Reißverschlussverfahren II: Auffahren auf die BAB, oder: Stop-and-Go vs. Reißverschlussverfahren

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Urheber Rabensteiner

Die zweite Entscheidung (zur ersten siehe hier Reißverschlussverfahren I: Spurwechsel, oder: Es gilt der Anscheinsbeweis zum OLG München, Urt. v. 21.04.2017 – 10 U 4565/16), die sich mit dem Reißverschlussverfahren beschäftigt, ist das AG Essen, Urt. v. 20.03.2017 – 14 C 188/16, über das ja auch schon der Kollege Gratz in seinem Blog berichtet hat.

In ihm geht es um die grundsätzliche Frage, ob das Reißverschlussverfahren beim Auffahren auf die Autobahn gilt. Das AG Essen hat das verneint, und zwar auch für den sog. Stop-and-Go-Verkehr. Es ging um einen Auffahrunfall, dessen konkreter Hergang streitig war. Das AG kommt zu folgender Einschätzung:

Der Klägerin steht gegen die Beklagten aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfallgeschehens kein Schadensersatzanspruch aus §§ 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs.1 Nr.1 VVG zu.

Der streitgegenständliche Unfall stellte sich für keinen der Unfallbeteiligten als höhere Gewalt oder als nachweislich unabwendbares Ereignis dar, so dass sich der Umfang der Haftung danach richtet, inwieweit der Unfall vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (§ 17 StVG).

Die vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge führt vorliegend dazu, dass die Klägerin den Unfall allein schuldhaft verursacht hat.

Der jeweilige Verursachungsbeitrag wird gebildet aus der Summe der Gefahren, die in der konkreten Unfallsituation von den beteiligten Kraftfahrzeugen ausgegangen sind, und die sich auf die Herbeiführung des Unfalls und die entstandenen Schäden ausgewirkt haben. Solche Gefahren ergeben sich zum einen aus der Beschaffenheit der beteiligten Fahrzeuge, den von ihnen gefahrenen Geschwindigkeiten, den zum Zeitpunkt des Unfalls durchgeführten Fahrmanövern sowie dem konkreten Fahrverhalten und dabei insbesondere aus etwaigen Fahrfehlern oder Verkehrsverstoßen. Dabei sind nur solche Umstände zu berücksichtigen, die unstreitig oder beweisen sind, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises Anwendung finden.

Für Verschuldensvermutungen ist hierbei kein Raum. Daraus folgt nach allgemeinen Beweisgrundsätzen, das im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der eine Halter die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen zum Verschulden gereichen.

Auf Seiten der Klägerin ist im Rahmen dieser Abwägung zunächst die Betriebsgefahr in die Abwägung einzustellen.

Hinzu kommt, dass die Klägerin auf die Autobahn aufgefahren ist und dabei gegen § 18 Abs. 3 StVO verstoßen hat. Hierfür streitet schon der Beweis des ersten Anscheins.

Ein auf eine Autobahn einfahrender Verkehrsteilnehmer hat gemäß § 18 Absatz 3 StVO dem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt zu gewähren. Er muss dazu den Verkehr auf der Autobahn beobachten und trägt das volle Risiko, wenn dieser auf seinen Vorrang vertraut. Kommt es in unmittelbarem räumlichen Zusammenhang mit einer Vorfahrtsverletzung zu einem Unfall, hat der Wartepflichtige den Anschein schuldhafter Vorfahrtsverletzung gegen sich (vgl. nur Hentschel/ 41.Aufl. 2011 (König, aaO, StVO § 8 Rdnr. 68, 69).

Dabei ist § 18 Abs. 3 StVO nicht auf das Einfädeln bei fließendem Verkehr auf der Autobahn beschränkt. Auch bei zähfließendem Verkehr oder Stop-and-go-Verkehr – wie hier – gilt beim Einfahren auf die Autobahn nicht das Reißverschlussverfahren. Vielmehr hat der Verkehr auf den durchgehenden Fahrbahnen Vorrang mit der Folge, dass bei einem Unfall zwischen einem Verkehrsteilnehmer, der vom Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn einfährt, und einem Fahrzeug auf der rechten Fahrspur dieser Autobahn ein Anscheinsbeweis für ein alleiniges Verschulden des Einfädelnden spricht (OLG Köln, Urteil vom 24. 10. 2005 – 16 U 24/05, NZV 2006, 420; LG Essen 15 S 48/13, Beschluss vom 08.04.2013).

Nur wenn der Einfahrende nachweisen kann, dass der Vorfahrtsberechtigte die Möglichkeit gehabt hätte, unfallverhindernd abzubremsen, trifft diesen eine Mitschuld (vgl. auch Hentschel/König 41.Aufl. 2011, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. 2011, § 18 StVO, Rdnr. 17 m.w. Nachw. zu den Pflichten beim Einfädeln oder KG NZV 2008, 244).

Eine solche Erkennbarkeit ihres Fahrstreifenwechsels für den Beklagten zu 1) hat die Klägerin jedoch nicht zur Überzeugung des Gerichts nachweisen können.

Zwar hat die Klägerin im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung (§ 141 ZPO) geschildert, dass sie in eine Lücke vor den Lkw des Beklagten zu 1) eingefahren sei und dort zwei Minuten 2-3 Meter vor dem Lkw gestanden habe.

Dem stehen jedoch bereits die glaubhaften Angaben des Zeugen … entgegen, wonach die Klägerin in eine sich vor dem Lkw des Beklagten zu 1) bildende Lücke hineingehuscht sei und dann wieder zum Stehen gekommen sei. Der bereits bei Vornahme des Fahrstreifenwechsels durch die Klägerin anfahrende Beklagte zu 1) sei sodann aufgefahren, wobei sich die Klägerin aus seiner Sicht im toten Winkel für den Beklagten zu 1) befunden habe.

Diese Angaben des Zeugen pp.. hält das Gericht insbesondere deshalb für glaubhaft, weil es sich bei diesem um einen am Verkehrsunfallgeschehen völlig unbeteiligten Zeugen handelte. Er schilderte das Geschehen nachvollziehbar schlüssig und blieb auch auf Nachfragen konstant in seiner Schilderung. Dabei waren auch einseitige Belastungstendenzen nicht erkennbar. Insbesondere räumte der Zeuge auch inzwischen bestehende Erinnerungslücken ein.

Dass der Fahrvorgang der Klägerin für den Beklagten zu 1) erkennbar gewesen ist, vermag das Gericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedenfalls nicht festzustellen.

Eine Erkennbarkeit für den Beklagten zu 1) ergibt sich entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht aus dem bereits im Bußgeldverfahren eingeholten Sachverständigengutachten.

Danach konnte der Sachverständige zwar feststellen, dass die Klägerin mit ihrem Fahrzeug im Moment der Kollision stand. Dass dies aber längere Zeit der Fall gewesen wäre und damit eine Erkennbarkeit bestand vermochte der Sachverständige aber nicht festzustellen.

Im Übrigen muss danach der Pkw der Klägerin für den Beklagten zu 1) in der Annäherung nicht erkennbar gewesen sein und auch das Hineinfahren vor die Front des Lkw konnte dem Beklagten zu 1) verborgen bleiben. Denn das klägerische Fahrzeug war für den Beklagten zu 1) allein im Rampenspiegel verzerrt zu sehen.

Der Beklagte zu 1) war aber als Vorfahrtsberechtigter nicht dazu verpflichtet diesen Spiegel zu nutzen und den Verkehr auf der Einfädelungsspur ständig zu beobachten.“

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