Archiv der Kategorie: Haftrecht

Vollstreckung II: Auswirkungen einer Pfändung, oder: Taschengeld in der Sicherungsverwahrung

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Das zweite Posting des Tages hat den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.10.2023 – 2 Ws 282/23 – zum Gegenstand. Er befasst sich mit den Voraussetzungen des Taschengeldanspruchs in der Sicherungsverwahrung.

Der Antragsteller ist im Vollzug der Maßregel der Sicherungsverwahrung untergebracht. Im Mai 2023 konnte er krankheitsbedingt keiner Beschäftigung nachgehen. Von der am 04.05.2023 erhaltenen Vergütung für vorher geleistete Arbeit in Höhe von 211,19 EUR buchte die Antragsgegnerin, da das Überbrückungsgeld schon vollständig angespart war, 90,51 EUR auf das Hausgeld und 120,68 EUR auf das Eigengeld. Der letztgenannte Betrag wurde umgehend aufgrund einer bestehenden Pfändung zugunsten eines Gläubigers umgebucht.

Den Antrag des Antragstellers, ihm für den Monat Mai 2023 Taschengeld zu gewähren, lehnte die JVA ab. Nach ihrer Auffassung fehlte es an der erforderlichen Bedürftigkeit des Antragstellers, da ihm auch der dem Eigengeld zugeschriebene Anteil der im Mai zugeflossenen Arbeitsvergütung zur Verfügung gestanden habe. Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung begehrte der Antragsteller die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Taschengeldberechnung für Mai 2023, die Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihm unter Neuberechnung für Mai 2023 40,90 EUR Taschengeld gutzuschreiben sowie die Berechnung für die Folgemonate anzupassen und ihn insoweit neu zu bescheiden.

Das LG hat diese Anträge zurückgewiesen. Dagegen die Rechtsbeschwerdedes Antragstellers, die das OLG als begründet angesehen hat:

“ ….. Voraussetzung für den Taschengeldanspruch Untergebrachter, die krankheitsbedingt keiner Beschäftigung nachgehen können (§ 49 Abs. 1 Satz 1 und 2 JVollzGB BW III), ist deren Bedürftigkeit. In Fortführung der zur Regelung in § 46 StVollzG ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung (Übersicht bei Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 46 StVollzG Rn. 4) regelt § 49 Abs. 1 Satz 3 JVollzGB BW V, dass Untergebrachte bedürftig sind, soweit ihnen im laufenden Monat aus sonstigen Einkünften nicht ein Betrag bis zur Höhe des Taschengeldes zur Verfügung steht.

Danach gilt das Zuflussprinzip, d.h. bei der Bestimmung der Bedürftigkeit sind nur solche Mittel zu berücksichtigen, die dem Untergebrachten in dem Kalendermonat, für den Taschengeld beansprucht wird, bereits zugeflossen sind, nicht aber solche, die zwar in diesem Zeitraum entstehen, aber erst später ausgekehrt werden (OLG Dresden NStZ 1998, 399 [bei Matzke]; OLG Hamburg NStZ 2000, 672; OLG Frankfurt NStZ-RR 2007, 62). Die Entscheidung über den Anspruch kann danach in der Regel erst nach dem Ende des Monats ergehen, für den Taschengeld beantragt wird, da erst dann eine vollständige Beurteilung der Bedürftigkeit möglich ist (Nr. 3.1 VV zu § 53 JVollzGB BW III i.V.m. Nr. 2 VV zu § 49 JVollzGB BW V; OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Celle NStZ-RR 2014, 339).

Noch nicht ausdrücklich entschieden ist dagegen bisher die Frage, welche Auswirkungen die Pfändung von Einkünften des Antragstellers auf die Feststellung der Bedürftigkeit hat, auch wenn zu den für die Beurteilung maßgeblichen Grundsätzen bereits Entscheidungen ergangen sind. Dazu ist zunächst darauf abzustellen, dass der Zweck des Taschengelds dem des Hausgelds (§ 49 Abs. 2 JVollzGB BW V) entspricht. Es dient damit der Befriedigung von persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens, die über die auf Existenzsicherung ausgerichtete Versorgung durch die Anstalt hinausgehen (BVerfG NJW 1996, 3146; StV 1995, 651); zugleich soll damit der besonderen Anfälligkeit von Mittellosen für behandlungsfeindliche subkulturelle Aktivitäten entgegengewirkt werden (Arloth/Krä a.a.O., § 46 StVollzG Rn. 1 m.w.N.). Von dieser Zweckbestimmung ausgehend ist die nach § 49 Abs. 1 Satz 3 JVollzGB BW V maßgebliche Frage, ob dem Untergebrachten im Anspruchsmonat andere Mittel zur Verfügung stehen, danach zu beantworten, ob ihm die erforderlichen Geldmittel rein tatsächlich zu Gebote stehen (OLG Dresden a.a.O.). Das ist bei einem Zufluss von Mitteln, die – wie bei einer Pfändung – sofort für eine vom Willen des Untergebrachten unabhängigen Zweck eingesetzt werden, jedoch nicht der Fall. Erst recht gilt dies, wenn – wie dies bei Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen üblicherweise der Fall ist – bereits der Anspruch auf Lohnzahlung gepfändet ist und deshalb der von der Pfändung betroffene Lohn dem Untergebrachten von vornherein nicht zur Verfügung steht.

Bei der Bestimmung der dem Antragsteller im Mai 2023 zur Verfügung stehenden Mittel hat danach das gepfändete Eigengeld ebenso wie das zweckgebundene Überbrückungsgeld außer Betracht zu bleiben. Da ihm danach in diesem Zeitraum nur das Hausgeld in Höhe von 90,51 € im Sinn des § 49 Abs. 1 Satz 3 JVollzGB BW V zur Verfügung stand, erweist sich die Rechtsbeschwerde in Höhe des geltend gemachten Taschengeldanspruchs für Mai 2023 auch als begründet. Soweit die Differenz zwischen den dem Untergebrachten zur Verfügung stehenden Mitteln und dem Taschengeldanspruch in Höhe von 131,46 € rechnerisch geringfügig höher als der vom Senat zuerkannte Betrag ist, konnte der Senat über den in erster Instanz ausdrücklich gestellten Antrag auf Gewährung von 40,90 € Taschengeld wegen des in Strafvollzugssachen geltenden Verfügungsgrundsatzes (Arloth/Krä a.a.O., § 115 StVollzG Rn. 1 m.w.N.) nicht hinausgehen.“

U-Haft III: Neues zur Sechs-Monats-Haftprüfung, oder: Dieselbe Tat, zügiger Termin, unzuständiges Gericht

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Und zum Tagesschluss stelle ich dann drei Entscheidungen zum Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121 ff. StPO – also Sechs-Monats-Prüfung – vor.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 19.10.2023 – 19.10.2023 -, in dem sich der BGH noch einmal zum Begriff „derselben Tat“ geäußert hat, und zwar wie folgt:

„Der Begriff derselben Tat im Sinne dieser Vorschrift weicht vom prozessualen Tatbegriff im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ab und ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Er erfasst alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Dadurch wird eine sogenannte Reservehaltung von Tatvorwürfen vermieden, die darin bestünde, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordene Taten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen. Somit löst es keine neue Haftprüfungsfrist gemäß § 121 Abs. 1 StPO aus, wenn ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt waren. Tragen dagegen die erst im Laufe der Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt. Für den Fristbeginn ist dann der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können, nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Dabei ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist (st. Rspr.; s. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 – AK 14/17, juris Rn. 6 ff.; vom 7. September 2017 – AK 42/17, NStZ-RR 2018, 10, 11; vom 16. Januar 2018 – AK 78/17, juris Rn. 11; vom 25. Juli 2019 – AK 34/19, NStZ 2019, 626 Rn. 7 f.; vom 14. Mai 2020 – AK 8/20, juris Rn. 5 ff.; vom 20. September 2023 – AK 54/23, juris Rn. 8).“

Zur Abrundung dann noch zwei KG-Beschlüsse zur Frage der Verfahrensverzögerung und/oder dem Beschleunigungsgrundsatz, und zwar:

1. Im Verfahren der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO bildet allein der zuletzt erlassene und prozessordnungsgemäß bekanntgegebene Haftbefehl den Prüfungsgegenstand. Dies gilt auch dann, wenn der Haftbefehl auf weitere Taten hätte erweitert werden können, tatsächlich aber nicht erweitert worden ist. Mit einer im Eröffnungsbeschluss getroffenen Haftfortdauerentscheidung „nach Maßgabe des Anklagesatzes“ kann ein Haftbefehl nicht in prozessual ordnungsgemäßer Weise auf die weiteren Anklagevorwürfe erweitert werden.

2. Im Gerichtsverfahren muss bei der Bearbeitung von Haftsachen der Gesichts-punkt der vorausschauenden Planung im Vordergrund stehen. Die Umstände des Falles können es nahegelegen, für eine zügige Terminierung direkte und schnelle Kommunikationswege (E-Mail, Telefon oder Fax) zu beschreiten.

Dass zunächst Anklage zur allgemeinen Strafkammer erhoben und die Sache von dort dem Schwurgericht vorgelegt wird, stellt dann keine sachwidrige Verfahrensverzögerung dar, wenn die Anklage rechtlich vertretbar bei dem sich schließlich für unzuständig haltenden Gericht erhoben worden ist. Denn es ist als Folge der Gewaltenteilung hinzunehmen, dass ein Strafgericht den angeklagten Lebenssachverhalt in Einzelfällen anders würdigt als die Staatsanwaltschaft.

U-Haft II: In der JVA Laptop für die Akteneinsicht, oder: „Kurze“ Fahrt zur Vorführung vor zuständigen Richter

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Und im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen betreffend das „U-Haft-Verfahren“.

Zunächst der Hinweis auf den LG Nürnberg, Beschl. v. 07.11.2023 – 13 Qs 56/23 – zur Frage der Form der Akteneinsicht in Akten mit besonders großem Aktenumfang, wenn der Beschuldigte inhaftiert ist. Dazu das LG (im Leitsatz):

Dem Beschuldigten ist in Strafverfahren mit besonders großem Aktenumfang zur effektiven Vorbereitung auf die Hauptverhandlung Akteneinsicht auch in Form von elektronischen Dokumenten, die auf einem Laptop eingesehen werden können, zu gewähren: Die Staatsanwaltschaft hat der JVA ggf. eine verschlüsselte CD-ROM mit der Akte im pdf-Format zu übersenden und die JVA dem Beschuldigten sodann einen Laptop mit der aufgespielten elektronischen Akte in einem besonderen Haftraum zur Verfügung stellen.

Und dann der AG Nürnberg, Beschl. v. 31.10.2023 – 58 Gs 12014/23 -, mit dem das AG einen Haftbefehl aufgehoben hat. Begründung:

„Der Haftbefehl war aus den folgenden Gründen aufzuheben:

1. Dem Vollzug des Haftbefehls steht der Spezialitätsschutz des § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19.12.2012, Aktenzeichen: 1 StR 165/12) entfällt ein wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Spezialität bestehendes Verfahrenshindernis gemäß Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Euro-päischen Auslieferungsübereinkommens jedenfalls dann, wenn der Ausgelieferte auf die Rechtsfolgen hingewiesen wurde oder diese Rechtsfolgen aus anderen Gründen kannte. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Braunschweig (Beschluss vom 26.08.2019, Aktenzeichen: 1 Ws 154/19) entspricht die Vorschrift des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG derjenigen des Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens.

Der vorliegenden Akte kann nicht entnommen werden, dass der Beschuldigte auf die Rechtsfolgen des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG hingewiesen wurde oder die Rechtsfolgen ander-weitig kannte.

2. Die Vorführung vor den nächsten Richter des Amtsgerichts Fulda verstieß gegen § 115 StPO. Der Beschuldigte wurde am 17.10.2023 um 19:20 Uhr aufgrund des vorliegenden Haftbefehls ergriffen. Eine Pkw-Fahrt von Fulda nach Nürnberg dauert laut Google-Maps etwa drei Stunden, sodass eine Vorführung vor den zuständigen Richter des Amtsgerichts Nürnberg am 18.10.2023 möglich gewesen wäre.2

Interessant m.E. vor allem wegen der Ausführungen des AG unter 2.

U-Haft I: Fluchtgefahr bei Schwerkriminalität, oder: Wenn der Beschuldigte schwer krank ist

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Heute dann zunächst allen einen schönen Nikolaustag mit hoffentlich prall gefüllten Stiefeln. Ich habe den „Stiefel“ hier heute mit Entscheidungen zur U-Haft gefüllt. Ich habe einiges zusammengefasst, das sich während des Urlaubs doch einiges angesammelt hat und ich daher in meinem Ordner ein wenig Platz schaffen muss.

Ich beginne mit dem OLG Dresden, Beschl. v. 01.11.2023 – 1 Ws 226/23 – zur Fluchtgefahr bei Delikten der Schwerkriminalität. Das OLG hat in einem Verfahren mit einem Totschlagsvorwurf das (weitere) Vorliegen eines Haftgrundes verneint.

„Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht nicht.

Zwar hat der Beschuldigte im Falle seiner Verurteilung angesichts der Schwere der ihm zur Last gelegten Tat mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Es ist jedoch vorliegend ausgeschlossen, dass der von dieser Straferwartung ausgehende Fluchtanreiz die konkrete Gefahr begründet, dass der Beschuldigte – auf freiem Fuß belassen – sich dem Verfahren entziehen wird, selbst wenn Fluchtgefahr nicht verlangt, dass dies auf Dauer geschieht, sondern ein gegebenenfalls vorübergehendes Sichentziehen, was den Fortgang des Strafverfahrens verhindert, genügt. Der Beschuldigte ist pp. Jahre alt und verfügt über enge soziale Bindungen zu pp. Er leidet unter einer schweren Erkrankung, die palliativ zu behandeln ist.

Bereits vor seiner Festnahme am 01. September 2023 wies er einen deutlich beeinträchtigten Gesundheitszustand auf, wie sich sowohl den detaillierten Angaben pp. in ihrer Vernehmung vom pp. als auch der Dokumentation der Hausärztin pp. entnehmen lässt, wonach ab dem 10. August 2023 beim Beschuldigten unter anderem ein deutlicher Gewichtsverlust sowie Kraftlosigkeit bzw. Schwäche dokumentiert sind. Soweit die Kammer in der angefochtenen Entscheidung unter Bezugnahme auf die Aussagen der Zeugin pp. – Pflegerin der Geschädigten – sowie der Zeugin pp. – Hausärztin der Geschädigten und des Beschuldigten – zugrunde gelegt hat, der Beschuldigte habe den Haushalt geführt und die Ehefrau des Beschuldigten in die Praxis begleitet, so beziehen sich diese Angaben ersichtlich auf den Zeitraum vor der Diagnosesteilung beim Beschuldigten, die im Juli 2023 erfolgt ist. Nach seiner Inhaftierung hat sich der bereits deutlich beeinträchtigte Gesundheitszustand nochmals erheblich verschlechtert, wie insbesondere der Stellungnahme der JVA vom 26. Oktober 2023, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird, entnehmen lässt. Angesichts der dort beschriebenen körperlichen und geistigen Verfassung des Beschuldigten, der bereits stark von seiner schweren Erkrankung gezeichnet ist, sieht es der Senat vorliegend als ausgeschlossen an, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren entziehen wird,

Es besteht dementsprechend auch der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) nicht.

§ 112 Abs. 3 StPO lässt nach dem Wortlaut bei den darin aufgeführten Straftaten der Schwer-kriminalität die Anordnung der Untersuchungshaft auch dann zu, wenn ein Haftgrund nach § 112 Abs, 2 StPO nicht besteht. Bei der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts (BVerfGE 19, 342, 350 ff; BVerfG NJW 1966, 772) gebotenen verfassungskonformen Auslegung ist die Vorschrift wegen eines sonst darin enthaltenen offensichtlichen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass der Erlass eines Haft-befehls nur zulässig ist, wenn Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne die Verhaftung des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte, Genügen kann bereits die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, ferner die ernstliche Befürchtung, der Täter werde weitere Taten ähnlicher Art begehen, Ausreichend aber auch erforderlich ist die Feststellung, dass eine verhältnismäßig geringe oder entfernte Gefahr in dieser Art besteht, Wenn allerdings nach den Umständen des Einzelfalls gewichtige Gründe gegen jede Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr sprechen, ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von einem Haftbefehl nach § 112 Abs. 3 StPO abzusehen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 20. April 2022, Az.; StB 15/22 – juris; BGH, Beschluss vorn 23. Dezember 2009, Az,; StB 51/09 – juris).

Unter Berücksichtigung dessen und der unter 1. genannten Umstände, aufgrund derer der Senat im Ergebnis seiner Prüfung eine bestehende Fluchtgefahr beim Beschuldigten ausschließt, scheidet daher auch der Haftgrund der Schwerkriminalität aus.“

Strafzumessung III: Anrechnung von Auslieferungshaft, oder: Besuch der Großmutter ist keine Flucht

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Und dann zum Tagesschluss noch eine Thematik, zu der ich hier noch nicht so ganz häufig berichtet habe, und zwar Anrechnung einer im Ausland erlittenen Auslieferungs-/Untersuchungshaft.

Das LG hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und eine Anrechnungsentscheidung hinsichtlich erlittener Auslieferungshaft getroffen hat. U.a. die Anrechnungsentscheidung hat dem BGH nicht gefalle. Er führt dazu im BGH, Beschl. v. 06.07.2023 – 2 StR 8/23:

„2. Hingegen hält der Ausspruch des Landgerichts, mit dem das Landgericht die in der Zeit vom 18. Juli 2021 bis 3. August 2021 in Kroatien erlittene Untersuchungshaft im Verhältnis 1:1 angerechnet hat, rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Haftbedingungen des Angeklagten – nicht zuletzt aufgrund seiner bosnischen Abstammung – schlecht waren und hat damit zu erkennen gegeben, dass abweichend von der in einem EU-Staat und damit auch in Kroatien im Allgemeinen zu erfolgenden Anrechnung im Verhältnis 1:1 (vgl. zuletzt zu Kroatien BGH, Beschluss vom 21. Juni 2018 – 4 StR 499/17) ausnahmsweise ein anderer Maßstab in Betracht kommen könnte. Es hat im Ergebnis aber davon abgesehen so zu verfahren, weil der Angeklagte selbst dafür verantwortlich gewesen sei, dass er ausgerechnet in Kroatien eine Freiheitsentziehung erlitten habe. Durch den Antritt einer Reise nach Kroatien habe er begründeten Anlass zu der Sorge gegeben, er werde sich dem Verfahren dauerhaft nicht stellen. Selbst wenn er nicht von dem Haftbefehl gewusst haben sollte, sei dem Angeklagten doch bewusst gewesen, dass dieses Verhalten geeignet gewesen sei, den Haftgrund der Fluchtgefahr zu begründen.

Mit dieser Begründung durfte die Strafkammer dem Angeklagten eine möglicherweise angezeigte Anrechnung der Auslieferungshaft in einem anderen Verhältnis als 1:1 nicht versagen. Nach § 51 Abs. 1 Satz 2 StGB kann das Gericht ausnahmsweise anordnen, dass eine Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist. Ein Verhalten, das eine solche Versagung rechtfertigen könnte, ist aber nicht ersichtlich. Die Reise nach Kroatien diente nach der unwiderlegt gebliebenen Einlassung dem Besuch seiner 92-jährigen Großmutter, wobei der Angeklagte angegeben hat, von dem Verfahren gewusst zu haben, er aber keineswegs habe fliehen wollen. Ein Fluchtversuch ist bei dieser Erklärung nicht dargetan; zudem ist durch die daraufhin erfolgte Inhaftierung keine Verschleppung des Verfahrens – was auch bei einem Fluchtversuch oder Fluchtvorbereitungen für eine Versagung vonnöten wäre – belegt (vgl. BGH NJW 1970, 1752, 1753 = BGHSt 23, 307).“