Blauäugig?

Na, ist das nicht – zumindest ein wenig – blauäugig, was das LG Tübingen in seinem Beschl. v. v. 04.08.2010 – 3 Qs 30/10 – schreibt/denkt. Der jugendliche Angeklagte kann kein Wort deutsch. Ihm wird die Anklageschrift unübersetzt zugestellt. Der Angeklagte beantragt dann die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Das LG sagt: Nein: Der Umstand, dass eine Anklageschrift einem Angeklagten, der der deutschen Sprache überhaupt nicht mächtig ist, ohne Übersetzung zugestellt wird, rechtfertige als solches nicht eine Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Sinne einer notwendigen Pflichtverteidigerbestellung. Aus der unterbliebenen Übersetzung resultiert in analoger Anwendung der Vorschriften über die Ladungsfristen zwar ein Aussetzungsanspruch; dieser mache aber die Rechtslage nicht schwierig, da über den Aussetzungsanspruch als solchen zwingend zu belehren ist und er noch in der Hauptverhandlung geltend gemacht werden kann. Dies stelle keine (bei im Übrigen sehr leichten Tatvorwürfen) derartige Verkomplizierung der Rechtslage dar, dass ein Pflichtverteidiger zu bestellen wäre.

Das LG meint also wohl, dass der Jugendrichter den Angeklagten in der Hauptverhandlung entsprechend belehren wird. Nun ja, hoffentlich ist ein Dolmetscher geladen. Und: Muss man nicht die Schwierigkeit der Sache für den Angeklagten in einer Gesamtschau auch darin sehen oder zumindest auch damit begründen, dass der Amtsrichter ja einen Verfahrensfehler – Nichtübersetzung der Anklage – schon gemacht hat und daher ggf. weitere zu befürchten sind. Mir ist bei der Entscheidung „unwohl“.

5 Gedanken zu „Blauäugig?

  1. Dr. F.

    Jugendlicher Malefikant mit Migrationshintergrund wird Anfang Januar erwischt, hat ein paar Tage später einen (Wahl-)Verteidiger, kommuniziert mit allen Beteiligten offenbar monatelang so leidlich. Amtsgericht stellt im Mai die unübersetzte Anklage zu, weil es keinen Hinweis darauf in den Akten findet, dass der Angesch. nicht hinreichend Deutsch kann. Verteidiger wittert Gelegenheit, seinen Honoraranspruch auf eine etwas zuverlässigere Basis zu stellen, lässt Angekl. Brief (ab)schreiben und beantragt Bestellung zum Pflichtverteidiger.

    Blauäugig? Ja, fragt sich nur, wer.

  2. Detlef Burhoff

    „wittert Gelegenheit, seinen Honoraranspruch auf eine etwas zuverlässigere Basis zu stellen“ – Ich habe den Eindruck, dass Sie jeden Rechtsanwalt/Verteidiger als wandelnde Rechenmaschine sehen, die immer nur überlegt, wie sie möglichst einfach an Zahlungen aus der Staatskasse kommt, bzw. versucht, durch möglichst „geschicktes“ Verhalten die gesetzlichen Gebühren zu erhöhen.

  3. Schneider

    1. Es ist im höchsten Maße unfair gegen einen Angeklagten zu verhandeln, der sich nicht wie andere Angeklagte hinreichend selbst über seine Rechte informieren kann. Der Anwalt hätte ihn raten müssen, Akteneinsicht mit Dolmetscher zu gewähren. Das nächste wäre eine Übersetzung der StPO zu fordern.

    2. Den Eindruck der geldgeilen Anwälte habe ich auch, vor allem wenn man diesen Blog so liest. Rechtschutzversicherung reicht ja offenbar auch nicht mehr, um anständig vertreten zu werden. Da ich keine Lust habe mich mit Anwalt und Rechtschutz-versicherung rumzustreiten, vertrete ich mich lieber selbst, auch wenn die Rechtschutz das nicht optimal findet und das auch nicht ist. Ein Kumpel, offenbar unschuldig, hat lieber 5 tsd Euro an die Staatskasse bezahlt, als sioh der HV zu stellen. Der Mitangeklagte hat zwar einen Freispruch erlangt- Da nicht alles ersetzt wurde, war das aber nur sehr weniger billiger für ihn, aber viel Stress.

  4. Schneider

    Ich meine Sie nicht damit persönlich, das kann ich nicht beurteilen. Aber die Kommentare anderer Rechtsanwälte in diesem bzw anderen Blogs und die Erfahrung mit Rechtsanwälten und Juristen allgemein haben bei mir diesen Eindruck erweckt.
    Kenne aber auch ein Gegenbeispiel. Ansonsten noch ein schönes neues Jahr!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert