Anklageverlesung: Was ist eine „Vielzahl von Taten“? 1.400 oder auch schon rund 100?

Im Moment stehen im Strafverfahren die Fragen des erforderlichen Umfangs der Anklageverlesung in sog. „Punktesachen“ hoch im Kurs. Dazu hat es ja gerade erst vor kurzem den Beschl. des großen Senats für Strafsachen v. 12.01.2011 1 – GSSt 1/10 (StRR 2011, 191) gegeben.

Der 1. Strafsenat des BGH, der die Vorlage an den Großen Senat gemacht hatte, hat nun in BGH, Beschl. v. 15.03.2011 – 1 StR 429/09 diese Entscheidung „weiter entwickelt“.  Der Große Senat hatte in seinem Beschluss nicht näher ausgeführt, ab wann von einer Vielzahl gleichförmiger Taten auszugehen ist, die die Anwendung der Grundsätze seiner Rechtsprechung zum reduzierten Umfang der Anklageverlesung rechtertigen.

Grundlage der Entscheidung des Großen Senats war eine Anklage mit rund1.400 Einzeltaten. Da wird man sicherlich „von einer Vielzahl“ sprechen können. Aber kann man das auch bei (nur) rund 100 Taten? Der 1. Strafsenat des BGH hat damit kein Problem und überträgt die Grundsätze des Groeßn Senats, ohne viel Federlesen zu machen, auf eine Fallgestaltung mit nur 93 Einzeltaten. Na ja, ob das passt, kann man wahrlich bezweifeln. Interessant wäre es, wenn man erfahren könnte, ob der 1. Strafsenat mit der Vorlage dieses „kleineren“ Verfahrens beim Großen Senat auch Erfolg gehabt hätte. Man muss eben immer auf das richtige Verfahren warten.

9 Gedanken zu „Anklageverlesung: Was ist eine „Vielzahl von Taten“? 1.400 oder auch schon rund 100?

  1. Pro Sekution

    Als Sitzungsvertreter der StA in allgemeinen Strafsachen kann ich eine möglichst großzügige Auslegung des Begriffs der ‚Vielzahl‘ nur begrüßen. Denn auch die Verlesung einer Anklage wegen Serienbetrugs mit schon mehr als 50 Taten kann bei einer detailreichen Anklageschrift sehr ausufern. Da hört dann letztlich – und das ist das schlagende Argument – eh keiner mehr hin. Schon gar nicht der Angeklagte – dem die Anklage vorher zugestellt worden ist (sic!). Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift ist daher damit nicht verletzt.

  2. Detlef Burhoff

    und was ist mit den Schöffen und der Öffentlichkeit? Das Ende wird sein, dass nur noch auf eine schriftlich vorliegende Anklage Bezug genommen wird. Wenn man den Strafprozess umbauen will – in Richtung Zivilverfahren – nur zu, aber dann soll man es auch offen sagen. Man kann natürlich auch nach Aktenlage entscheiden. Ihr Posting und die Entscheidung des 1. Strafsenats zeigen „sehr schön“, wie und was aus Entscheidungen werden kann :-(.

  3. klabauter

    Herr Burhoff:
    Was wäre denn Ihrer Meinung nach eine „Vielzahl“, ab der die Öffentlichkeit und die Schöffen nicht mehr gespannt auf die nächste Zeile der Tabelle warten, sondern schon einschlafen würden?

  4. Stefan

    Also wenn zu den 50 Taten in der Anklageschrift detailreich ausgeufert wird, dann ist das mE ein deutliches Indiz dafür, dass es sich eben nicht um eine bloße Punktesache handelt. Dann sollte wohl in jedem Fall vollständig verlesen werden.

  5. Alan Shore

    Es gibt aber auch Vorsitzende mit Humor. Ich habe kürzlich in einem Verfahren verteidigt, in dem die Anklageschrift hunderte von Einzelakten des Scheckbetruges umfaßte. Eine allgemein als etwas – sagen wir: sonderbar – angesehene Staatsanwältin vertrat die Anklage und fragte den Vorsitzenden, ob sie das alles wirklich verlesen müsse oder ob man das nicht im Selbstleseverfahren erledigen könne.

    Der Vorsitzende sah mich schmunzelnd an, ich bestand auf vollständiger Verlesung der Anklage. Der Vorsitzende an die Staatsanwaltschaft gewandt: „Da hören Sie’s. Mir sind praktisch die Hände gebunden.“ Während der gesamte Gerichtssaal nach 5 Minuten wegdämmerte, verbrachte die Staatsanwältin 2 Stunden mit der Verlesung von Schecknummern und Beträgen und war anschließend kaum noch in der Lage, dem weiteren Verlauf der Verhandlung zu folgen.

    Ich gebe zu: etwas gemein gegenüber der armen Frau. Aber Beweisanträge müssen mitunter auch sehr umfangreich ausfallen und werden auch nicht im Selbstleseverfahren abgearbeitet.

  6. meine5cent

    Na ja. Ich weiß nicht, was daran humorvoll ist, wenigstens zwei Berufsrichtern, zwei Schöffen , StA und einem Verteidiger etc. fast zwei Stunden Lebens-/Arbeitszeit sinnlos zu vernichten , obwohl es eine höchstrichterlich abgesegnete Möglichkeit der Abkürzung gibt. Positiv ist das allenfalls für den Verteidiger, der eine Zeitvergütung vereinbart hat.
    Das hört sich eher nach einem Vorsitzenden an, der zu den von Föhring im Strafrichterbrevier (ich weiß, dass der dort auch hmm, kontroverse Ansichten vertritt) als über selbstgestrickte Arbeitsüberlastung stöhnenden Qualitätsverhandlern zählt.

  7. Pro Sekution

    Ausufern im Sinne von…

    „34.
    Am 1.1.2011 um 1.11 Uhr bei der X-Tankstelle in der X-Straße, 00007 Kuhdorf, ein rosa Kaugummi Marke ‚HubbaBubba‘, für 50 Cent, einen blauen Damenstrumpf Marke ‚Stretch me badly‘ für 1,99 Euro, ein schwarzes Nagellackentfernerdekalibriergerät für 9,97 Euro…“

    …etc. etc. blablabla. Für jeden einzelnen Fall an die tausend einzelne Waren. Wer das noch verliest, ist selbst schuld.

    Stattdessen fasse ich alles, was am selben Tag passiert, zusammen, nenne den Zeitraum (zwischen 1.11 Uhr und 3.12 Uhr), nenne die Anzahl der Einzeltaten und dann den Gesamtschaden. Alles andere wäre sinnlos.

  8. Pro Sekution

    Den Schöffen und der Öffentlichkeit muss natürlich das WESENTLICHE verlesen werden. Wer, wann, wo, was. Aber zusammengefasst. Nicht jedes einzelne Detail. Siehe oben. Das interessiert weder die Schöffen noch das Publikum.

  9. Pingback: Anklageentscheidungen haben Konjunktur…… | Heymanns Strafrecht Online Blog

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