Der nicht ernsthafte Suizidversuch als eigenmächtiges Entfernen aus der Hauptverhandlung

In einem umfangreichen Beschluss hat der 1. Strafsenat des BGH zur Eigenmächtigkeit i.S. von § 231 Abs. 2 StPO Stellung genommen. Der Leitsatz des für BGHSt bestimmten BGH, Beschl. v. 25.07.2011 – 1 StR 631/10 lautet – soweit hier von Interesse:

Eigenmächtigkeit des Entfernens im Sinne von § 231 Abs. 2 StPO kann vorliegen, wenn der Angeklagte aufgrund einer mittelgradigen depressiven Episode einen Suizidversuch unternimmt, der zu seiner Verhandlungsunfähigkeit führt.

Dazu führt der 1. Strafsenat dann u.a. aus:

4. Eigenmächtigkeit kann danach grundsätzlich auch dann gegeben sein, wenn der Angeklagte – wie hier – während laufender Hauptverhandlung einen Suizidversuch unternimmt (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juli 1961 – 2 StR 575/60, BGHSt 16, 178; vom 19. Februar 2002 – 1 StR 546/01, NStZ 2002, 533).
Für den von der Rechtsprechung herausgearbeiteten und vom Gesetzgeber übernommenen Begriff der Eigenmächtigkeit sind bei einem Suizidversuch während laufender Hauptverhandlung folgende Kriterien maßgebend:
a) Der Angeklagte muss seine Verhandlungsunfähigkeit selbst herbeigeführt haben und dies muss ihm zuzurechnen sein. Dabei muss er vorsätzlich handeln und in Kenntnis des Umstandes, dass hierdurch die ordnungsmäßige Durchführung der Hauptverhandlung verhindert wird. Die Verhinderung der Hauptverhandlung muss allerdings nicht das Ziel des Angeklagten sein. Es genügt, wenn er dies als notwendige Folge seines Verhaltens erkennt und damit will; eine Boykottabsicht ist demnach nicht erforderlich.
b) Zu diesen Kriterien muss hinzukommen, dass der Angeklagte „schuldhaft“ handelt. Das in § 231a Abs. 1 Satz 1 StPO genannte Merkmal „schuldhaft“ gilt nach dem Vorstehenden in gleicher Weise für das Verständnis des ungeschriebenen Merkmals „Eigenmächtigkeit“ in § 231 StPO.
Den Begriff „schuldhaft“ verwendet die Strafprozessordnung auch in § 464c StPO (Säumnis des Angeschuldigten und Dolmetscherauslagen). Vergleichbare Merkmale finden sich etwa in § 230 StPO (Vorführung oder Haftbefehl, wenn der ausgebliebene Angeklagte „nicht genügend entschuldigt“ ist) und in § 51 Abs. 2 StPO (Ausbleiben des Zeugen); vgl. auch § 44 StPO. Auch wenn es bei den Vorschriften der §§ 51, 230 und § 464c StPO um Fälle der Säumnis geht, ist der Senat doch der Ansicht, dass das dortige Begriffsverständnis von „schuldhaft“ jedenfalls auf Fälle der vorliegenden Art nicht übertragbar ist.
c) Für Fälle der vorliegenden Art erscheint dem Senat eine Konturierung des Merkmals „schuldhaft“ anhand der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB besser geeignet (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 231a Rn. 8). Freilich spricht die amtliche Überschrift der §§ 20, 21 StGB von „Schuldunfähigkeit“ bzw. „Schuldfähigkeit“. Das sind materiell-rechtliche Begriffe, die mit dem in der Strafprozessordnung verwendeten verfahrensrechtlichen Merkmal „schuldhaft“ nicht deckungsgleich sind (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juli 1961 – 2 StR 575/60, BGHSt 16, 178, 183). Hinzu kommt, dass es dort um die Schuldfähigkeit „bei Begehung der Tat“ – also der Straftat – und die Fähigkeit geht, das Unrecht der Straftat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln …

Dies verdeutlicht, dass in Fällen der vorliegenden Art für die Auslegung der „Eigenmächtigkeit“ i.S.v. „schuldhaft“ nur begrenzt auf das Verständnis von Schuldfähigkeit i.S.v. §§ 20, 21 StGB zurückgegriffen werden kann, namentlich dann, wenn keine volle „Schuldunfähigkeit“ gegeben ist. Nach Ansicht des Senats gilt daher:
Nicht „schuldhaft“ bzw. nicht eigenmächtig kann ein Suizidversuch vor allem dann sein, wenn der ihn auslösende Zustand von dem ersten Eingangsmerkmal des § 20 StGB (krankhafte seelische Störung) bestimmt wurde. Beruht der Suizidversuch entscheidend auf einer „Schuldunfähigkeit“ im Sinne des ersten Eingangsmerkmals, dann wird eine Eigenmächtigkeit regelmäßig zu verneinen sein. Das zweite und dritte Eingangsmerkmal dürfte insoweit kaum praktisch relevant sein. Soweit das vierte Eingangsmerkmal (schwere andere seelische Abartigkeit) Ursache des Suizidversuchs sein sollte, kommt es auf den Schweregrad an. Dieser muss, um überhaupt relevant zu sein, dem Schweregrad der anderen Eingangsmerkmale entsprechen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45; vom 5. April 2006 – 2 StR 41/06, NStZ-RR 2006, 235). Dies gilt auch für eine Depression, sofern sie die-ses Eingangsmerkmal erfüllt (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2008 – 5 StR 387/07).
Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, handelt ein Angeklagter im Hinblick auf die Aufhebung seiner Verhandlungsfähigkeit selbst dann „schuldhaft“ bzw. eigenmächtig, wenn er einen ernsthaften Suizidversuch unternimmt. Der Senat ist der Ansicht, dass das Kriterium der „Ernsthaftigkeit“ (vgl. dazu Becker in LR-StPO, 26. Aufl., § 231 Rn. 18 mwN) bei der hier vorliegenden Fallgestaltung für die hier maßgebliche Fragestellung – eigenmächtig im Sinne von „schuldhaft“ – nicht relevant sein kann. Denn auch bei einem „ernsthaften“ Suizidversuch kann, und wird sogar zumeist, der – schuldfähige – Angeklagte die notwendigen Auswirkungen seines Verhaltens auf den weiteren Fortgang des Strafverfahrens erkennen. Freilich ist es richtig, dass bei der – hier nicht vorliegenden – Fallgestaltung eines bloß inszenierten und deshalb nicht ernsthaft gemeinten Suizidversuchs eines „schuldfähigen“ Angeklagten die Eigenmächtigkeit zu bejahen wäre. …“

Ein Gedanke zu „Der nicht ernsthafte Suizidversuch als eigenmächtiges Entfernen aus der Hauptverhandlung

  1. n.n.

    montagswitz:

    schwester: herr doktor, herr doktor, der simulant aus zimmer 206 ist gerade gestorben!

    arzt: jetzt übertreibt er aber wirklich …

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