Angeklagter mit offener Tuberkulose, oder: Zwangs-Bronchonskopie – geht das?

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Gegen den Angeklagten ist/war beim LG Hamburg ein Verfahren versuchten Totschlags u.a. anhängig. In dem Verfahren geht es um die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten betreffend seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung. Es liegen nämlich Anhaltspunkte für eine Erkrankung des Angeklagten an offener Tuberkulose vor. Der Angeklagte hat sich geweigert , eine Sputumprobe abzugeben oder eine Bronchoskopie durchführen zu lassen. Allein anhand der vorliegenden Röntgenbilder ist eine eindeutige medizinische Abklärung aber nicht möglich. Es geht jetzt um die Frage, ob die zwangsweise Durchführung einer Bronchoskopie angeordnet werden kann. Das OLG Hamburg hat das OLG Hamburg im schon etwas älteren OLG Hamburg, Beschl. v. 06.11.2015 – 1 Ws 148/15 – bejaht, und zwar auf der Grundlage von § 81a Abs. 1 StPO:

„cc) Die Aufklärung der Verhandlungsfähigkeit ist unerlässlich. Von der Verhandlungsfähigkeit hängt maßgeblich ab, welche Sicherungsmaßnahmen die Strafkammer bei der Durchführung der Hauptverhandlung zu beachten haben wird.

(1) Eine mit eigener Sauerstoffzufuhr ausgestattete gläserne Abtrennung ist in keinem Hamburger Gerichtssaal vorhanden. Die kurzfristige Errichtung dessen – namentlich auf bloßen Verdacht hin – ist weder möglich und noch verhältnismäßig.

(2) Nicht geboten ist ohne klare Befunderhebung auch eine weitgehende Verhandlung in Abwesenheit des mutmaßlich schwer erkrankten und infektiösen Angeklagten. Eine solche sieht das Gesetz in dieser Weite nicht ausdrücklich vor. In Betracht zu ziehen wäre durch die Strafkammer allenfalls eine kurzzeitige Verhandlung mit dem – vollständig in einen Schutzanzug gekleideten – Angeklagten, um diesem die Möglichkeit zur Einlassung zu geben (§ 243 Abs. 5 StPO); sodann wäre er nach § 231a StPO auszuschließen. ……

(3) In Betracht kommt auch nicht etwa eine Haftunterbrechung und Unterbringung in Absonderung – gar außerhalb Hamburgs – nach den Maßgaben des Beschlusses des Amtsgerichts Hamburg – Betreuungsgericht – vom 27. Oktober 2015. Allein das hiermit verbundene Zuwarten erweist sich als unbehelflich und unvereinbar mit einer funktionsfähigen Strafrechtspflege. Eine etwa hiermit verbundene Zwangsmedikation erweist sich in der Gesamtschau jedenfalls nicht als milderes Mittel als die hier angeordnete Untersuchung.

cc) Der Zwangsmaßnahme selbst ist auch geboten. In diese Abwägung hat der Senat folgende Erwägungen eingestellt:

(1) Die mit der Zwangsmaßnahme verbundene Eingriffstiefe ist begrenzt. Der Eingriff wird durch einen Arzt eines Universitätsklinikums durchgeführt werden. Es handelt sich um einen Routineeingriff. Das Risiko für den Angeklagten ist daher – freilich mit Rücksicht auf niemals vollständig auszuschließende Komplikationen – als gering anzusehen. Der Eingriff selbst wird nach Einleitung der Sedierung nach ärztlicher Auskunft etwa zehn Minuten dauern; währenddessen wird ein im Durchmesser etwa 0,5 bis 0,8cm dünner Plastikschlauch über Mund und/oder Nase eingeführt in die Luftröhre, um zunächst zu inspizieren und sodann Sekret abzusaugen. Insgesamt wird der Eingriff – mit Ein- und Ausleiten aus der Tiefschlafsedierung – etwa eine Stunde dauern. Hierbei wird der Angeklagte nicht narkotisiert, sondern lediglich sediert. Er ist noch am selben Tage wieder transportfähig und kann in das Zentralkrankenhaus der Untersuchungshaftanstalt zurückgeführt werden.

(2) Dauerhafte gesundheitliche Folgen durch den Eingriff stehen nicht zu besorgen (vgl. hierzu EGMR, Urteil v. 11. Juli 2006 – 54810/00 Jalloh/Deutschland, NJW 2006, 3117, 3120). Der Eingriff erfolgt nach einer Anamnese des derzeit haftfähigen Angeklagten. Die in der Untersuchungshaftanstalt vorhandenen Krankenunterlagen werden dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf vor dem Eingriff zur Verfügung gestellt.

(3) Ein Dolmetscher wird hinzuzuziehen sein, um sicherzustellen, dass eine durchgehende Verständigung zwischen Angeklagtem und Arzt möglich ist (vgl. hierzu EGMR, aaO., 3121).

(4) Auch in der Gesamtschau mit weiteren Zwangsmaßnahmen erweist sich die Eingriffstiefe nicht als erheblich. So ist zur Vorbereitung der Bronchoskopie – bei absehbar fehlender Mitwirkung des Angeklagten – auch eine Blutentnahme notwendig, um Gerinnungswerte, namentlich die Thrombozytenanzahl, festzustellen. Auch der Einsatz körperlichen Zwangs – etwa durch Fixierung des schweren und großen Angeklagten durch hinzuzuziehende Polizeikräfte oder mittels erforderlicher Fesselung – bei Gegenwehr des Angeklagten führt nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Zwangsmaßnahme. Nach der möglicherweise notwendig werdenden Fixierung und sodann eingeleiteter Sedierung wird der Angeklagte während des Eingriffs keinen Widerstand mehr leisten können. Diese Maßnahme ebenso wie der zur Vor- und Nachbereitung etwa erforderliche körperliche Zwang wären durch eine zumutbare Mitwirkung des Angeklagten vermeidbar. Zur Durchführung des Strafverfahrens ist dieses Vorgehen insgesamt unvermeidbar – ein anderenfalls drohender Stillstand der Strafrechtspflege bei der Aufklärung eines Gewaltverbrechens ist hier ersichtlich nicht hinnehmbar.“

Na ja.

Ein Gedanke zu „Angeklagter mit offener Tuberkulose, oder: Zwangs-Bronchonskopie – geht das?

  1. Holger Hembach

    Das OLG bezieht sich auf Kriterien, die der EGMR im Fall Jalloh gegen Deutschland für die Zulässigkeit medizinischer Eingriffe gegen den Willen des Betroffenen aufgestellt hat, vor allem die Schwere der Tat, die Frage, ob Dauerschäden zu befürchten sind, die Durchführung und Beaufsichtigung des Eingriffs durch Ärzte und die Möglichkeit der Kommunikation.

    In einem – aus meiner Sicht wesentlichen – Punkt weicht es aber von dem Urteil ab. Das OLG stellt darauf ab, auch der möglicherweise erforderlich werden körperliche Zwang führe nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme, zumal der Betroffene ihn ja dadurch abwenden könne, dass er kooperiere.

    Für den EGMR war es im Fall Jalloh gerade ein Argument für die Rechtswidrigkeit, dass der Betroffene körperlichem Zwang ausgesetzt wurde, um das Verabreichen des Brechmittels zu ermöglichen. Hierzu heißt es in Rn 79 des Urteils: ‘As to the manner in which the emetics were administered, the Court notes that, after refusing to take the emetics voluntarily, the applicant was pinned down by four police officers, which shows that force verging on brutality was used against him. A tube was then fed through his nose into his stomach to overcome his physical and mental resistance. This must have caused him pain and anxiety. He was subjected to a further bodily intrusion against his will through the injection of another emetic. Account must also be taken of the applicant’s mental suffering while he waited for the emetics to take effect’.

    Der Hinweis, der Betroffene könne die Zwangsanwendung ja verhindern, indem er kooperiere, greift m.E. nicht. Mit diesem Argument könnte man ja jede Zwangsmaßnahme rechtfertigen.

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