagten vom Tatgericht überprüft wird. Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung von Anfang an darauf hingewiesen, dass auch bei einer Verständigung die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts davon nicht betroffen sein soll. das verständigungsbasierte Geständnis soll nicht allein die Verständigung Grundlage des Urteils sein. Vielmehr soll auch weiterhin die Überzeugung des Gerichts von dem von ihm im Urteil später festgestellten Sachverhalt erforderlich sein (vgl. BT-Drucks 16/12310, S. 13), so ausdrücklich im Verständigungsurteil v. 19.3.2013 (BVerfG (NJW 2013, 1058, 1063). Allein ein verständigungsbasiertes Geständnis könne eine Verurteilung nicht rechtfertigen (s.a. BGH NStZ 2014, 53). Vielmehr sei es zwingend erforderlich, die geständige Einlassung des Angeklagten im Zuge einer förmlichen Beweisaufnahme auf ihre Richtigkeit zu überprüfen (BVerfG, a.a.O., m.w.N.). Das Gericht darf also nicht vorschnell auf eine Urteilsabsprache bzw. eine Verständigung ausweichen, ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage tatsächlich anhand der Akten und insbesondere auch rechtlich überprüft zu haben (vgl. u.a. BGH NStZ 2014, 53). Es darf also nicht etwa ohne nähere Überprüfung des Tatgeschehens eine bestimmte Sanktion zusagen. Das hat das AG übersehen und – was auch erstaunt – das OLG Naumburg im Revisionsverfahren ebenfalls. Ergebnis ist dann, dass jetzt noch einmal verhandelt werden muss. Schnelligkeit bei einer Entscheidung ist eben nicht immer gut.

Und dann mal wegen der Rechtsprechung zur Absprache/Verständigung: Die findet man <<Werbemodus an“ zusammengestellt in  Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., 2022, Rn 120 ff. Zur Bestellung geht es hier <<Werbemodus aus>>.

StPO I: Verzicht aufs Zeugnisverweigerungsrecht, oder: Ganz oder gar nicht, teilweise geht nicht

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Und heute dann StPO-Entscheidungen.

Den Reigen beginne ich mit dem BGH, Beschl. v. 18.10.2023 – 1 StR 222/23 – mit folgendem Sachverhalt:

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen Vergewaltigung in fünf Fällen verurteilt. Die geschädigte Nebenklägerin ist die Schwester des Angeklagten. Nachdem diese zunächst im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung, bei der aussagepsychologischen Sachverständigen und vor dem Ermittlungsrichter ausgesagt hatte, erklärte sie noch vor der Hauptverhandlung, künftig von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Sie gestattete jedoch, dass ihre Angaben bei der aussagepsychologischen Sachverständigen verwertet werden dürften. Die Straf-/Jugendkammer legte daraufhin die ermittlungsrichterliche Vernehmung der Nebenklägerin und deren Angaben bei der Sachverständigen ihrer Beweiswürdigung zugrunde. Explizit nicht berücksichtigt wurde die polizeiliche Vernehmung der Nebenklägerin. Dagegen die Revision des Angeklagten, die erfolgreich war:

„b) Die Rüge ist begründet. Die Jugendkammer durfte die Angaben der Nebenklägerin bei der aussagepsychologischen Sachverständigen nicht verwerten.

aa) Gestattet ein Zeuge trotz Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO die Verwertung früherer Aussagen, so kann er dies nicht auf einzelne Vernehmungen beschränken. Ein Teilverzicht führt vielmehr dazu, dass sämtliche früheren Angaben – mit Ausnahme richterlicher Vernehmungen nach Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht – unverwertbar sind.

(a) Das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 1 StPO dient dem Schutz des Zeugen, durch seine der Wahrheitspflicht unterliegende Aussage nicht zur Belastung eines Angehörigen beitragen zu müssen (BGH, Urteile vom 8. Mai 1952 – 3 StR 1199/51, BGHSt 2, 351, 354 und vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 207). Der Zeuge kann bis zur Hauptverhandlung frei entscheiden, ob seine frühere, vielleicht voreilige oder unbedachte Aussage verwertet werden darf, und hat das Recht, in der Hauptverhandlung das Zeugnis zu verweigern sowie seine frühere Entscheidung zu ändern (BGH, Urteile vom 11. April 1973 – 2 StR 42/73, BGHSt 25, 176, 177 ff. und vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 208). Beruft er sich auf sein Recht aus § 52 Abs. 1 StPO, unterliegen daher sämtliche früheren Aussagen grundsätzlich einem Beweisverwertungsverbot (§ 252 StPO; BGH, Urteil vom 15. Januar 1952 – 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99). Ausgenommen hiervon sind lediglich richterliche Vernehmungen nach Belehrung des Zeugen über sein Zeugnisverweigerungsrecht (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 15. Januar 1952 – 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99; Beschluss vom 15. Juli 2016 – GSSt 1/16, BGHSt 61, 221, 229 mwN).

(b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann der sich auf sein Recht aus § 52 Abs. 1 StPO berufende Zeuge darüber hinaus auf die Sperrwirkung seiner Zeugnisverweigerung verzichten, sodass frühere Angaben durch die Vernehmungsperson oder den Sachverständigen (zur Anwendbarkeit des § 252 StPO bei Befragungen durch Sachverständige vgl. BGH, Urteil vom 3. November 2000 – 2 StR 354/00, BGHSt 46, 189, 193 mwN) in die Hauptverhandlung eingeführt werden können (BGH, Beschluss vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 207). Denn das Beweisverwertungsverbot aus § 252 StPO dient allein der Sicherung des mit der Gewährung des Rechts zur Zeugnisverweigerung verfolgten Zwecks und ist daher für den Zeugen insoweit disponibel, als er hierauf verzichten und durch die Gestattung der Verwertung früherer Angaben zur Sachaufklärung beitragen kann. Dem Umstand, dass sich der Zeuge hierdurch einer konfrontativen Befragung entzieht, ist durch eine entsprechend vorsichtige Beweiswürdigung Rechnung zu tragen (BGH, Beschluss vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 207 ff.).

(c) Ob der Zeuge seine Gestattung – wie vorliegend – auf einzelne Vernehmungen beschränken kann, hat der Bundesgerichtshof bislang nicht entschieden (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 2020 – 3 StR 377/18 Rn. 13 ff.; vgl. auch Urteil vom 28. Mai 2003 – 2 StR 445/02, BGHSt 48, 294, 297 ff.).

Ein solcher Teilverzicht ist unzulässig. Denn ein Zeuge kann nur in dem Rahmen über das Beweisverwertungsverbot verfügen, in dem es seinem Schutz dient. Schutzzweck des § 252 StPO in Verbindung mit § 52 Abs. 1 StPO ist es indes ausschließlich, die Entscheidungsfreiheit des Zeugen dahin zu gewährleisten, ob er in einem Strafprozess gegen einen Angehörigen aussagen und so gegebenenfalls zu dessen Belastung beitragen möchte (vgl. BGH, Urteile vom 8. Mai 1952 – 3 StR 1199/51, BGHSt 2, 351, 354 und vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 207). Das bedeutet: Der Zeuge kann entscheiden, ob er sich als Beweismittel zur Verfügung stellen will oder nicht (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 – 2 StR 445/02, BGHSt 48, 294, 298 mwN). Darüber hinaus hat er kein schützenswertes Interesse daran, den Umfang der Verwertbarkeit der von ihm bereits vorliegenden Angaben zu bestimmen (Cirener/Sander in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 252 Rn. 25), weshalb insoweit im Interesse des Angeklagten und der Allgemeinheit an der Wahrheitserforschung seinem Einfluss auf das Strafverfahren Grenzen zu ziehen sind (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 – 2 StR 445/02, BGHSt 48, 294, 299).

bb) Gemessen an diesen Grundsätzen durfte das Landgericht die Angaben der Nebenklägerin bei der aussagepsychologischen Sachverständigen seiner Beweiswürdigung nicht zugrunde legen. Denn der Verzicht der Zeugin auf das Verwertungsverbot aus § 252 StPO war – wenngleich möglicherweise nur aus Unachtsamkeit – auf diese Vernehmung beschränkt und damit unwirksam. Die Jugendkammer hätte ausschließlich die Angaben der Nebenklägerin vor dem Ermittlungsrichter zur Entscheidungsfindung heranziehen dürfen.

cc) Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Es ist insgesamt – trotz des bezüglich eines zentralen Teils der Körperverletzungen rechtsmedizinisch dokumentierten Verletzungsbildes – nicht auszuschließen, dass das Landgericht ohne die Angaben der Zeugin bei der Sachverständigen zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre.“

StPO II: Wenn bloß auf ein Geständnis verwiesen wird, oder: Reicht auch im Berufungsverfahren nicht

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Und im zweiten Posting heute dann der BayObLG, Beschl.v. 02.08.2023 – 203 StRR 303/23.

In ihm nimmt das BayObObLG zum Umfang der Feststellungen im Berufungsurteil Stellung. Das AG hat den Angeklagten u.a. wegen 18 Fällen des Betruges zu Gesamtgeldstrafe von 200 Tagessätzen zu je 15.- EUR verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten hat das LG unter Verwerfung der Berufung im übrigen eine Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 15.- EUR verhängt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die erfolgreich war:

„Die Revision des Angeklagten ist zulässig und hat auch einen vorläufigen Erfolg. Das angefochtene Urteil leidet an durchgreifenden Darstellungs- und Erörterungsmängeln und unterliegt daher der vollumfänglichen Aufhebung.

1. Die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch erweist sich – was das Revisionsgericht von Amts wegen prüft (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 9. Februar 2023 – 203 StRR 497/22 –, juris Rn. 3) – als unwirksam. Das Urteil des Amtsgerichts Nürnberg enthält unter Verstoß gegen die Regelung von § 267 Abs. 1 S. 1 StPO keine Feststellungen zum Sachverhalt. Entgegen den Ausführungen des Landgerichts lässt sich ihm auch keine Bezugnahme auf den Anklagesatz (§ 267 Abs. 4 S. 1 HS 2 StPO) entnehmen. Eine ergänzende Auslegung des defizitären erstinstanzlichen Urteils in dem Sinne, dass das Amtsgericht wohl den angeklagten Sachverhalt für erwiesen erachtet hätte, kommt nach der Vorschrift von § 267 Abs. 1 S. 1 StPO nicht in Betracht. Eine Ergänzung der Urteilsgründe nach der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 267 Abs. 4 S. 4 StPO hat das Amtsgericht nicht vorgenommen. Da dem Urteil des Amtsgerichts eine geschlossene Sachverhaltsdarstellung ermangelt, ist die Beschränkung der Berufung auf den Strafausspruch als unwirksam anzusehen (vgl. Thüringer OLG, Beschluss vom 29. Januar 2015 – 1 Ss 124/14 –, juris; BayObLG, Beschluss vom 8. August 1984 – RReg 1 St 153/84 –, juris; Gössel in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 318 Rn. 46).

2. Die für den Fall einer unwirksamen Beschränkung der Berufung hilfsweise getätigten Ausführungen des Landgerichts zum festgestellten Sachverhalt und zur Würdigung des Geständnisses des Angeklagten genügen ihrerseits nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen, die nach § 267 Abs. 1 i.V.m. § 328 Abs. 1 StPO an die Darlegung der richterlichen Überzeugungsbildung zu stellen sind. Die Verurteilung des Angeklagten kann daher keinen Bestand haben.

a) Grundsätzlich ist das Tatgericht – über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO hinaus – verpflichtet, die wesentlichen Beweiserwägungen in den Urteilsgründen so darzulegen, dass seine Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler überprüfbar ist (BGH, Beschluss vom 9. August 2022 – 6 StR 249/22 –, juris Rn. 11). Der bloße Verweis auf ein Geständnis kann eine Beweiswürdigung nicht ersetzen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2022 – 2 StR 53/22 –, juris; BGH, Beschluss vom 3. März 2016 – 2 StR 360/15-, juris Rn 3). Vielmehr bedarf es regelmäßig einer Wiedergabe wenigstens der wesentlichen Grundzüge der Einlassung des Angeklagten (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 9. August 2022 – 6 StR 249/22 –, juris Rn. 10) sowie eines Mindestmaßes an einer Darstellung der Erwägungen, weshalb der Einlassung zu folgen ist. Der Tatrichter ist nämlich auch im Falle eines geständigen Angeklagten gehalten, zu untersuchen, ob das Geständnis den Aufklärungsbedarf hinsichtlich der erforderlichen Feststellungen zur Tat erfüllt, ob es in sich stimmig ist und auch im Hinblick auf sonstige Beweisergebnisse keinen Glaubhaftigkeitsbedenken unterliegt und ob es die getroffenen Feststellungen trägt (BGH, Beschluss vom 13. September 2016 – 5 StR 338/16 –, juris Rn. 7 m.w.N.; Meyer Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 261 Rn. 6a). Einlassungen mittels einer Verteidigererklärung ohne Möglichkeit kritischen Nachfragens besitzen einen erheblich verminderten Beweiswert (BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2021 – 3 StR 380/21 –, juris Rn. 10 m.w.N.).

b) Diese Grundsätze an die Darstellungserfordernisse gelten auch im Berufungsverfahren. Ist wie hier das Urteil des Amtsgerichts uneingeschränkt angefochten, hat das Berufungsgericht eigene Feststellungen zu treffen und diese in einer aus sich heraus verständlichen Weise in den Urteilsgründen darzustellen (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 28. März 2018 – III-1 RVs 51/18 –, juris). Es hat selbstständig und in eigener Verantwortung auf Grund der vor ihm durchgeführten Beweisaufnahme über das angeklagte Geschehen nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung (§ 261 StPO) zu entscheiden (KK-StPO/Paul, 9. Aufl., § 327 Rn. 4). Die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts darf es nicht einfach übernehmen, selbst wenn der Berufungsführer diese nicht angreift (OLG Hamm, Urteil vom 20. November 2007 – 1 Ss 66/07 –, juris; KG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 1997 – 1 AR 518/954 Ws 76/97 –, juris Rn. 3; BayObLG, Beschluss vom 22. Oktober 1973 – RReg 2 St 135/73 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 327 Rn. 3). Im Urteil darf das Berufungsgericht auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils nur dann Bezug nehmen, wenn es nach eigener Prüfung zu demselben Ergebnis kommt (KK- Paul, a.a.O., § 267 Rn. 5 m.w.N.; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 267 Rn. 34). Es muss erkennbar sein, dass das Berufungsgericht seiner Pflicht zu eigenen Feststellungen und zur eigenen Beweiswürdigung voll nachgekommen ist (OLG Köln, Beschluss vom 28. März 2018 – III-1 RVs 51/18 –, juris; OLG Stuttgart, Urteil vom 10. Dezember 2002 – 1 Ss 501/02 –, juris Rn. 16 ff.).

c) Gemessen daran genügen die Ausführungen des Landgerichts nicht, um eine Beweiswürdigung der Strafkammer nachvollziehbar zu machen. Sie können die Darstellung der objektiven und subjektiven Umstände der Taten nicht tragen, was allein auf die Sachrüge zu berücksichtigen ist (BGH, Beschluss vom 6. Juli 2022 – 2 StR 53/22 –, juris Rn. 10; BGH, Beschluss vom 13. September 2016 – 5 StR 338/16 –, juris Rn. 6).

Im vorliegenden Fall beschränken sich die Feststellungen des Landgerichts auf eine Wiedergabe des in der Berufungsverhandlung verlesenen Anklagesatzes. Sie betreffen 18 Fälle von vollendeten Betrugstaten und 6 Fälle von versuchten Betrugsstraftaten, jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung im November und Dezember 2021 mit unterschiedlichen Geschädigten und unterschiedlichen Schadensbeträgen. Die Strafkammer hat die Strafbarkeit des Angeklagten nach den Urteilsgründen ohne Vernehmung von Zeugen oder Verlesung von Urkunden allein auf das vom Verteidiger abgegebene Geständnis des Angeklagten gestützt und dazu ausgeführt, der Angeklagte habe durch seinen Verteidiger „diesen, dem Ersturteil zugrunde gelegten Sachverhalt, vollumfänglich eingeräumt“ (Urteil S. 4). Die Kammer habe sich die Überzeugung gebildet, dass die Tatvorwürfe zuträfen (Urteil S. 5). Ob der Verteidiger die Erklärung in der ersten oder in der zweiten Instanz abgegeben hat, ob das Geständnis in pauschaler Form oder auf die einzelnen Taten eingehend formuliert worden ist, ob sich der Angeklagte zu den einzelnen Taten auch selbst geäußert hat und welche Beweiserwägungen die Kammer im Zuge ihrer Überzeugungsbildung angestellt hat, erschließt sich den Urteilsgründen auch unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen der Strafkammer zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten und zur Vorgeschichte der Taten nicht. Denn auch bezüglich der Feststellungen zu der Vorgeschichte der Taten, nämlich dass der Angeklagte nach dem Fehlschlagen einer legalen Geschäftsidee beschlossen hätte, mit einem mobilen Gerät vermeintlich vom berechtigten Zweckverband kommunale Verkehrsüberwachung stammende Verwarnungen zu erstellen und an falsch geparkten Fahrzeugen anzubringen (Urteil S. 5), hat die Berufungskammer lediglich bemerkt, diese würden auf „glaubhaften“ Angaben des Angeklagten beruhen (Urteil S. 6). Dass das Urteil des Amtsgerichts entgegen der Darstellung des Landgerichts keinerlei Feststellungen zu den Taten enthielt, hat der Senat bereits dargelegt.

Zu einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Begründung des Urteils hätte es insbesondere mit Blick auf die fehlenden Feststellungen das Amtsgerichts einer Erläuterung der geständigen Einlassung bedurft; denn ohne Kenntnis von Einzelheiten vermag das Revisionsgericht nicht zu erkennen, ob ein auf Betrugs- und Urkundendelikte bezogenes Geständnis auch sämtliche Tatbestandsmerkmale dieser Straftatbestände erfasst (BGH, Beschluss vom 3. März 2016 – 2 StR 360/15-, juris  Rn. 4). Der bloße Verweis auf ein Zugestehen der Vorwürfe des Anklagesatzes genügt den Anforderungen an eine Beweiswürdigung nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 9. August 2022 – 6 StR 249/22 –, juris). Auch lassen  die Urteilsgründe hier nicht erkennen, dass die Strafkammer das Geständnis des Angeklagten einer inhaltlichen Überprüfung unterzogen hätte.

Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass der Tatrichter nach § 267 Abs. 1 S. 1 StPO gehalten ist, in der Begründung des Urteils die von ihm als erwiesen erachteten Tatsachen eigenverantwortlich niederzulegen. In der Regel können eigene Feststellungen nicht durch Einrücken des Anklagesatzes ersetzt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 12. August 2010 – 3 StR 227/10 –, juris).

StPO I: Zeitpunkt „nicht logisch nachvollziehbar“, oder: Wahrnehmung prozessualer Schweigerechte

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Und heute dann drei Entscheidungen aus dem StPO-Bereich.-

Zunächst hier noch einmal der BGH, Beschl. v. 16.08.2023 – 5 StR 126/23 -, den ich ja schon einmal hier unter StPO II: Grundloses Nichterscheinen des Zeugen, oder: Verletzung des Konfrontationsrechts?, vorgestellt hatte.

Heute dann nochmals wegen der Ausführungen des BGH zur Beweiswürdigung:

„3. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben.

Allerdings findet sich in der Beweiswürdigung der Strafkammer zur Vorgeschichte der Tat, die rechtlich bedenkliche Wendung, es sei „nicht logisch nachvollziehbar, warum der Angeklagte seine Geschichte nicht schon im Anschluss hieran [an die Vernehmung des Zeugen am ersten Hauptverhandlungstag], sondern erst am dritten Verhandlungstag vorgetragen“ habe. Darin könnte zum Ausdruck kommen, das Landgericht habe allein aus der Wahrnehmung prozessualer Schweigerechte unzulässige Schlüsse gezogen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – 5 StR 411/20, NStZ 2021, 319 mwN, insoweit auch zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Berücksichtigung der Umstände der Einlassung, wie etwa der Möglichkeit, die Einlassung an bisherige Ermittlungsergebnisse anzupassen). Gleiches gilt, soweit es für seine Einschätzung, es handele sich bei der Einlassung des Angeklagten zur Tat um Schutzbehauptungen, ausgeführt hat, es sehe „sich in dieser Annahme nicht zuletzt angesichts des späten Zeitpunkts der Einlassung des Angeklagten bestätigt.“ Mit Blick auf die rechtsfehlerfreie Gesamtwürdigung der Strafkammer, die – ohne Berücksichtigung des Zeitpunkts der Einlassung – die Darstellung des Tatgeschehens durch den Angeklagten nachvollziehbar als unglaubhaft gewertet hat, schließt der Senat aus, dass das Urteil insoweit auf einem etwaigen Rechtsfehler beruht.