OWi-Verfahren II: Verwerfungsurteil? oder: Wenn der Amtsrichter sich nicht aus dem Sessel erhebt und beim Arzt anruft

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Über den OLG Hamm, Beschl. v. 08.08.2017 – 3 RBs 108/17 –  habe ich wegen der Zustellungsproblematik ja schon berichtet (vgl. hier: Zustellung/Heilung, oder: Wir beten alles gesund, quasi: „Von hinten durch die Brust ins Auge“..). Ich greife den Beschluss jetzt noch einmal auf wegen der vom OLG auch entschiedenen Frage zur Verwerfung des Einspruchs des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG wegen des (unentschuldigten) Ausbleibens des Betroffenen. Der war in der Hauptverhandlung nicht erschienen. Zur Entschuldigung hatte er ein Attest vorgelegt. Dessen Inhalt hatte dem AG nicht gereicht. Dem OLG reicht das Vorgehen/Verhalten des AG nicht:

„b) Die Verfahrensrüge ist auch begründet, denn die Einspruchsverwerfung gem. § 74 Abs. 2 OWiG im Hauptverhandlungstermin vom 30. Januar 2017 war rechtsfehlerhaft. Zwar hat das Amtsgericht das Entschuldigungsvorbringen des Betroffenen zur Kenntnis genommen und sich in dem Verwerfungsurteil mit dem vorgebrachten Entschuldigungsgrund auseinandergesetzt. Dabei hat das Amtsgericht jedoch zu hohe Anforderungen an den Begriff der genügenden Entschuldigung gestellt, denn tatsächlich war der Betroffene ausreichend entschuldigt. Der Verteidiger des Betroffenen hat vor dem Hauptverhandlungstermin ein fachärztliches Attest vom 30. Januar 2017 vorgelegt, das dem Betroffenen aufgrund einer orthopädischen Erkrankung die Fähigkeit, den Termin wahrzunehmen, abspricht, und um Verlegung des Termins gebeten. Das Attest bildet grundsätzlich eine genügende Entschuldigung, auch wenn in ihm keine genaue Diagnose angegeben ist und Angaben zu Dauer und Schweregrad der Erkrankung fehlen. Sollte das Amtsgericht aufgrund der fehlenden näheren Angaben im Attest Zweifel am Krankheitszustand des Betroffenen gehabt haben, wäre es verpflichtet gewesen, sich durch telefonische Nachfrage die volle Überzeugung davon zu verschaffen, ob der Betroffene verhandlungsunfähig ist bzw. ob ihm ein Erscheinen in der Hauptverhandlung zumutbar war. Aus dem vorgelegten Attest ergab sich auch die konkrete Möglichkeit, eine erfolgversprechende Abklärung bei den behandelnden Ärzten durchzuführen. Eine solche zumutbare und mögliche Nachfrage hätte nach dem Inhalt der Begründungsschrift zu dem Ergebnis geführt, dass der Betroffene einen sog. Hexenschuss erlitten hatte, der ihm sein Erscheinen im Hauptverhandlungstermin unmöglich machte (OLG Stuttgart, 4. Dezember 1995 – 1 Ss 572/95, juris). Die bestehenden Zweifel an der genügenden Entschuldigung durfte das Amtsgericht nicht zu Lasten des Betroffenen übergehen (Senat, Beschluss vom 6. Juli 2004 – 3 Ss OWi 401/04, juris; Beschluss vom 1. März 2012 – III?3 RBs 55/12; Beschluss vom 16. Juni 2016 – III-3 RBs 203/16; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Februar 2006 – 1 Ss Owi 621/05, juris; Göhler-Seitz, OWiG, 16. Aufl., § 74, Rdnr. 29 m.w.N.).“

Also: Aus dem Sessel erheben und beim Arzt anrufen. Ist ja auch nicht zu viel verlangt, oder?

13 Gedanken zu „OWi-Verfahren II: Verwerfungsurteil? oder: Wenn der Amtsrichter sich nicht aus dem Sessel erhebt und beim Arzt anruft

  1. Ich

    Einerseits gut, daß es solche (OLG)Entscheidungen gibt.
    Andererseits äußerst bedauerlich (oder sogar ärgerlich), daß solche Entscheidungen immer wieder erforderlich sind…

  2. Moneypenny

    War aber auch viel Pech hier: Da geht ausgerechnet der an den Verteidiger geschickte Bußgeldbescheid auf Nimmerwiedersehen verloren, dann bekommt der Verteidiger eine Akte zur Einsicht, aus der irgendjemand exakt die Verfügung zum Bußgeldbescheid und dessen Kopie vorher herausgenommen und gleich danach wieder hineingelegt hat, und dann kriegt der Betroffene exakt am Terminstag einen „Hexenschuss“, wie er, weil praktisch nicht objektiv diagnostizierbar, von Blaumachern gerne genommen wird, um mal auf die Schnelle eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu bekommen.

    Oder es war kein Pech, und der Verteidiger ist einfach ein das Ansehen seines Berufsstandes besudelnder Gewohnheitslügner. Ich vermute mal, der Senat geht im Stillen von Letzterem aus, und hat sich deshalb bei der Zustellung so viel Mühe gegeben („… von hinten durch die Brust ins Auge“) – so erklärt sich dann eben manches.

  3. Briag

    Herr Burhoff, was soll eigentlich immer die Polemik gegenüber Richtern? Sie wissen selbst zu gut, dass der Bußgeldrichter im Zweifel nicht den ganzen Tag im „Sessel“ sitzt (über die Ausstattung von richterlichen Dienstzimmern sind Sie sicher auch bestens informiert), sondern im Zweifel neben dieser noch neun bis vierzehn andere Bußgeldverhandlungen auf der Rolle hatte, in denen möglicherweise der eine oder andere Verteidiger – wie üblich – umfangreiche Beweisanträge leider erst zum Termin mitbringen konnte oder aber die Polizisten zum fünften Mal befragt werden musste, ob man vom für die gezielte Rotlichtüberwachung gewählten Standort die Ampel auch wirklich sehen konnte (Natürlich nebst Beweisantrag auf einen Ortstermin).

    Möglicherweise fehlte dem Kollegen schlicht die Zeit, beim Arzt anzurufen. Möglicherweise hat er es auch versucht und schlicht nicht vermerkt, niemanden erreicht zu haben. Sie wissen es nicht, ich weiß es auch nicht. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Dass der Amtsrichter nicht den ganzen Verhandlungstag lang in seinem „Sessel“ gesessen und sich bei Eingang des Attests gedacht hat, dass der Griff zum Hörer nun wirklich zu viel Aufwand erfordere.

  4. Ein Anwaltskollege

    Ich kann dem Poster Briag nur zustimmen. Auf dessen durchaus berechtigte Kritik am Unterton des Artikels reagieren Sie dünnhäutig. Sie teilen kräftig aus, aber mit dem Einstecken hapert es deutlich.

    So fachlich wertvoll Ihre Beiträge sein können, wird das Niveau der Seite durch Ihr permanentes Richterbashing erheblich gesenkt.

    Ihr Verhalten ist vor allem vor dem Hintergrund erstaunlich, dass Sie selbst einmal Richter waren.

    Lassen Sie Ihren offenbar immer noch vorhandenen Frust gegenüber dem seinerzeitigen Personaldezernenten des OLG Hamm nicht an unbeteiligten, überarbeiteten Amtsrichtern aus.

  5. Detlef Burhoff Beitragsautor

    Dazu nur so viel:
    1. Wo ist es bitte dünnhäutig,m wenn ich dem Kommentator Briag auf das, was er offenabr alles von dem Amtsrichter weiß, so antworte? Auf seine Kritik an meinem „Unterton“ bin ich gar nicht eingegangen.
    2. Und das tue ich auch jetzt nur mit dem Hinweis: Ich war und bin nicht gefrustet. Warum sollte ich?
    3. Was mich ärgert, sind solche Entscheidungen, die man nicht immer nur mit „Überlastung“ entschuldigen kann.
    4. Und: Mich ärgert auch das anonyme Kommentieren. Aber das ist ja leider üblich.

  6. Elmar der Anwalt

    Zur Ehrenrettung der Juristenkollegen an der Kopfseite des Saales möchte ich an dieser Stelle anführen, dass auch im Falle eines Telefonats die Sache nicht immer besser wird: Ein Mandant von mir liess sich für alle überraschend durch ein ärztliches Attest zu einem Gerichtstermin entschuldigen. Der Richter rief beim Arzt an un der erzählte brühwarm die ganze Krankengeschichte des Mandanten -die das Gericht dann im Ergebnis auch nicht überzeugte.
    Das hat mir als Verteidiger überhaupt nicht gefallen – und eine übergeordnete Instanz gab´s auch nicht, da der Arzt dem Gericht gegenüber zudem noch einräumte, dass er dem Mandanten mit diesem Attest einen Gefallen tun wollte.

    Fazit:
    1) Manche Richter fragen mehr und gründlicher als es einem lieb ist, so dass sich Pauschalisierungen verbieten,

    2) Trotz des irreführenden Namens kann man es Rechtsanwälten nie Recht machen. Wenn der Richter nicht telefoniert, dann nörgeln sie, wenn er telefoniert nörgeln sie auch.

    3) Die Vorstellungen des Hausarztes meines Mandanten vom Begriff der ärztlichen Schweigepflicht wichen ganz erheblich von meinen Vorstellungen ab.

  7. Hans-Jürgen Walfort

    Hans-Jürgen Walfort
    Sehr geehrter Herr Burhoff, ich bin kein Jurist.
    Sie haben völlig recht, wenn Sie das anonyme Kommentieren beanstanden.
    Ebenso finde ich es gut, wenn Sie Beleidigungen oder ähnliches in den Kommentierungen beanstanden. Soweit der anonyme „Ein Anwaltskollege“ ausführt, „Lassen Sie Ihren offenbar immer noch vorhandenen Frust gegenüber dem seinerzeitigen Personaldezernenten des OLG Hamm nicht an unbeteiligten, überarbeiteten Amtsrichtern aus“ ist das aus meiner Sicht unqualifiziert und verletzend.
    Ich halte Ihre Beiträge nicht nur für fachlich wertvoll, sondern bewundere Ihren Mut, Entscheidungen öffentlich zu kommentieren. Ich selbst habe einen Strafbefehl erhalten, der vom Richter nicht bzw. nicht ordnungsgemäß unterschrieben ist. Wenn der Anwaltskollege meint, Richter sind überlastet, dann kann es ja nicht so sein, dass der „überlastete“ Richter seinen Frust an dem Bürger auslässt, der lediglich seine Rechte wahrnehmen will. Leider konnte mir bisher keiner sagen, noch nicht einmal Anwälte, welches Rechtsmittel es gegen ein nicht unterschriebenen Strafbefehl gibt und bei welchem Gericht dieses einzulegen ist. Ein Antrag auf Auskunft beim AG und OLG wurde bislang nicht bearbeit und auf meine Rüge wurde dies jetzt an das Justizministerium weitergeleitet.
    Entscheidet neuerdings das Justizministerium über eingelegte Rechtsmittel?
    Ich wäre dankbar, wenn mir hier jemand sagen könnte, welches Rechtsmittel es gegen einen nicht unterschriebenen Strafbefehl gibt und bei welchem Gericht dieses einzulegen ist.
    Machen Sie bitte weiter so, Herr Burhoff.
    Mit freundlichem Gruß
    Hans-Jürgen Walfort

  8. Hans-Jürgen Walfort

    Hans-Jürgen Walfort
    Damit es nicht zu Missverständnissen kommt, stelle ich folgendes klar:
    Ich meine hier nicht den Strafbefehl, der mir übersandt wurde. Sondern den „Original“-Strafbefehl in der Gerichtsakte. Ich hatte Akteneinsicht beantragt (147 Abs. 4 StPO), die mir selbst bis heute nach über einem Jahr nicht gewährt wurde. Erst als ein Rechtsanwalt, Akteneinsicht beantragt hat, wurden diesem die Originalakte übersandt. In dieser Akte befindet sich der Original-Strafbefehl. Da ein Fahrverbot von 4 Monaten und eine Geldstrafe von 3.200,00 € verhängt wurde, wäre ich für jede Hilfe dankbar.

  9. Hans-Jürgen Walfort

    Hans-Jürgen Walfort
    Und noch eine Nachfrage:
    Angenommen, es trifft zu, dass der Strafbefehl nicht oder nicht ordnungsgemäß unterschrieben ist, und damit sowas ähnliches ist wie ein Schein-Urteil bzw. ein Schein-Beschluss, wie kann dann daraus vollstreckt werden und wie kann man dann gegen nach meiner Auffassung unzulässige Vollstreckung vorgehen?

  10. Detlef Burhoff Beitragsautor

    @ Hans-Jürgen Walfort: Ich bitte um Nachsicht, aber: ich beantworte keine Fragen bzw. machen keine Beratung über das Blog. Ich kann Ihnen nur empfehlen, einen Verteidiger aufzusuchen.

  11. Hans-Jürgen Walfort

    Hans-Jürgen Walfort
    Genau das habe ich wie bereits geschrieben gemacht. Eine kostenfreie Beratung kann aber laut den Anwälten nicht gemacht werden. Da ich Empfänger von Leistungen nach dem SGB XII bin, kann ich einen Anwalt nicht bezahlen. Beratungshilfe gibt es auch nicht, weil Verfahren bereits angängig. Antrag auf PKH und Beiordnung habe ich gestellt. Wurde bislang nicht bearbeitet und zuständigskeitshalber vom OLG an AG weitergeleitet. Staatsanwaltschaft reagiert auch nicht.
    Ich kann ja verstehen, dass Sie keine Beratung machen können oder nicht beraten dürfen.
    Mir geht es hier auch darum, mein Anliegen hier zu veröffentlichen, damit auch andere mal mitbekommen, was so abläuft und welcher Frust damit verbunden ist.
    Sie Können Sich ja mal die Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen vom 27.11.2020, L 7 AS 268/19 B ansehen. Diese werden Sie aber im Internet nicht finden, weil das LSG diese nicht veröffentlicht. Da kann man dann sehen, was so alles schief läuft.
    Hinsichtlich der Auskunftspflicht eines Gerichtes verweise ich auf die Entscheidung des BGH vom 21.10.2010, IX ZB 164/09 Rn. 12 ff. hin. Dort zitiert der BGH die Entscheidung des BVerfGE 93,99, 109 = BVerfG vom 20.06.1995, 1 BvR 166/93. Interessant ist dort die abweichende Meinung des Richters Kühling, Rn. 51ff., der u.a. unter Rn. 57 ausführt: „Daß die Amtsgerichte von Verfassungs wegen regelmäßig verpflichtet sind, Auskünfte über Rechtsmittelmöglichkeiten zu erteilen, wird sie überraschen.“
    Vielleicht lesen ja noch andere, was ich hier geschrieben habe.

    Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Antwort und hoffe, dass Sie auch diesen Beitrag von mir veröffentlichen.
    Mit freundlichem Gruß
    Hans-Jürgen Walfort

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