OWi III: Die Rechtspflegerin will nicht protokollieren, oder: Wiedereinsetzung wegen Fehler der Justiz

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Und zum Tagesschluss dann noch der OLG Köln, Beschl. v. 22.02.2024 – III 1 ORbs 38/24 – auch eine etwas kuriose Sache.

Das AG hat mit Urteil vom 20.10.2023 den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil der Betroffene zum Hauptverhandlungstermin unentschuldigt nicht erschienen sei. Das Urteil ist dem Betroffenen am 27.10.2023 zugestellt worden.

Mit persönlich verfasstem Schreiben vom 29.10.2023, eingegangen beim AG am selben Tag, hat der anwaltlich nicht vertretene Betroffene die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt.

Am 24.11.2023 hat der Betroffene den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zu Protokoll der Geschäftsstelle beim AG begründet. Er hat beantragt, die Rechtsbeschwerde zuzulassen und zur Begründung ausgeführt, das Urteil verletze ihn in mehrfacher Hinsicht in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör. Unter anderem sei sein Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen rechtsfehlerhaft vom AG abgelehnt worden.

Mit Schreiben vom 04.12.2023, eingegangen beim AG am selben Tag, hat der Betroffene die protokollierende Rechtspflegerin dann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Diese habe ihn gehindert, lückenlos zum Verfahrensgang vorgetragen und erklärt, dies sei gar nicht notwendig. Den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat der Betroffene sodann noch im selben Schreiben ergänzend begründet und in diesem Rahmen nähere Ausführungen zum Verfahrensgang getätigt.

Das OLG hat den Zulassungsantrag des Betroffenen als derzeit unzulässig angesehen und den betroffefen darauf hingewiesen, dass ihm Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des AG gewährt werden kann, wenn er innerhalb einer Frist von einem Monat, die mit der Zustellung des OLG-Beschlusses beginnt den Zulassungsantrag (noch einmal) formgerecht begründet. Dazu hat es die Akten an das AG zurückgegeben. Begründung:

„Der Zulassungsantrag des Betroffenen ist (derzeit) unzulässig.

Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft ist die vom Betroffenen erhobene Verfahrensrüge (bisher) nicht in zulässiger Weise erhoben.

Der Betroffene wird jedoch darauf hingewiesen, dass er Gelegenheit hat, binnen einer Frist von einem Monat, die mit Zustellung dieses Beschlusses zu laufen beginnt, einen formgerechten Zulassungsantrag zur Akte zu reichen.

Im Einzelnen:

1. Der Betroffene hatte bei der Begründung seines Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde die Vorgaben der §§ 344, 345 StPO, 80 Abs. 3 S. 3 OWiG zu beachten.

Danach bedurfte es der Einreichung einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder einer Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 345 Abs. 2 StPO).

Der Betroffene hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zwar fristgerecht – am 24. November 2023 – zu Protokoll der Geschäftsstelle begründet.

Dem protokollierten Vorbringen ist auch zu entnehmen, dass der Betroffene die Verletzung seines rechtlichen Gehörs rügt, das er in mehrfacher Hinsicht verletzt sieht, unter anderem weil seinem Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu Unrecht nicht stattgegeben worden sei.

Ebenso geht der Betroffene in rechtlicher Hinsicht zutreffend davon aus, dass der Anspruch auf Gewährung von rechtlichem Gehör verletzt ist, wenn über einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen überhaupt nicht oder ohne eine auf § 73 Abs. 2 OWiG zurückführbare Begründung entschieden wird. Dies entspricht ständiger Senatsrechtsprechung.

Gleichwohl ist eine Versagung des rechtlichen Gehörs vorliegend nicht hinreichend dargetan.

Die Versagung des rechtlichen Gehörs ist mit einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Verfahrensrüge geltend zu machen (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. SenE v. 04.02.1999, NZV 1999, 264; SenE v. 15.04.1999, NZV 1999, 436; SenE v. 08.01.2001, DAR 2001, 179; SenE v. 11.01.2001, VRS 100, 204). Das Rügevorbringen muss so vollständig sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht überprüfen kann, ob die Voraussetzungen für eine Entbindung von der Anwesenheitspflicht nach § 73 Abs. 2 OWiG vorlagen (SenE v. 21.12.2001, NStZ 2002, 268 [269]; SenE v. 11.01.2002, NStZ-RR 2002, 114 [116]; OLG Hamm, VRS 107, 120 [122]; OLG Koblenz, zfs 2005, 311; OLG Saarbrücken, VRS 114, 50 [51]). Zur gesetzmäßigen Ausführung der Rüge bedarf es neben der Mitteilung des Entbindungsantrags und der ablehnenden Gerichtsentscheidung der genauen Darlegung der Einzelumstände, aus welchen Gründen ein Anspruch auf Entbindung bestand.

Eine Verfahrensrüge betreffend die Verletzung des rechtlichen Gehörs des Betroffenen ist nach diesen Maßgaben (bisher) nicht in zulässiger Weise erhoben worden.

Die Überprüfung der Verfahrenstatsachen auf der Grundlage des zu Protokoll der Geschäftsstelle gegebenen Beschwerdevorbringens des Betroffenen ergibt zwar, dass der Betroffene einen Antrag auf Entbindung von der Teilnahme an der Hauptverhandlung vom 20. Oktober 2023 gestellt hat. Der Antrag soll am 13. Oktober 2023 beim Amtsgericht Geilenkirchen eingegangen sein.

Das Rügevorbringen ist indes schon deshalb unvollständig, weil die Erklärungen zur Niederschrift im Protokoll der Geschäftsstelle den Inhalt des Entbindungsantrages und den Inhalt des gerichtlichen Ablehnungsbeschlusses nicht ausreichend vollständig wiedergeben. Dem Beschwerdevorbringen lässt sich nur entnehmen, der Betroffene habe erklärt, er wolle sich in der Hauptverhandlung ,,zur Sache“ nicht einlassen. Im weiteren Verlauf der Beschwerdebegründung heißt es, der Betroffene habe bekundet, „sich in tatsächlicher Hinsicht“ nicht zu erklären. Auch soll die Formulierung ,.zum jetzigen Zeitpunkt“ verwendet worden sein. Der genaue Wortlaut erschließt sich indes nicht. Auch fehlt es an einer hinreichenden Wiedergabe der vom Betroffenen angegebenen Gründe, mit welchem er seinen Entpflichtungsantrag begründet hat. Eine hinreichende Darstellung des Inhalts des Ablehnungsbeschlusses des Amtsgerichts fehlt ebenfalls.

Ein Rückgriff auf die Ausführungen in dem vom Betroffenen persönlich gefertigten Schreiben vom 4. Dezember 2023 ist dem Senat verwehrt, da das Schreiben nicht den Formerfordernissen des § 345 Abs. 2 StPO entspricht.

2. Eine Verwerfung des Rechtsmittels des Betroffenen als unzulässig (§§ 349 Abs. 1 StPO, 80 Abs. 4 OWiG) kommt derzeit gleichwohl nicht in Betracht. Eine Entscheidung über den Zulassungsantrag kann derzeit noch nicht ergehen.

Denn schon nach Aktenlage erscheint es hinreichend glaubhaft im Sinne von §§ 44 Abs. 1 S. 1 StPO, 46 Abs. 1 OWiG, dass der Betroffene ohne eigenes Verschulden an der Einreichung einer formgerechten Antragsbegründungsschrift gehindert gewesen ist, weil die zuständige Rechtspflegerin davon abgesehen hat, eine vom Betroffenen gewünschte Darstellung des Verfahrensverlaufs zu protokollieren. Hierfür spricht die Aktenlage und insbesondere der Inhalt des Schreibens des Betroffenen vom 4. Dezember 2023. Der Senat geht deshalb davon aus, dass eine Protokollierung des genaueren Verfahrensgangs aus Gründen, die maßgeblich im Verantwortungsbereich der Justiz liegen, unterblieben ist.

Sind aber – wie hier – die Gründe für die (derzeitige) Unzulässigkeit eines Rechtsmittels in der Sphäre der Justiz entstanden, kann dem mit der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen gegen die Versäumung der Frist zur An-bringung einer (formgerechten) Rechtsmittelbegründung begegnet werden (BVerfG, NJW 2013, 446; BVerfG BeckRS 2006, 28183; Gericke in Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. 2023, § 345 Rdn. 26).

Die mithin grundsätzlich mögliche Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann allerdings – selbst wenn der Wiedereinsetzungsgrund in einer fehlerhaften Sachbehandlung durch die Justiz liegt – erst gewährt werden, wenn die versäumte Handlung (hier die formgerechte Rechtsmittelbegründung) nachgeholt worden ist (§ 45 Abs. 2 S. 2 u. S. 3 StPO, 46 Abs. 1 OWiG).

Hierauf ist der Betroffene hinzuweisen.

Ihm ist Gelegenheit zur formgerechten Begründung seines Rechtsmittels zu geben, wobei ihn die in § 45 StPO vorgesehene Wochenfrist mit Blick auf die Kenntniserlangung während des laufenden Rechtsmittelverfahrens, dass seine Rechtsmittelbegrün-dung aufgrund eines Verschuldens der Justiz in nicht zulässiger Weise erfolgt ist und was er nun zu unternehmen hat, unangemessen benachteiligen würde. Zu gewähren ist ihm daher – in Anlehnung an die Fristbestimmung in §§ 345 StPO, 80 Abs. 3 OWiG – eine Frist von einem Monat (vgl. SenE v. 07.12.2023 – 111-1 ORbs 359/23; SenE v. 19.09.2023 – 111-1 ORs 109/23; OLG Bamberg, Beschluss v. 25.10.2017 – 2 Ss OWi 1399/17 — juris).

Die hiernach für die Nachholung der Rechtsmittelbegründung maßgebliche Wiedereinsetzungsfrist von einem Monat beginnt mit der Zustellung des Beschlusses, mit dem der Betroffene über die Wiedereinsetzungsmöglichkeit belehrt wird (vgl. BVerfG NJW 2013, 446; BVerfG NStZ-RR 2005, 238; BVerfG, Beschluss v. 27.06.2006 – 2 BvR 1147/05, juris).

3. Der Betroffene erhält nach alledem Gelegenheit, binnen eines Monats nach Zustellung dieser Senatsentscheidung sein Rechtsmittel (erneut) zu begründen.

Er wird darauf hingewiesen, dass die Begründung nur in einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgen kann (§ 345 Abs. 2 StPO).

Zum Zweck der Entgegennahme einer evtl. weiteren Rechtsmittelbegründung sind die Akten an das Amtsgericht Geilenkirchen zurückzuleiten.

Vorsorglich wird auch darauf hingewiesen, dass eine von dem Betroffenen persönlich gefertigte Revisionsbegründungsschrift und von dem Rechtspfleger lediglich am Schluss des Protokolls mitunterzeichnete Rechtsbeschwerdebegründung nicht den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Protokollierung im Sinne von § 345 Abs. 2 StPO entspricht. Die wirksame Erklärung der Rechtsmittelbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle setzt voraus, dass der – hierfür zuständige – Rechtspfleger, der eine Prüfungs- und Belehrungspflicht innehat (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 345 Rdn. 21), an der Erklärung inhaltlich mitwirkt.“

Jetzt geht dann hoffentlich nichts mehr daneben 🙂 .

OWi II: OLG beanstandet wortreich Schuldspruch, oder: Aufhebung nur der Rechtsfolgen? – Brett vorm Kopf

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Und dann die zweite Entscheidung, der OLG Jena, Beschl. v. 04.04.2024 – 1 ORbs 191 SsBs 9/24, der mich (auch) ein wenig ratlos zurücklässt.

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße verurteilt und ein Fahrverbot von 1 Monat angeordnet. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die beim OLG – Einzelrichter – Erfolg hat. Genauer: „teilweise Erfolg hat“, denn das OLG hat „im Rechtsfolgeausspruch mit den zugehörigen Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.“

Zur Begründung bezieht es sich auf die Zuschrift der GStA, die es „einrückt“. In der heißt es:

„Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 30.01.2024 ebenfalls beantragt, das Urteil wegen sachlich-rechtlicher Mängel aufzuheben.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist begründet.

Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift ausgeführt:

„1. Das angegriffene Urteil leidet zum einen an einem durchgreifenden Darstellungsmangel, weil es die Einlassung des Betroffenen nicht wiedergibt. Zwar ergibt sich aus der Verfahrensvorschrift des § 267 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG nicht, dass das Gericht in jedem Fall verpflichtet ist, eine Beweiswürdigung im Urteil wiederzugeben, in der die Einlassung des Betroffenen mitgeteilt und diese Einlassung unter Bewertung der sonstigen Beweismittel gewürdigt wird.  Gänzlich entbehrlich ist die Wiedergabe und Auseinandersetzung mit der Einlassung grundsätzlich nur in seltenen Ausnahmefällen, die sachlich und rechtlich einfach gelagert und von geringer Bedeutung sind (Göhler, OWiG, 18. Aufl. (2021), § 71 Rn. 43 m.w.N.)

Anhand der Urteilsbegründung lässt sich nur erahnen, dass der Betroffene seine Fahrer-eigenschaft abgestritten hat. Dies folgt insbesondere aus den Ausführungen zu den Ein-schätzungen der Sachverständigen bzw. den Angaben zu einem Beweisantrag zur Einvernahme des Zeugen P. Das Urteil schweigt jedoch zu der Frage, ob der Betroffene seine Fahrereigenschaft qualifiziert oder lediglich pauschal bestritten hat. Angesichts dessen lässt sich durch das Rechtsbeschwerdegericht aber nicht beurteilen, ob der Bußgeldrichter eine (evtl.) Einlassung des Betroffenen zur Fahrereigenschaft unter Berücksichtigung der dazu ergangenen Ausführungen der Sachverständigen rechtlich zutreffend gewürdigt hat. Insbesondere bei der oftmals problematischen und daher die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich machenden Frage einer Fahreridentifizierung ist es regelmäßig für die Überprüfung der Beweiswürdigung unabdingbar mitzuteilen, ob und wenn ja, wie, sich der Betroffene eingelassen hat

Eine Wiedergabe bzw. Auseinandersetzung mit einer Einlassung des Betroffenen war schließlich schon deshalb nicht entbehrlich, weil der Betroffene wegen des Geschwindigkeitsverstoßes zu einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt worden ist.

2. Das angegriffene Urteil leidet hinsichtlich der Feststellung der Fahrereigenschaft auch in-soweit an einem weiteren Darstellungsmangel, als sich aus dem Urteil nicht in einer für das Rechtsbeschwerdegericht hinreichend rechtlich nachprüfbarer Weise ergibt, worauf das Amtsgericht seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen zur Tatzeit stützt.

Gründet die Überzeugung des Tatrichters von der Identität des Betroffenen zum Tatzeitpunkt auf einer Lichtbildidentifizierung der Person des Betroffenen, muss auf ein bei den Akten befindliches und nicht selbst oder als Kopie in das Urteil unmittelbar aufgenommenes Messfoto bzw. Frontfoto oder Radarfoto, soll es zum Bestandteil der Urteilsurkunde werden, deutlich und zweifelsfrei nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Bezug genommen werden, um so über die Dokumentation und Beschreibung der Art und Weise der Beweiserhebung hinaus unmissverständlich auch den Willen zur Verweisung bei Abfassung der Urteilsgründe zum Ausdruck zu bringen Notwendig und ausreichend ist vielmehr, dass der Wille zur Bezugnahme unter Berücksichtigung der Urteilsgründe in ihrer Gesamtheit eindeutig und bestimmt zum Ausdruck gebracht ist (BayObLG Beschl. v. 18.2.2021 —202 ObOWi 15/21, BeckRS 2021, 14749, Rn. 4 m.w.N.). Eine diesen Mindestanforderungen genügende Bezugnahme ist hier nicht erfolgt.

Das Tatgericht hat seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen aufgrund eines Bezugsbildes gestützt („Bild der Geschwindigkeitsmessung“), ohne freilich hier oder an anderer Stelle seines Urteils einen Hinweis auf die konkrete Fundstelle des erwähnten „Bezugsbildes“ bzw. das nach seiner Überzeugung den Betroffenen abbildende „Foto“ oder „Messfoto“ in den Gerichtsakten zu geben, wozu allerdings zumindest die Angabe einer bestimmten Blattzahl erforderlich, aber auch regelmäßig ausreichend gewesen wäre (BayObLG a.a.O. Rn. 6 m.w.N.). Das Amtsgericht hat damit auch unter Berücksichtigung der Urteilsgründe in ihrer Gesamtheit nicht in zureichender und wirksamer Weise, nämlich durch ausdrückliche und genaue Nennung der Fundstelle in den Akten -ggf. in Verbindung mit einer unmittelbar anschließenden zusätzlichen Beschreibung der als charakteristisch erachteten Merkmale der Physiognomie des Betroffenen – deutlich und zweifelsfrei erklärt, über die Beschreibung des Vorgangs der Beweiserhebung als solche hinaus auf ein bestimmtes Messfoto Bezug zu nehmen. Es hat deshalb das in den Gründen genannte Foto nicht wirksam zum Bestandteil der Gründe seines Urteils gemacht mit der Folge, dass es dem Senat wegen des Fehlens einer prozessordnungsgemäßen Bezugnahme verwehrt bleibt, die fragliche Abbildung aus eigener Anschauung zu würdigen und selbst zu beurteilen, ob diese als taugliche Grundlage einer Identifizierung in Betracht kommt.

Eine für den Fall der fehlenden Bezugnahme alternativ erforderliche Beschreibung des Frontfotos durch das Tatgericht fehlt zudem in Gänze.

Sieht der Tatrichter – wie hier – von der die Abfassung der Urteilsgründe erleichternden Verweisung auf das Beweisfoto ab, so genügt es weder, wenn er das Ergebnis seiner Überzeugungsbildung mitteilt, noch, wenn er die von ihm zur Identifizierung herangezogenen Merkmale auflistet. Vielmehr muss er dem Rechtsmittelgericht, dem das Foto dann nicht als Anschauungsobjekt zur Verfügung steht, durch eine entsprechend ausführliche Beschreibung die Prüfung ermöglichen, ob es für eine Identifizierung geeignet ist. In diesem Fall muss das Urteil Ausführungen zur Bildqualität (insbesondere zur Bildschärfe) enthalten und die abgebildete Person oder jedenfalls mehrere Identifizierungsmerkmale (in ihren charakteristischen Eigenarten) so präzise beschreiben, dass dem Rechtsmittelgericht anhand der Beschreibung in gleicher Weise wie bei Betrachtung des Fotos die Prüfung der Ergiebigkeit ermöglicht wird….

Bei der Beantwortung der Frage, ob nach diesen Grundsätzen die vom Tatgericht gegebene Beschreibung des Fahrers ausreichend ist, darf jedoch die sonstige Beweissituation nicht außer Betracht bleiben. Bestreitet der Betroffene mit näheren Ausführungen, der Fahrer gewesen zu sein, und benennt er etwa andere Personen, die als Fahrer in Betracht kommen, so kann eine eingehendere Darstellung der Beweiswürdigung – unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse einer erweiterten Beweisaufnahme geboten sein. Umgekehrt kann eine Gesamtwürdigung aller Umstände – der sich aus dem Foto ergebenden Anhaltspunkte sowie weiterer Indizien, etwa der Haltereigenschaft, der Fahrtstrecke oder -zeit – auch dann zur Überführung des Beschuldigten ausreichen, wenn der Vergleich des Fotos mit dem Betroffenen für sich allein diesen Schluss nicht rechtfertigt (so Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. Mai 2006 —1 Ss 106/06 —, juris, Rn. 23)“

Diesen Ausführungen schließt sich der Senat vollumfänglich an. Die Beweiswürdigung ist daher in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei ordnungsgemäßer Beweiswürdigung eine der Betroffenen günstigere Entscheidung ergangen wäre. Damit beruht das angegriffene Urteil auf den aufgezeigten Rechtsfehlern.

Auf die weitergehend erhobene Rügen der Verteidigung kommt es nicht an.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Stadtroda zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).“

Es ist ja schön, dass wir das alles noch einmal lesen dürfen, was das OLG da aus anderen abegschrieben hat. Nun ja, warum auch nicht, da die Frage ja schon zig-mal entschieden sind.

Nur, was neu ist und war ich nicht verstehe:  Warum wird nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben ist. Es ist doch nichts beschränkt und die Ausführungen des OLG beziehen sich allein auf den Schuldspruch. Der hätte doch aufgehoben werden müssen, zumal das OLG zu den Rechtsfolgen kein Wort verliert. Was übersehe ich? Wo und warum habe ich „ein Brett vorm Kopf“?

Ich habe dem Kollegen, der mir die Entscheidung geschickt hat, geraten, doch ganz schnell Berichtigung zu beantragen. 🙂

OWi I: Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot, oder: Hat das AG nicht erneut die Akte angesehen?

Smiley

Und dann ein wenig aus dem OWi-Bereich, aber nichts Besonderes, sondern „Main-Stream“. Alle drei Entscheidungen behandeln verfahrensrechtliche Fragen.

Ich starte mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28.03.2024 – 2 ORbs 350 SsBs 54/24.

Das AH hatte den Betroffenen am 20.12.2022 wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 500 EUR verurteilt. Auf die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte das OLG Karlsruhe das Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und zurückverwiesen.

Mit Urteil vom 12.09.2023 verhängte das AG gegen den Betroffenen dann wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße in Höhe von 200 EUR und ordnete zudem ein einmonatiges Fahrverbot nach Maßgabe des § 25 Abs. 2a StVG an. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Betroffene erneut mit der Rechtsbeschwerde, die – zum Teil – erfolgreich war. Das OLG hat das Fahrverbot entfallen lassen:

„1. Soweit das Amtsgericht gegen den Betroffenen ein Fahrverbot verhängt hat, hat es wie der Rechtsbeschwerdeführer und die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend darlegen – gegen das Verbot der Schlechterstellung gemäß § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 358 Abs. 2 S. 1 StPO verstoßen (vgl. OLG Bamberg, NStZ-RR 2015, 184; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.07.1993 – 3 Ss 99/93-, NZV 1993, 450). Das hat der Senat von Amts wegen zu beachten, weil es sich insoweit um ein Verfahrenshindernis handelt (vgl. BGH, StV 2014, 466). Der Umstand, dass das Amtsgericht die ursprüngliche Geldbuße von 500 Euro auf 200 Euro reduziert hat, ändert hieran nichts (OLG Bamberg, a.a.O.; OLG Hamm, Beschluss vom 02.07.2007 – 3 Ss Owi 360/07 -, NZV 2007, 635).

2. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird aus den von der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 24.01.2024 zutreffend genannten Gründen, auf die der Senat verweist, als unbegründet verworfen.

3. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die rechtsfehlerhafte Verhängung des Fahrverbots wegen der Wechselwirkung zwischen Geldbuße und Fahrverbot (dazu: BGH, Beschluss vom 11.11.1970 – 4 StR 66/70 – = BGHSt 24,11) auf die Bußgeldhöhe ausgewirkt hat, was sich hier bereits an der vom Amtsgericht vorgenommenen Reduzierung der ursprünglichen Bußgeldhöhe zeigt. Das Amtsgericht wäre auch im Falle einer Zurückverweisung der Sache nicht wegen des Verschlechterungsverbots gehindert, nunmehr eine die zuletzt verhängte Geldbuße von 200 Euro übersteigende Geldbuße festzusetzen. Denn im Hinblick darauf, dass das Fahrverbot die schwerwiegendere Sanktion darstellt, wäre insoweit die Verhängung einer höheren Geldbuße anstelle des Fahrverbots als milderes Mittel nicht unzulässig (BGH, a.a.O.; OLG Bamberg, a.a.O.).

Der Senat sieht aber auf den entsprechenden Antrag der Generalstaatsanwaltschaft hin aus prozessökonomischen Gründen und im Hinblick auf den Zeitablauf seit der Tat von einer (erneuten) Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache ab und macht von der ihm nach § 79 Abs. 6 OWiG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, in der Sache selbst zu entscheiden. Entgegen dem Wortlaut dieser Vorschrift kann er auch dann ohne vorherige Aufhebung des angefochtenen Urteils selbst entscheiden, wenn und soweit er – wie vorliegend – der angefochtenen Entscheidung im Übrigen folgt und die vom Amtsgericht getroffenen Feststellung für eine eigene Bewertung der Rechtsfolgen ausreichend sind (vgl. BayObLG, Beschluss vom 18.07.1997 – 2 ObOWi 352/97 -, BeckRS 1997, 7105; OLG Bamberg, a.a.O.). Da es sich bei der vom Amtsgericht verhängten Geldbuße von 200 Euro um die Regelgeldbuße gemäß Nr. 11.3.6 BKat handelt, sieht der Senat keinen Anlass, hiervon nach oben oder unten abzuweichen. Trotz der vorhandenen Voreintragungen im FAER erschien eine Erhöhung der Regelgeldbuße im Hinblick darauf, dass die Tat inzwischen mehr als 1 1/2 Jahre zurückliegt und der Betroffene seither nicht mehr in Erscheinung getreten ist, nicht mehr sachgerecht.“

Ich frage mich: Hat man beim AG die Akten nicht noch einmal gelesen? Kopfschüttel…..

StGB III: Gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr, oder: Feststellungen und Fahrlässigkeit

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Und dann noch der OLG Köln, Beschl. v. 04.04.2024 – 1 ORs 45/24, und zwar zum gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr.

Zum Tatgeschehen hat das AG Folgendes festgestellt:

„Die Betroffene befuhr am 06.05.2022 mit einem Pkw Audi R8 mit dem amtlichen Kennzeichen pp. unter anderem den Rheinparkweg in Köln. Sie befand sich mit ihrem Ehemann auf der Rückfahrt von einem Konzert vom Tanzbrunnen. Sie fuhr das Fahrzeug nicht oft. Bei der Ausfahrt aus dem dortigen Kreisverkehr auf den Auenweg gegen 23:33 Uhr beschleunigte die Angeklagte den Pkw zu stark. Nach 300 m brach das Heck des Fahrzeugs aus und die Angeklagte verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Pkw fuhr unkontrolliert über die Gegenspur und den Gehweg. Hinter dem Gehweg befand sich, abgetrennt durch einen Gitterzaun und Sträucher, das Gleisbett des [gemeint: der] Deutschen Bahn AG. Der Pkw durchbrach den Zaun und das Gebüsch und befand sich sodann auf dem Gelände der Deutschen Bahn AG, wobei er in den Schienenverkehr hineinragte. Nachdem die Zugstrecke durch die Polizei gesperrt worden war, näherte sich gleichwohl gegen 23:44 Uhr, als sich die Polizeibeamten und der Ehemann der Angeklagten dem Fahrzeug genähert und die Papiere aus dem Handschuhfach entnommen hatten, ein ICE auf den Gleiches [wohl gemeint: „Gleisen].“ Der Zugführer übersah den dort befindlichen Pkw und touchierte die Front des Pkw mit einer Geschwindigkeit von 35-40 km/h, wodurch diese erheblich beschädigt wurde. Am ICE entstand nur ein leichter Sachschaden. Der Zusammenstoß war von dem Zugführer gar nicht bemerkt worden.“

Verurteilt worden ist wegen Verstoßes gegen § 315 Abs. 1 Nr. 2 StG. Die Sprungrevision hatte Erfolg. Dem OLG genügen die Feststellungen des AG nicht:

„a) Zunächst bestehen allerdings keine Bedenken, soweit das Amtsgericht davon ausgegangen ist, dass die Angeklagte ein Hindernis im Sinne von § 315 Abs. 1 Nr. 2 StGB bereitet hat, indem sie infolge zu starker Beschleunigung die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren hat, welches daraufhin unkontrolliert über die Gegenspur und den Gehweg fuhr, einen Gitterzaun und das Gebüsch durchbrach und sich daraufhin auf dem Gelände der Deutschen Bahn AG befand, wo es in den Schienenverkehr hineinragte.

Unter einem Hindernisbereiten ist jede Einwirkung im Verkehrsraum zu verstehen, die geeignet ist, den reibungslosen Verkehrsablauf zu hemmen oder zu verzögern (BGH NStZ-RR 2020, 183 m.w.N.; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 9 m.w.N.). In Fällen, in denen ein Fahrzeug – wie hier – auf die Schienen gelangt, ist die Erfüllung dieses Tatbestandes besonders augenfällig (BGH NJW 1959, 1187).

b) Auch kann aufgrund der getroffenen Feststellungen davon ausgegangen werden, dass das Verhalten der Angeklagten zu einer Beeinträchtigung der Sicherheit des Schienenbahnverkehrs geführt hat.

Die Verkehrssicherheit ist beeinträchtigt, wenn die normale abstrakte Verkehrsgefahr gesteigert worden ist (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 13 m.w.N.). Dies ist in Anbetracht der erfolgten Kollision zwischen ICE und Pkw belegt.

c) Demgegenüber wird der Eintritt einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben anderer Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert im Urteil nicht tragfähig begründet.

Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (BGH NStZ 2022, 228; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 14). Ist ein Schaden tatsächlich eingetreten, kann die (zuvor konkret drohende) Gefahr nicht geringer, wohl aber größer gewesen sein (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 16b).

Das Amtsgericht begründet die Annahme einer konkreten Gefährdung mit der Erwägung, dass ein Zusammenstoß mit einem schienengeführten Verkehrsmittel (immer) die konkrete Gefahr des Entgleisens und dadurch entstehenden ungleich größeren Schäden beinhalte.

Nach obigen Maßgaben ist ein konkreter Gefahrerfolg hierdurch nicht belegt.

Zwar mag es naheliegen, dass im Falle einer Zugentgleisung erhebliche Gefahren für die Zuginsassen und für fremde Sachen von bedeutendem Wert drohen. Fahrgäste eines Zuges sind nicht angeschnallt. Nicht selten stehen sie oder bewegen sich in den Abteilen und Gängen, so dass im Falle einer Zugentgleisung Stürze und Verletzungen zu besorgen sind (vgl. OLG Oldenburg NStZ 2005, 387 zum Fall einer erzwungenen Notbremsung eines etwa 80 km/h schnell fahrenden Eisenbahnzuges).

Jedoch muss die Annahme eines Beinahe-Unfalls in der konkreten Tatsituation nachvollzogen werden können. Hierfür genügt es nicht, auf allgemeine Gefahren von Entgleisungen abzustellen. Vielmehr hätte dargelegt werden müssen, dass in der konkreten Tatsituation die konkrete Gefahr einer Entgleisung bestand, so dass es nur noch vom Zufall abhing, ob Rechtsgüter verletzt wurden. Insoweit hätte es einer Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Einzelfalles bedurft.

Dem Urteil lässt sich hierzu lediglich entnehmen, dass der ICE mit einer Geschwindigkeit von 35-40 km/h herangenaht war und der Lokführer den Pkw übersehen haben soll. Zudem wird mitgeteilt, der Pkw habe „in den Schienenverkehr hineingeragt“. Nicht dargestellt wird jedoch, wie weit der Pkw in den Schienenverkehr hineinragte, ob also das Fahrzeug beispielsweise nur wenige Zentimeter in das Gleisbett hineinragte oder ob es sich etwa mittig auf dem Schienenkörper befand. Ohne Kenntnis der genauen Einzelfallumstände ist der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht nachzuvollziehen.

Der Gefahrerfolg lässt sich auch nicht anhand der weiteren Urteilsbegründung ableiten: Ausweislich der Urteilsgründe hat es keine Personenschäden gegeben. Am ICE soll durch den Zusammenstoß „nur leichter Sachschaden“ entstanden sein. Zwar handelt es sich bei dem ICE zweifellos um eine fremde Sache von bedeutendem Wert. Die Höhe des am ICE entstandenen Sachschadens wird indes weder beziffert noch sonst in einer Weise beschrieben, dass der Senat davon auszugehen vermag, dass an dem ICE bedeutender Schaden entstanden ist. Dass einer fremden Sache von bedeutendem Wert nur ein unbedeutender Schaden droht, reicht für die Verwirklichung des Tatbestandes nicht (BGH NJW 1990, 194f.; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 16b).

Hinsichtlich des von der Angeklagten gefahrenen Fahrzeugs teilt das Amtsgericht mit, dass dessen Front durch den Zusammenstoß mit dem ICE „erheblich“ beschädigt worden sei. Unabhängig von der nicht einheitlich beantworteten Frage, ob das von dem Täter selbst geführte Fahrzeug im Rahmen von § 315 Abs. 1 StGB überhaupt taugliches Gefährdungsobjekt sein kann (vgl. hierzu näher Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 16; Pegel in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. § 315 Rdn. 70 ff.), teilt das angefochtene Urteil nicht mit, in wessen Eigentum der Pkw stand, so dass jedenfalls schon nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Angeklagte selbst Eigentümerin des Fahrzeugs, mithin das Fahrzeug nicht „fremd“ ist.

2. Auch die Feststellungen zur Fahrlässigkeit sind lückenhaft. Hierauf weist die Verteidigung zu Recht hin.

a) Anhand der Urteilsgründe kann zunächst allerdings nachvollzogen werden, dass die Angeklagte objektiv sorgfaltswidrig handelte, indem sie den von ihr gefahrenen Pkw, den sie nicht oft fuhr, nach der Ausfahrt aus dem Kreisverkehr „zu stark“ beschleunigte, so dass sie über diesen die Kontrolle verlor und das Fahrzeug unkontrolliert über die Gegenfahrbahn und den Gehweg bis in das Gleisbett schleuderte. Nach § 3 Abs. 1 S. 1 StVO darf derjenige, der ein Fahrzeug im Straßenverkehr führt, nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Nach § 3 Abs. 1 S. 2 StVO ist die Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Hiergegen hat die Angeklagte ersichtlich verstoßen.

b) Nicht hinreichend belegt wird jedoch, dass der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges für die Angeklagte – als mit den Örtlichkeiten nicht vertraute Fahrerin – zur Tatzeit vorhersehbar gewesen ist.

Ein (objektiv) fahrlässiges Verhalten verlangt, dass der wesentliche Kausalverlauf und der eingetretene Erfolg nicht so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung liegen dürfen, dass vernünftigerweise nicht damit gerechnet werden brauchte (BGHSt 12, 75). Dabei müssen nicht alle Einzelheiten des Geschehensablaufs prognostiziert werden können; es genügt, dass der Erfolg im Endergebnis voraussehbar gewesen ist (OLG Nürnberg NStZ-RR 2006, 248).

Das Amtsgericht trifft zu dieser Frage keine ausreichenden Feststellungen.

Es beschränkt sich auf die allgemeine Erwägung, in einer Großstadt müsse stets damit gerechnet werden, dass hinter einem Zaun auch Schienen verlaufen können.

Dem vermag der Senat – in dieser Allgemeinheit – nicht zu folgen.

Die Generalstaatsanwaltschaft führt in ihrer Vorlageverfügung zutreffend aus, dass darzulegen gewesen wäre, warum die mit den Örtlichkeiten nicht vertraute Angeklagte zur Tatzeit damit hätte rechnen müssen, bei pflichtwidriger Beschleunigung und Kontrollverlust über das schleudernde Fahrzeug in das Gleisbett der Deutschen Bahn zu gelangen und dort ein Hindernis für den Bahnverkehr zu bereiten. Hierfür hätte es näherer Feststellungen zu den örtlichen Gegebenheiten, der Lichtverhältnisse und der Erkennbarkeit der Bahnstrecke bedurft. Ohne eine nähere Beschreibung der Tatörtlichkeit und einer Auseinandersetzung mit der Frage, was für einen Autofahrer, der die Örtlichkeiten nicht kennt, in der konkreten Tatsituation vorhersehbar gewesen ist, vermag der Senat nicht nachzuprüfen, ob das Geschehen möglicherweise so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung lag, dass ein mit den Örtlichkeiten nicht vertrauter Autofahrer vernünftigerweise nicht damit hatte rechnen müssen…..“

StGB II: Richterbeleidigung durch Freislervergleich?, oder: Meinungsfreiheit?

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Im zweiten Beitrag geht es um einen Beschluss des AG Brühl. Das hat die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen einen Rechtsanwalt abgelehnt, Der war wegen Beleidigung eines Richters (§ 185 StGB) angeklagt. Es hat in einem zivilrechtlichen Verfahren Streit um die Höhe des Streitwertes gegeben.

Der Richter hatte den Streitwert heruntergesetzt. Darauf hatte der Rechtsanwalt mit einem Schriftsatz reagiert, in dem es hieß – so die Anklage:

„Der Angeschuldigte übersandte am 28.04.2023 per beA einen Schriftsatz an das Landgericht pp., Az: pp..

In diesem Schriftsatz führte er auf der ersten Seite aus:

„Wahrscheinlich hat Herr pp. auch seine netten Seiten, und nur Schwierigkeiten damit, sie zu zeigen, da aus dem kollektiven Unbewusstsein der deutschen Richterschaft hier und da „dunkle Momente“ in ihm durchbrechen, eine Art „Schatten“:

Auf der Folgeseite platzierte der Angeschuldigte zwei Schwarz-Weiß-Photos des Präsidenten des NS-Volksgerichtshofs, Roland Freisler, sitzend, in Richterrobe, neben denen er zwei Textfelder wie Sprechblasen positionierte.

lm ersten Textfeld schrieb er

„Es gibt hier immer wieder sog. Anwälte, die meinen, sich mit dem RVG wegen PKH an der deutschen Staatskasse bereichern zu können.“

lm zweiten Textfeld schrieb er

„Die Schlange des Bolschewismus lauert überall.

Meine Ermittlungen haben ergeben, was sich hinter RVG und PKH tatsächlich verbirgt:

RechtsVerhinderungsGesinnung und

ProzessKommunismusHeuchelei.

Das internationale Finanzanwaltstum sabotiert darüber lediglich die Rechtsfindung.“

Auf der dritten und letzten Seite seines Schriftsatzes warum wiederum zwei Lichtbilder platziert.

Bei dem ersten Lichtbild ist der vorgenannte Freisler in Uniform stehen offensichtlich bei einer Tischrede zu sehen. ln dem neben seinem Kopf befindlichen Textfeld schrieb der Angeschuldigte

„Daher frage ich euch:

Wollt ihr den totalen Rechtsstaat? Wollt ihr ihn, wenn notwendig, totaler und radikaler, als ihr ihn euch heute auch nur vorstellen könnt? Seid ihr für die Abschaffung von RVG und PKH?“

Neben die Köpfe der weiteren auf dem Bild sichtbaren Personen platzierte der An geschuldigte als Denkblasen erkenntliche Textfelder.

ln dem einen schrieb er

„Nehmt ihnen alles. Lasst den Anwälten nur noch hineinweinen können.“

ln einem weiteren schrieb er:

„Anwälte… Volksschädlinge“

und direkt daneben in einem weiteren ein Taschentuch, in das sie

„Ja.Ja.“

Auf dem zweiten Lichtbild ist wiederum der vorgenannte Freisler in Richterrobe sitzend zu sehen.

Über seinem Kopf befindet sich eine Denkblase mit dem Text

„Wenn man ihnen nicht mehr als 800kcal/d gibt, verschwindet das Anwaltsproblem von alleine.“

Rechts vom Kopf des Freisler befindet sich ein weiteres Textfeld mit dem lnhalt

„Streitwert?

Nicht mehr als 6.000 €. Alles andere erschiene völlig willkürlich.“

Die letzte Seite des Schriftsatzes ist rechts unten mit Name und Berufsbezeichnung des Angeschuldigten versehen.“

Der Angeschuldigte beabsichtigte mit diesem Schriftsatz, den Zeugen pp., der als Vorsitzender Richter am Landgericht pp. mit dem unter dem o.g. Aktenzeichen geführten Rechtsstreit befasst war, durch den Vergleich mit dem als lnbegriff des nationalsozialistischen „Blutrichters“ geltenden Freisler in dem ihm zustehenden Ehranspruch herabzusetzen.

Vergehen der Beleidigung nach §§ 185, 194 StGB

Das AG hat im AG Brühl, Beschl. v. 27.02.2024 – 51 Ds-74 Js 273/23-280/23 – die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt:

„Nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens erscheint der Angeschuldigte einer Straftat nicht hinreichend verdächtig. Hinreichender Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO ist zu bejahen, wenn bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses die Verurteilung in einer Hauptverhandlung wahrscheinlich ist.

Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die sich aus der Anklageschrift vom 20.10.2023 ergebenen Äußerungen des Angeschuldigten, die er auch nach eigener Einlassung im Rahmen eines zivilgerichtlichen Verfahrens schriftsätzlich vor dem pp. getätigt hat, erfüllen nicht den Straftatbestand des § 185 StGB, da diese nach § 193 StGB noch gerechtfertigt sind.

Die gegenständlichen Äußerungen fallen in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit. Sie sind durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und des Meinens geprägt und deshalb als Werturteil anzusehen. Die polemische oder verletzende Formulierung einer Äußerung entzieht diese grundsätzlich nicht dem Schutzbereich des Grundrechts (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 1995 — 1 BvR 1476/91 —, BVerfGE 93, 266-319).

Art. 5 Abs. 2 GG gewährt das Grundrecht der freien Meinungsäußerung nur in den Schranken der allgemeinen Gesetze, zu denen auch die Vorschrift des § 185 StGB gehört. Steht ein Äußerungsdelikt in Frage, so ist daher grundsätzlich eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht, vorzunehmen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14. Juni 2019 —1 BvR 2433/17 —, Rn. 17, juris). Das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, gehört zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, weshalb deren Gewicht insofern besonders hoch zu veranschlagen ist (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 1995 — 1 BvR 1476/91. —, BVerfGE 93, 266-319). Dies gilt insbesondere auch für die Kritik an richterlichen Entscheidungen. Im Rahmen einer Gesamtabwägung muss berücksichtigt werden, dass ein Richter schon von Berufs wegen in der Lage und auch gehalten ist, überpointierte Kritik an seiner Arbeit beim „Kampf um das Recht“ auszuhalten (so auch OLG München, Beschluss vom 31. Mai 2017 — 5 OLG 13 Ss 81/17 —, Rn. 12, juris).

Eine Abwägung findet nur dann nicht statt, wenn die herabsetzende Äußerung eine Formalbeleidigung oder Schmähung darstellt. Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen. Merkmal der Schmähung ist die das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängende persönliche Kränkung. Von ihr ist lediglich dann auszugehen, wenn sich der ehrbeeinträchtigende Gehalt der Äußerung von vorneherein außerhalb jedes in einer Sachauseinandersetzung wurzelnden Verwendungskontextes bewegt (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14. Juni 2019 —1 BvR 2433/17 —, Rn. 18, juris).

Von einer reinen Schmähkritik ist bei Anlegung dieser Maßstäbe für den Streitfall nicht auszugehen. Die gegenüber dem Vorsitzenden Richter am Landgericht pp. getätigten Äußerungen stehen thematisch in Zusammenhang mit einem (vorläufigen) Streitwertbeschluss der Kammer vom 27.01.2023, der wiederum im zeitlichen Zusammenhang mit einer Kostenfestsetzung für die PKH-Vergütung stand. Die bildliche Darstellung samt textlicher Begleitung setzt sich thematisch in polemischer und überspitzter Weise mit der rechtsanwaltlichen Vergütung im Rahmen von gerichtlichen Prozessen, insbesondere in Zusammenhang mit Prozesskostenhilfe auseinander, wobei Bezug zu nationalsozialistischem Gedankengut hergestellt wird.

Sodann nimmt der Angeschuldigte auf Seite 3 des streitgegenständlichen Schriftsatzes Bezug auf die konkrete Streitwertentscheidung. Es erfolgt also eine Auseinandersetzung mit der Sache, sodass die Diffamierung der Person nicht im Vordergrund steht. Die Äußerungen und bildlichen Darstellungen entbehren insofern nicht jedwedem sachlichen Bezug.

Im Rahmen der Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und der persönlichen Ehre sind die Äußerungen und bildlichen Darstellungen noch gemäß § 193 StGB gerechtfertigt.

Der Angeschuldigte vergleicht die Streitwertentscheidung der Kammer, wobei er seine „Kritik“ an der nach seiner Meinung niedrigem Streitwertfestsetzung hauptsächlich gegenüber dem Vorsitzenden äußert, mit dem Vorgehen von Roland Freisler während der NS-Zeit. Dabei lässt die gesamte Darstellung jedoch nicht ohne Weiteres den Schluss zu, der Angeschuldigte unterstelle dem Richter eine nationalsozialistische Gesinnung.. Im Vordergrund steht der Vorwurf der vermeintlichen Fehlerhaftigkeit und Willkür der gerichtlichen Entscheidung, dem durch den Vergleich mit der Person Freislers in seiner Funktion als Richter während der nationalsozialistischen Willkürherrschaft, Ausdruck verliehen werden sollte.

Die Darstellung als Comic lässt den Schluss zu, dass wie es der Angeschuldigte behauptet, eine satirische Auseinandersetzung mit der gerichtlichen Streitwertentwicklung im gesamten Verfahren, erfolgen sollte.

Die Äußerungen des Angeschuldigten erfolgten im Rahmen eines noch nicht abgeschlossenen Verfahrens, dem ein selbstständiges Beweisverfahren vorausging, bereits einige Jahre andauerte und das Thema Streitwert und die Vergütungsfestsetzung schon mehrfach Streitpunkt war. Die Entscheidung über den Streitwert betrifft den Rechtsanwalt außerdem jedenfalls mittelbar persönlich im Rahmen der Vergütung, was für diesen gerade in langjährigen Verfahren von Bedeutung ist.

Die streitgegenständlichen Darstellungen erfolgten außerdem ausschließlich schriftlich im Rahmen des zivilgerichtlichen Verfahrens, ohne dass sie anderen, nicht am Verfahren beteiligten Personen zur Kenntnis gelangen konnten.

Der Schutz der persönlichen Ehre tritt daher in diesem Fall aufgrund der Umstände nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen noch hinter der Meinungsfreiheit zurück.“

Mal unabhängig von der Frage, ob das nun wirklich noch von der Rechtsprechung des BVerfG und der OLG gedeckt ist: Ich habe den Kollegen, der mir den Beschluss geschickt hat, gefragt, was man eigentlich mit solchen Schriftsätzen erreicht? M.E. nichts. Und bei allem Verständnis über die Verärgerung über das richterliche Vorgehen, ich würde es lassen. Es bringt nichts – schon gar nicht für den Mandanten und für einen selbst nur Ärger und kostet Nerven. Der Kollege hat es anders gesehen. Nun ja, das ist sein gutes Recht.

Ich bin gespannt, ob die Angelegenheit mit der Nichteröffnung erledigt ist. Wahrscheinlich nicht.